Inspiriert zu diesem Text hat mich eine Ex-Facebook-Freundin. Mehr ist dazu nicht zu sagen. 

BOSHEIT FÜR ANFÄNGER ( Hook )


Ich hasse Tage, die damit beginnen, dass sich bei mir Unsicherheit regt. Ich bin böse, so viel ist gewiss. Zumindest steht das im Gutachten des Psychiaters. 'Psychopathie, Soziopathie‘. Ich habe es mit eigenen Augen gelesen. Wir haben lange über meine Probleme gesprochen, der Doktor und ich. Solange zumindest, bis er das Glas, in das ich in einem unbemerkten Moment etwas von diesen hochwirksamen Tropfen träufelte, die ich im Internet bestellt hatte, mit einem Zug entleerte. Die Aufregung, die folgte, nachdem ich der Sprechstundenhilfe gesagt hatte, dass es ihrem Chef nicht gut ging, nutzte ich, um einen kleinen Stapel bereits signierter Rezeptformulare vom Empfangstresen in meinen Besitz zu bringen.


Jetzt saß ich an meinem Frühstückstisch, und überlegte, wie ich meine pathologische Neigung, Menschen Schaden zuzufügen, beherrschen könnte. Mein Therapeut hatte mit diese kleinen, gelben Tabletten verordnet. "Kleine Sonnen", hatte er sie genannt. Sie würden Licht in das Dunkel meiner Seele bringen. Mich harmonisieren. Friede seiner Asche. 


Das letzte Mal nahm ich sie zum Frühstück, mit einem Glas Orangensaft, nach dem Toast mit der letzten Erdbeermarmelade, die meine Mutter noch fähig war, zuzubereiten. Ein schreckliches Unglück. Aber wer konnte ahnen, das sie beim Aufhängen frisch gewaschener Gardinen, leichtsinnig aus dem Fenster stürzen würde? Ich hatte noch versucht, Sie festzuhalten. Immerhin konnte ich ihr, noch im Fallen, einen lieben, letzten Abschiedsgruß zurufen. „80 % aller Unfälle passieren im Haushalt“, hatte der Polizist, den ich umgehend herbeigerufen hatte, nachdenklich gemurmelt. 


Aber da war ich ja auch noch nicht im Besitz der kleinen, gelben Sonnen. Ob ich gleich noch eine ... besser nicht. Sie führten einige Minuten nach der Einnahme zu erheblicher Mundtrockenheit, einem Engegefühl in der Brust mit leichter Atemnot und Schwindel ... aber das legte sich dann bald wieder. 


Ich beendete mein Frühstück. Der Schwindel hatte bereits nachgelassen. In dieser Phase fühlte ich mich besonders erholt und unternehmungslustig. Sorgfältig verschloss ich die Wohnungstür und stieg zunächst die Treppe zum Keller herab, um dort dem Nachbarsjungen einen kleinen Imbiss zu servieren, ein Brot mit Nuss-Nougat-Creme, die ich, um ihn zu beruhigen und lautem Schreien vorzubeugen, mit fein gemörserten Schlaftabletten meiner ja nun verstorbenen Mutter sorgfältig verrührt hatte. 


Wie leichtgläubig Kinder doch waren! Ein Lächeln, ein Geldschein und die Bitte um Hilfe beim Aufstellen eines Regals reichten, um dem Kleinen zu einer neuen Heimstatt zu verhelfen. 


Ich begab mich zu meinem Wagen, freundlich den Nachbarn grüßend, der an den Bäumen fotokopierte DIN-A-4-Plakate mit Heftzwecken befestigte. ‚Vermisst‘, stand da fettgedruckt über dem unscharfen Foto, das einen ca. 10jährigen, blonden Knaben in rotem T-Shirt zeigte. Der Mann sah verzweifelt aus. Er nahm ein Blatt von seinem Stapel und näherte sich mir. 

„Haben Sie ihn gesehen?“

Ich verneinte mit freundlich zugewandtem, mitleidsvollen Lächeln.

„Seit wann ist er verschwunden?“

„Er wollte vorgestern Nachmittag zu seiner Großmutter. Dort ist er nie angekommen!“

Tröstend legte ich meine Hand auf seine Schulter.

„Es tut mir so leid! Wenn ich etwas höre, sage ich ihnen sofort Bescheid! Und wenn ich was helfen kann ... bitte zögern Sie nicht!“


Er dankte mir mit zitternder Stimme. Dabei konnte er froh sein. Die Rechnungen für die mit Fußbällen demolierten Glasscheiben waren bestimmt nicht ganz billig. Und leiser war es auch wieder in unserer Straße. 

Direkt auf meiner Motorhaube sonnte sich die Katze der alten Dame, die in der Wohnung über der Unseren wohnte. Ein fettes, rotblondes Monster - die Katze, nicht die Nachbarin. Frau Rusch ist eher hager, in ihren Siebzigern und weißhaarig. Ich scheuchte das Biest herunter. Mit einem ungnädigen Tonfall maunzte sie und betrachtete mich vorwurfsvoll. Ich bediente das Gaspedal und wunderte mich darüber, dass ich das leichte Ruckeln der Räder auf der Fahrerseite so deutlich spürte. Ich meine, so eine Katze stellte doch für ein schweres Gefährt kaum Widerstand dar, wenn es über sie hinweg rollte, nicht wahr? 


Ich weiß nicht, was Sie von mir denken. Ich war sehr beliebt. Ich hatte für jeden ein freundliches Wort, bot jedem die Tageszeit. Im Kaufhaus oder Restaurant hielt ich meinem Nachfolger die Tür auf. Bei Fahrstühlen liess ich immer die Damen zuerst ein- und auch wieder aussteigen. Im Streit vermittelte ich gern. Ich fand stets den richtigen Ton. Und mit meinem Lächeln eroberte ich jedes Herz im Sturm.


Es gibt so viele Arten zu lächeln. Wussten Sie das? Boshaft, amüsiert, nachdenklich, nervös, tröstend, bescheiden ... An einer roten Ampel klappte ich die Sonnenblende herunter und betrachtete mich in dem kleinen, beleuchteten, aufklappbaren Spiegel. Ich prüfte den Grad der Weiße meiner Zähne. Zufrieden mit dem Ergebnis, lächelte ich mich an. Spitzbübisch. Traurig. Liebevoll. 


Neben mir hupte es. Christine war in mein Leben getreten. Aber das war mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar. 

 

( Fortsetzung folgt ) 



BOSHEIT FÜR ANFÄNGER ( Plot Turn 1 )

Stephen King hat einen Horror-Roman "Christine" genannt. 
Das hätte mich warnen müssen. 
Hat es aber nicht.

Warum auch? 

Also, wie gesagt, es hupte. Kennen Sie dies energische, bestimmende, ungeduldige Hupen, das hinter einem ertönt, wenn man bei grünem Licht nicht unmittelbar anfährt, sondern wohlmöglich den rückwärtigen Fahrer um einige Sekunden Lebenszeit aufhält und damit seinen Zeitplan für den Ablauf des Tages sabotiert? Leider war es mir bisher nur einmal gelungen, einen derartigen Verkehrsteilnehmer ausfindig zu machen. Ich hatte es mir schwerer vorgestellt, Radmuttern zu lösen, und war mir wegen des Ergebnisses gar nicht sicher. Vermutlich kam mir zu Hilfe, dass es Winter war, und glatt auf der Brücke, von der er genau 63,4 Meter in ein Tal stürzte. 

In diesem Fall jedoch hupte es neben mir. Großer Gott! Ein Opel Corsa! Kein neues Modell, nein - so eine alte Asphaltblase mit stumpfem, rotem Lack und reichlich Rost, vermutlich aus den 70ern stammend. Genau wie die braunhaarige Frau, die sich nun, da sie meine Aufmerksamkeit hatte, zur Fahrerseite herüber beugte im Bestreben, das Fenster herunterzukurbeln. 
„Ihr linkes Bremslicht funktioniert nicht!“, rief sie mir zu, wild gestikulierend und auf das Heck meines Wagens deutend. 

Ich bedeutete ihr mit einer huldvollen Geste, dass ich ihren freundlichen Hinweis verstanden hatte, und setzte meinen Weg fort. Ich hatte vor, im hiesigen Garten-Center Rattengift und Pflanzenschutzmittel zu erstehen. Ich glaube an Vorratshaltung. Man kann ja nie wissen, ob man plötzlich Bedarf für das eine oder andere hat. In einer Beilage der Tageszeitung, einem Werbeprospekt, wurden beide Produkte als besonders günstig angepriesen. 

Kaum war ich ausgestiegen, liess eine laute Stimme hinter mir mich zusammenfahren. „Pflanzenliebhaber, oder was?“ 
Ich wandte mich um. Die Frau aus dem altersschwachen Corsa. 
Ich korrigierte den Sitz meines Jacketts, fuhr mit dem Fingern ordnend durch meine Haare, und setzte ein höfliches Lächeln auf. Ich zeige gern meine strahlend weißen Zähne. Immerhin haben sie viel Geld gekostet. 
„Könnte man so sagen!“
„Haben sie Zeit? In diesem Markt gibt es ein sehr nettes Café! Die selbst gebackenen Kuchen sind ein Gedicht! Die MÜSSEN sie probieren! - Nun machen sie doch nicht so ein Gesicht! Kommen sie schon! Oder stört sie was man mir?“

Wie hatte sie das gemeint, mit meinem Gesicht? Ich benutzte jedem Morgen als Tagespflege eine Feuchtigkeitscreme, des Abends eine nährende Nachtcreme. Mein Haar wurde alle 14 Tage geschnitten, die Zähne halbjährlich gebleicht. Zudem brachte ich mich zweimal in der Woche in einem Sportstudio in Form. Nein, wirklich. Ich war mir meiner Anziehungskraft, besonders auf das andere Geschlecht, bewusst. Ich hatte es nicht nötig, Frauen anzusprechen - die Frauen sprachen, wie ja auch in diesem Falle - mich an. Hin und wieder interessierte sich auch ein Mann für mich. Der letzte bat mich darum, ihm einen Gürtel um den Hals zu legen, und diesen langsam zuzuziehen. Ich kam seiner Bitte sehr gern nach. Bevor er mit dem Atmen aufhörte, begann er, unruhig zu zappeln. Warum hatte er mich auch gebeten, ihn an Händen und Füßen zu fesseln? Er starrte mich aus weit aufgerissenen Augen an. Dann entspannte sich sein Körper. 

„Was ist mit meinem Gesicht?“

Sie kicherte fröhlich. „Ach, nur so eine Redensart! Komm schon! Eine kleine Pause wird uns guttun! Außerdem schuldest du mir noch was. Wegen des Rücklichts, du weißt schon!“
So kam es, dass ich mich, umgeben von tropischen Schlingpflanzen und seltsamen Urwaldlauten, vermutlich von einem Tonband, mit der mir völlig unbekannten Frau kaffeetrinkender Weise vorfand.

„Nett hier, nicht?“

Ja, es war wirklich ganz nett. Christine, die darauf bestand, mit ihrem Vornamen und dem vertrauten ‚Du‘ angesprochen zu werden, war munter wie eine Haubenlerche. Binnen kurzem hatte ich ihre Lebensgeschichte erfahren. Eltern geschieden, Heim, Missbrauch, Berufsausbildung. Viel mehr Informationen, als ich Neigung hatte, mir anzuhören. Immerhin musste ich kaum etwas sagen, weil sie ununterbrochen redete. Durch gelegentliche, willkürlich eingestreute ‚Aha's‘, ‚Soso's‘ oder ‚Nein wirklich's‘ versuchte ich anzudeuten, dass ich mit aufmerksamem Interesse  bei der Sache war. 

„Na sowas! Ich rede hier die ganze Zeit nur von mir! Erzähle mir: Wie geht es dir? Ich will alles über dich wissen, schöner fremder Mann! Hörst du? ALLES!“

Hierzu verspürte ich kaum Lust, obwohl ich sonst schon Freude daran hatte, mich ins rechte Licht zu setzen und sogar noch Niederlagen als Siege zu verkaufen. Auch war es spät geworden, das Sonderangebot galt nur bis heute. Ich mahnte folglich zum Aufbruch, zahlte und begab mich zur Abteilung mit den Giften, in der mir der freundliche Mitarbeiter aus einer verschlossenen Vitrine das Gewünschte herausklaubte. Christine hatte sich verabschiedet. Voreilig, wie sich an der Kasse herausstellte, die wir zeitgleich ansteuerten.

„Dreimal an einem Tag“, rief sie begeistert aus. „Wenn das kein Glück bringt ... um Himmels Willen! Was hast du da gekauft? Fünfzehn Packungen Rattenköder? Einen Fünf-Liter-Kanister Pflanzenschutzmittel? Damit kannst du ja eine ganze Kompanie ermorden, hahaha!“ 

Sie selbst fuhr in ihrem Einkaufswagen einen Rosenstock spazieren. „Du musst mir unbedingt helfen, dies Prachtstück hier in meine Karre zu verfrachten, ja? Sei so nett!“ 

Beim Einladen verletzte ich mich an der Hand. „Aua!“
„Keine Rose ohne Dornen“, lachte Christine. Auch Ihr Ärmel war an den Stacheln hängengeblieben und gab daher den Blick auf eine Reihe von Narben an ihrem Unterarm frei. „Was hast du da gemacht?“, fragte ich neugierig. „Ach, das ist nichts. Ein Unfall!“, winkte sie ab.

Wäre ich ein schärferer Beobachter gewesen, hätte ich bemerkt, dass von den fünfzehn Päckchen mit dem Rattengift eines fehlte, als ich meine Ausbeute in dem grünschwarzen, aufklappbaren Plastikkasten im Kofferraum verstaute.

( wird fortgesetzt )


BOSHEIT FÜR ANFÄNGER ( Plot turn 1 Fortsetzung ) 

„Im Film oder in einem Roman käme jetzt die Frage: ‚Zu mir oder zu dir?‘“, lachte Christine fröhlich. Ich nickte. „In welchem Stockwerk wohnst du?“
„In der 4. Etage. Keine Angst. Mit Fahrstuhl. Der Weg vom Parkplatz zur Haustür ist allerdings elend weit!“
„Also dann zu dir. Ich helfe dir beim Tragen.“
Christine strahlte mich dankbar an. „Es gibt also doch noch Kavaliere! Lieb von Dir, wirklich!“ 
Ich strahlte zurück, immer darauf bedacht, dass der Blick auf meine Zähne unverstellt durch meine Lippen blieb. Bescheiden winkte ich ab.
„Na höre mal - das ist doch wohl selbstverständlich! Fährst Du vor mir her?"

Das war es, was ich so vielen meiner Geschlechtsgenossen voraus hatte. Charme, Kompetenz, Tatkraft. Und im Bedarfsfall konnte ich auch den Schüchternen, Ungelenken spielen. Frauen lieben es, Mutter zu sein. Die Gelegenheit dazu gab ich ihnen gern, wenn's denn gefragt war. Ich hatte es einfach drauf. 

Ich muss allerdings zugeben, dass ich die Rolle des verlorenen Jungen nur ungern gab. Sie passte nicht wirklich zu mir. Und ich hatte immer Sorge, dass man sie mir nicht glauben würde. Ich habe früh damit begonnen, mich besonders und einzigartig zu fühlen. Und ich konnte es nicht leiden, wenn andere mich nicht respektvoll behandelten. Mit Ehrerbietung ... ach was, das war gar nicht erforderlich. Aber Respekt, und vielleicht etwas Bewunderung. Ich hatte es ja zu etwas gebracht. Mitgliedschaften im Schützenverein und der Seglervereinigung - letztere nützte mir allerdings nicht viel, weil ich nicht schwimmen konnte, und auf dem Wasser unweigerlich seekrank wurde - ein ansehnliches Bankkonto, und die Eigentumswohnung in der Wissmannstrasse, die meinen Eltern gehört hatte. Ich hatte sie geerbt, wie alles, über das ich verfügte, nach dem zweiten tragischen Unglück. Irgendwie war wohl aus Heizung oder Herd Kohlenmonoxid ausgetreten, dieses tückische Gas, das man mit keinem der zur Verfügung stehenden Sinne wahrnehmen kann. Es hatte Papa im Schlaf überrascht. Wie der Zufall es wollte, kam ich von einer Nachtwanderung erst im Morgengrauen nach Hause und fand ihn leblos vor. 

Nein, Stil und Kultiviertheit konnte man mir kaum absprechen. Ich trug Designer-Kleidung, verfügte über ein Abonnement für das Stadttheater. Ich aß nicht, ich speiste. Ich ging nicht, ich schritt. 

Ich weiß auch nicht, warum ich zu Schulzeiten so unbeliebt war. Die Lehrer ignorierten mich weitestgehend, so dass ich, ohne größere Leistungen erbringen zu müssen, immer so durchrutschte. Ich wurde von meinen Mitschülern nie zu irgendwas eingeladen, nie in irgendwas eingeweiht. Im Sportunterricht war ich regelmäßig der Letzte, der in die Volley- oder Basketball-Mannschaft gewählt wurde. 

Marten Berger! Was hätte ich darum gegeben, so zu sein, wie er! Er war beliebt, der Mädchenschwarm der Schule. Sein Vater hatte eine Jagdhütte in einem etwas entfernt liegenden Waldgebiet, in die er immer Klassenkameraden - allerdings niemals mich - einlud, zum Übernachten, für's Wochenende. Er hatte gute Noten, war sportlich und konnte sich gut ausdrücken. Ich beneidete ihn glühend. 

Keiner hatte es verstanden, dass Marten eines Tages verschwand. Alle suchten nach ihm, aber erst eine Hundertschaft der Polizei, die sorgfältig die Gegend durchkämmte, fand ihn, an einem Seil vom Ast eines Baumes hängend. Ganz in der Nähe der Jagdhütte seines Vaters. Keiner konnte sich den Tod des Schülers wirklich erklären. Die Obduktion ergab, dass er offenbar Beruhigungsmittel zu sich genommen hatte, bevor er freiwillig aus dem Leben schied. Ach ja! Manche Geheimnisse bleiben wohl für immer ungelöst! 

Christine fuhr plötzlich langsamer, bog rechts in eine Seitenstraße ein, von der eine Einfahrt aus Waschbeton zu einem kleinen Parkplatz führte. Ein Schild wies darauf hin, dass dieser nur für Mieter vorgesehen wäre und unberechtigte Benutzung zum Abschleppen führen würde. 

„Ich suche nur schnell einen Parkplatz auf der Straße“, rief ich ihr zu. „Ich bin gleich bei dir!“

Es hatte einen Moment gedauert. Sie stand schmollend an ihrem Wagen. Offenbar hatte sie den Kübel bereits allein aus dem Gefährt gewuchtet. „Dass Du auch mal kommst!“, hallte es mir vorwurfsvoll entgegen. Und, ärgerlich: „Wenn ich gewusst hätte, dass ich sowieso alles allein machen muss ...“
Ich spürte dies Kribbeln in meinem Nacken, das sich so eigenartig kalt anfühlt, und sich bis zu meiner Stirn erstreckt. Was hatte der Psychiater gesagt? Langsam bis 10 zählen? 

Drei, vier, fünf ... „Ich bin untröstlich, Christine, aber in der Nähe war kein Parkplatz frei!“ ... neun, zehn, elf ... Sie stierte mich aus aufgerissenen Augen an. „Bitte verzeih mir! Das war so ungerecht von mir! Dankbar muss ich dir sein! Bitte, sei so lieb! Hilf mir! Ich schaffe es doch nicht ohne dich! Sei nicht wütend, ja?" Und, nach kurzem Zögern: „Du lässt mich hier nicht stehen, oder? Auch wenn ich es verdient hätte ... “  In ihren Augen glänzten Tränen. 

So weit war der Weg vom parkenden Auto zur Eingangstür gar nicht. Ich schob den Kübel in den Fahrstuhl. „So. Geschafft!" 

Christine lachte und hüpfte herum wie ein kleines Mädchen, die auf dem Spielplatz im Sandkasten ihre beste Freundin entdeckt hat. "Sind ja wirklich irre, deine Muskeln! Sag mal: Trainierst du?" 
Bescheiden lächelnd gab ich zu, ein Studio zu frequentieren. Voll Bewunderung nahm sie meinen Bizeps zwischen Daumen und Zeigefinger und prüfte ihn durch Drücken, wie man den Reifegrad einer Avocado untersucht. „Komm, ich mach uns schnell einen Kaffee, ja? Du trinkst doch Kaffee? Mit Milch und Zucker?“

Aus der Küche hörte ich plötzlich ein lautes Klirren, einen Aufschrei, und kurz danach ein bitterliches Weinen, abwechselnd mit wütendem Schreien und wiederholtem Scheppern. 
Christine stand vor einem zerbrochenen Teller und holte gerade aus, um eine Tasse gegen die Wand zu werfen..„Verdammte Scheisse“, schrie sie im höchsten Diskant, „warum muss immer mir so was passieren?“ Die Tasse flog aus ihrer Hand, erreichte ihr Ziel. Die Einzelteile gesellten sich zu denen, die dort bereits auf dem Boden lagen. 

„Christine! CHRISTINE!!!“ 

Ich hatte sie an den Schultern gepackt und schüttelte sie. Sie sank schluchzend in sich zusammen. „Ich kann nicht mehr! Ich kann einfach nicht mehr!“, stiess sie hervor. Meine Hände glitten von ihren Schultern zu ihrem Hals. Er fühlte sich schlank und fragil an. Meine Zeigefinger berührten sich in ihrem Nacken und fühlten den Ansatz ihres Haares. Die Daumen stießen über ihrem Kehlkopf zusammen..


BOSHEIT FÜR ANFÄNGER ( Pinch 1 )

Mir war bewusst, dass es ausreichte, den Druck der Finger zu erhöhen, um den Schildknorpel ihres Kehlkopfes einzudrücken. Aber so gut, dass mir eine derartige Handlung wirklich Freude bereitet hätte, kannte ich sie nicht, und ich war zu neugierig, den Grund ihrer Verzweiflung herauszufinden. Also beließ ich es beim Schütteln und der Frage, warum sie nicht mehr konnte, und vor allem, was. 


Sie sank auf einen Stuhl, und dort in sich zusammen. „Jürgen“, murmelte sie tonlos. „Jürgen?“, wollte ich wissen. „Welcher Jürgen? Und was hat er angestellt?“

„Mein Ex“, entgegnete sie widerwillig, als führte die bloße Erwähnung dieses Umstands zum Erscheinen des Bösen, einer mittelalterlichen Beschwörungsformel gleich. Ich verstand die Aufregung nicht. Wenn es ihr Ex war, gab es doch keinen Grund mehr, sich zu echauffieren! 


„Er ist Lehrer, weißt Du? Und das Schlimme ist: Er hört damit nicht auf, wenn er die Schule verlässt! Er belehrt und korrigiert. Er hält sich für den Born des Wissens, den Ursprung aller Weisheit. Einmal habe ich gewagt, ein englisches Wort zu benutzen. Du kannst Dir nicht vorstellen, was für Vorträge daraufhin folgten ... Schau dir das an. Bitte. Nun schau dir das hier bloß mal an!“ Sie hatte den Küchenschrank geöffnet. „Siehst du?“


Ich sah im Schrank Teller, Untertassen und Tassen, Gläser und Schüsseln, exakt und militärisch ausgerichtet. Sehr ordentlich sah das aus. Und das sagte ich auch. „Du bist also auch so einer“, ächzte Christine und sah mich fassungslos an. „Du näherst dich also auch jungen Frauen und willst ihnen deine Sicht der Dinge aufzwingen!“


Das läge mir völlig fern, betonte ich. Und ich erfuhr, dass er seine designierte Ex-Freundin zwingen wollte, ihre Schränke derart um- und einzuräumen, wie er es für richtig erkannt hatte. Nach seinem System. Als sie sich weigerte, musste er sich wohl, in einer letzten eigenmächtigen Aktion vor der Trennung, selbst an die Arbeit gemacht haben. Die Folge war, dass sie, entsprechend ihrer Gewohnheit in den Schrank greifend, einige Tassen und Gläser hatte fallen lassen, weil sie dort nicht zu erwarten gewesen waren. „Ich könnte ihn umbringen, wirklich!“, stieß sie zwischen den Zähnen hervor. 

„Warum nicht?“, entfuhr es mir. „Hast Du ein Foto von ihm?“


Wortlos kramte Christine aus einer Schublade ein Stück Papier hervor, dessen Ecken sich nach oben wellten. Wie bei einer alten ranzigen Salami-Scheibe, mit der man vor einiger Zeit ein Brot belegt hatte. Und danach sah Jürgen Schauder auch aus. Ein grauer Haarkranz umgab lustlos den ansonsten kahlen, fußballrunden Schädel. Ein überheblicher Blick hinter einer stillosen Brille. Ein fusseliger, rötlicher Hufeisen-Bart im Fu Manchu - Stil folgte der Kontur des schmallippigen Mundes, dessen nach unten gezogene Mundwinkel verrieten, dass sein Besitzer Humor als verzichtbare menschliche Schwäche fehldeutete. 


„Und da wunderst du dich?“, erkundigte ich mich bei meiner neuen Freundin. „Ein unattraktiver, eitler, freudloser Mann mit dem Charisma eines Toastbrots? Einer von diesen Menschen, denen qua Amt ein wenig Macht verliehen wurde. Und die sich dadurch in ihrer Haltung unterstützt sehen, dies bisschen Macht auszunutzen, und andere belehren zu dürfen. - Na gut. Bringen wir ihn um.“


Zu meiner Überraschung ergriff Christine einen kleinen Block, auf dem der Name einer Hotelkette prangte, sowie einen Kugelschreiber. 

„So, lass mal sehen ... Gift ... was meinst Du? Etwas zum Einatmen, oder zum Trinken?“

„Äh, also, Christine ...“, stotterte ich. „Was ist? Machst du einen Rückzieher? Typisch Kerl! Erst das Maul aufreißen, aber wenn's dann zur Sache geht, den Schwanz einziehen!“

Warum hatte ich überhaupt das Gefühl, mich rechtfertigen zu müssen? 

„Nein, ich bin nur überrascht! An was hattest du denn da gedacht?"

Ein mitleidiger Blick traf mich. „Sag mal, siehst du keine Nachrichten? Sarin? Schon mal gehört? Ansonsten: Kalium. Führt zum Herzstillstand. Es gäbe auch ...“ 

„ ...Polonium, ich weiß. Aber da kommt man nicht so ohne weiteres ran!“ 

„Viel zu viel Aufwand. Das ist der Langweiler nicht wert. Was hältst du von elektrischem Strom?“ 

Ich schüttelte den Kopf. „Das erfordert direkten Kontakt. Fön in der Badewanne, du weißt. Oder komplizierte Konstruktionen. Und dann geht's nachher wohlmöglich schief. Was hältst Du denn von einem sauberen, altmodischen Schnitt mit einem Skalpell durch seine Carotis-Arterien?“


„Ca-ro-tis-ar-te-ri-en“, wiederholte sie langsam, das Wort auf dem kleinen Block notierend. Erstaunlich, wirklich. Eine schöne, klare Handschrift. Ein Grafologe hätte ihr einen untadeligen Charakter bescheinigt, so viel stand fest. Der Rhythmus und die Einheitlichkeit, die Größe der Lettern, ihre Ausdehnung, Schriftlage nach rechts und die Druckstärke ... die ausgeschriebenen, geschlossenen Zirkel ... alles deutete auf Harmonie, inneres Gleichgewicht und untadelige psychische Stärke hin. „Was meinst du: Eine Seite, oder beide? Bei beiden Seiten blutet er schneller aus, oder?“

Sie klopfte nachdenklich mit dem Schreibgerät gegen ihre Vorderzähne. Ihr Lächeln hatte etwas Dämonisches. Ich fragte mich, ob die Massenmörder der Weltgeschichte auch alle über derart irreführende Qualitäten verfügten. Und schöne Zähne. 


Es war wie ein Spiel. Wir saßen am Tisch in ihrer Küche, und produzierten mörderische Ideen am Fließband. Wie viele Sätze begannen mit den Worten, „Meinst du nicht, dass es lustig wäre ...“ - und dann folgte eine Idee, den Pädagogen originell zu entsorgen. Wir wussten noch nicht, dass die Lösung des Problems nahe war. Sehr nahe. Um genau zu sein: Sie schlummerte in meinem Keller ... 



BOSHEIT FÜR ANFÄNGER ( Pinch 1 Fortsetzung )

Schließlich lagen mehrere säuberlich beschriebene Seiten des Notizblocks auf dem Tisch. Ich gebe es ungern zu - und nur Ihnen gegenüber, im Vertrauen darauf, dass Sie es nicht weitererzählen - aber Christine hatte die besseren Ideen. Das mochte an der persönlichen Beziehung zu unserem Opfer liegen. Mir bedeutete er nichts. Er stellte für mich eher eine perfekt zu lösende Rechenaufgabe dar. Und auch nur deshalb, weil ich Christines Emotionen ihm gegenüber nachvollziehen konnte. 

Ich hatte nie Lust, jemanden zu ermorden, dem gegenüber ich nichts empfand. Denken Sie bitte an die Katze der Nachbarin. Sie wissen schon. Frau Rusch, eine Treppe höher. In den Siebzigern. Weißhaarig. Eben jene Frau Rusch, die mir beständig Zettel hinter die Scheibenwischer klemmte, dass ich sie mit meiner Art, meinen Wagen zu parken, an der Ausfahrt behindere, weil ich die auf dem Asphalt gezogenen weißen Linien ( wie auch manche anderen Linien ) gern ignorierte. Der Gipfel war ein Zettel, den ich, im Gegensatz zu den anderen, gut verwahrt habe. Auf ihm stand: „Werter Herr Nachbar, gemäß § 39 Abs. 5 StVO gilt: „Auch Markierungen und Radverkehrsführungsmarkierungen sind Verkehrszeichen.“ Ferner liegt unsere Straße nach meiner Kenntnis innerhalb eines mit Zeichen 290.1 ‚Parkverbotszone‘ gekennzeichneten Bereichs mit dem Zusatz ‚Parken in gekennzeichneten Flächen erlaubt‘. Ich bitte Sie, sich künftig daran zu halten.“

Sehen Sie? Es gibt Menschen, die sollten einfach keine Haustiere halten ...

Christine war besser. Sie wollte Jürgen, den Lehrmeister, leiden sehen. Leiden, wie er sie hatte leiden lassen. Vor seinem Tod wollte sie ihm das Liebste nehmen, ihn quälen, ihn demütigen. Aber: Was war ihm das Liebste? Er war offenbar ein Mensch ohne Interessen, Freuden, Freunde. Nicht kreativ - außer vielleicht bei den Texten, die er unter die Klassenarbeitshefte seiner Schüler schrieb. Die trieften vor Sarkasmus und Boshaftigkeit, um den Kindern zu verdeutlichen, wie vergeblich Ihr Streben nach Bildung doch war. Sie würden es ohnehin zu nichts bringen. Eine Schande für ihre Eltern. Waren zu nichts zu gebrauchen. Eine Zumutung, deren Geschreibsel überhaupt korrigieren zu müssen. 

Folgerichtig erteilte sie mir den Auftrag, Herrn Schauer zu beschatten. Es musste sich doch eine Schwachstelle finden lassen. Den Punkt, an dem man ihn am empfindlichsten verletzen konnte. Gute Idee, oder? Ich musterte die Frau, die sich jetzt erhob, um die Glaskanne mit frischem Kaffee zu holen und zwei Becher, die ihre Wutattacke überlebt hatten, auf den Tisch zu stellen. Komisch. Als sähe ich sie zum ersten Mal. Normalerweise wähle ich die Menschen, mit denen ich Umgang habe, sorgfältig aus. Sie müssen ... wie soll ich sagen? ... etwas hermachen. Verstehen Sie? Man möchte sich doch nicht blamieren! Irgendwie sollten sie schon beeindruckend sein. Und gerade bei Frauen achtete ich immer sehr auf ein apartes Äußeres. 

Nun aber fiel mein Blick auf Christine, mit fettigen, ungepflegten Haaren, einer pickligen Gesichtshaut, Übergewicht und, am schlimmsten, mit unregelmäßigen, gelblichen Zähnen, die man in ihrer Kindheit unbedingt mit einer Spange in kosmetische Ordnung hätte zwingen müssen. 

Auf unheimliche Art und Weise passte sie optisch vortrefflich zu Jürgen, der zwangsneurotischen Lehrkraft, die umherlief, um Menschen narzisstische Kränkungen zuzufügen. 
„Was ist? Du trinkst ja gar nicht! Der Kaffee wird doch nur kalt!“
Sie lächelte mich an. „Milch und Zucker?“
„Nein, danke. Lieber schwarz! Aber - du hast auch noch nicht getrunken, oder?“
Christine errötete. „Ich lasse ihn immer etwas abkühlen ...“ erklärte sie vage. „Ach, da fällt mir ein: Hab ich Dir schon Jürgens Adresse gegeben? Du musst ja schließlich wissen, wo ... nun trink doch endlich!“

Ich betrachtete mein Spiegelbild wohlgefällig in dem flachen Teelöffel, mit dem ich langsam den Kaffee umgerührt hatte. Die Tasse umfassend, nippte ich ein winziges Bisschen von der schwarzbraunen Flüssigkeit. „Hmmmm, gut! Was für Kaffee benutzt du?“ Der genießerische Ton war eine dreiste Lüge. Das Zeug schmeckte widerlich bitter, woran auch die Versicherung meiner Gastgeberin, es handelte sich um ein koffeinfreies Produkt, nichts ändern konnte. 

„Mein Gott, wie UNGESCHICKT von mir!“, rief ich aus. Irgendetwas stimmte nicht mit diesem Kaffee. Deswegen hatte ich mich entschlossen, die Tasse mit einer raschen Bewegung umzuwerfen und den Inhalt zu verschütten. 
„Ich kann mich nur entschuldigen, Christine, wirklich! Es ist mir sehr unangenehm!“ Christine lächelte mühsam. Vielleicht etwas schmallippig, stieß sie ein „Ach, nicht der Rede wert“, hervor. Sie riss diverse Blätter von einer Küchenrolle und dämmte den Schaden geschickt ein. Erstaunt beobachtete ich, dass sie nicht nur meine Tasse, sondern auch ihre, und sogar die Glaskanne der Kaffeemaschine ins Waschbecken stellte. „Ich möchte auch nichts mehr trinken“, erklärte sie. Dabei hatte ich dies gar nicht kommentiert.

„Kommst du morgen wieder? Erste Ergebnisse - du weißt!“ Ich nickte. „Hängt davon ab, wie ich voran komme.“
„Ach bitte, komm doch! Ich koch' uns auch was Schönes! Was ist denn dein Leibgericht?“

Mir stockte der Atem. In mir breitete sich ein Gefühl von Unbehagen aus. Sie schien großen Wert darauf zu legen, dass ich etwas aß oder trank. Was hatte das zu bedeuten? Der Kaffee hatte einen  eigenartigen Geschmack gehabt ... aber: Warum hätte sie mich vergiften wollen? Immerhin war ich doch derjenige, von dem sie Hilfe zu erwarten hatte! 

„Eier in Senfsoße.“
„Wie bitte?“
„Mein Leibgericht. Du fragtest nach meinem Leibgericht. Eier in Senfsoße. Das ist es.“

Sie lachte affektiert. „Du dürftest ruhig einen vornehmeren Geschmack haben! Aber es ist in Ordnung. Meine Senfsoße besteht aus dreierlei Sorten Senf. Ich glaube, dass du so was noch nie gegessen hast. Und dass du sie nie vergessen wirst!“

Das Kichern, das jetzt folgte, erinnerte mich an das der Hexe aus Hänsel und Gretel. Als ich endlich auf derStraße stand, atmete ich tief durch. Christine stand oben am Fenster und winkte mir zu. Grinsend zeigte sie ihr lückenhaftes Gebiss. So schnell ich es vermochte, kletterte ich in mein Auto und bog mit quietschenden Reifen um die Ecke ...


BOSHEIT FÜR ANFÄNGER ( Midpoint ) 

Zu Hause angekommen, genehmigte ich mir einen Whisky. Chivas, natürlich. Wenn schon, denn schon. Ich musste gegen das emotionale Chaos und vor allem, gegen die Unsicherheit durch den Kontrollverlust, etwas tun. Dringend. Ich hatte das Gefühl, gerade noch mal davongekommen zu sein. Nachdenklich mörserte ich einige Schlaftabletten und verrührte sie mit der schokoladig-zähen Nuss-Nougat-Creme. 

Was plante Christine? Gut, sie versuchte, Jürgen zu beseitigen. Mit meiner Hilfe. Was aber war ihr Motiv, mir eine ... sagen wir mal, schwer bekömmliche Substanz in ein koffeinfreies Heißgetränk zu mischen? Worum mochte es sich gehandelt haben? Nun gut, das würde sich herausfinden lassen. Im Institut für chemische Analytik konnte die Serviette, mit der ich etwas vergossene Flüssigkeit  aufgesogen hatte, untersucht werden. Das müsste bald geschehen, bevor ich mit Senfeiern und anderen Köstlichkeiten bedroht wurde! 

Apropos Köstlichkeiten: Mein Gast im Keller wartete bestimmt schon auf sein Brot! 

In der Tat. Hungrig stürzte er sich auf die Scheiben und schüttete einen Becher Apfelsaft herunter. Ich kaufe da immer den naturtrüben Bio-Apfelsaft ohne Zuckerzusatz. Besser für die Zähne. Insgesamt deutlich gesünder, ohne chemische Zusatzstoffe. Dafür erreichte er schneller das Verfallsdatum. 
Ich sah ihm eine Weile zu, wie er, einer Raupe nicht unähnlich, die ein Blatt abnagt, die Brote aß. Er knabberte zunächst die Rinde ringsherum ab, dann folgte, ebenfalls rundum, der erste Kreis. 
„Warum beginnst Du nicht an einer Ecke, und isst gerade bis zur gegenüberliegenden Seite?“, erkundigte ich mich. 
„Weif nich'", schmatzte der Knabe. Sein Gesicht war verschmiert. Es roch nicht gut, was an dem Eimer liegen mochte, den er benutzte, um seine Notdurft zu verrichten. Er war nun den 4. Tag in meinem Keller. Ich gebe zu, dass ich unter dem Druck der Doppel-, ja, eigentlich, Dreifachbelastung zu leiden begann. Christine, Jürgen, das Kind ... Ich mußte den kleinen Racker loswerden .... „Wir machen noch einen Ausflug, nachher!“
„Darf ich nach Hause?“
„Das sehen wir dann.“

Das war natürlich übertrieben. Aber liebten Kinder es nicht, belogen zu werden? Mit diesem Weihnachtsmann-Rummel? Den Märchen und Feen, die Wünsche erfüllten? Welches kleine Mädchen trug nicht hin und wieder ein billiges Krönchen und hielt sich für eine Prinzessin? 
Er jedenfalls sah nichts mehr, denn er schlief tief und fest, als ich ihm die Plastiktüte über den Kopf stülpte. Die Tragetasche eines Marktes für Spielzeug, übrigens. Mit Spongebob darauf. Lustig. 

Ich weiß nicht, ob er kurz vor dem Moment seines Todes noch einmal erwachte. Seine Atemfrequenz stieg. Er wurde unruhig, der Kampf seines kleinen Körpers um mehr Sauerstoff führte zu heftigen Konvulsionen, begleitet von wimmernden, klagenden Lauten, die ich dadurch dämpfte, dass ich meine Hand auf die Stelle presste, an der das Gefängnis aus Plastik in schnellem Rhythmus eingesogen und ausgespien wurde. Dann ein letztes Aufbäumen, bevor sein Körper sich völlig entspannte. Ruhig wurde. Gelöst, frei. Aller Zwänge ledig. 

Dies ist, glaube ich, eine gute Stelle, um um Ihr Verständnis zu bitten. Was hätten Sie getan? Ich konnte ihn doch nicht einfach gehen lassen, oder? Er hätte umgehend seinen Eltern alles erzählt! Vielleicht wäre er traumatisiert gewesen. Traumatisiert, wenn ich das schon höre! Heute war doch jeder traumatisiert, irgendwie. Es reicht doch heutzutage schon das Mobbing in der Schule, ein Klaps auf den Po, oder das Ablehnen eines Wunsches, und schon würde ein neurotischer Psychopath aus ihm. Ein Verbrecher. Ein Vergewaltiger. Bitte bedenken Sie, was ich ihm alles erspart habe - und dann erst urteilen Sie über mich! 

Nein, je länger ich darüber nachdachte, um so gerechtfertigter erschien mir meine Tat. Menschenopfer hatte es doch zu allen Zeiten gegeben. Denken Sie bitte an die Azteken. Die Bibel. Die Weltkriege. Wer wollte da über meine Tat richten? Sie war, wie man so sagt, alternativlos. Erforderlich. Sinnvoll. Hätte er mich angeschwärzt, wäre die Welt meiner Person beraubt worden. Ich hätte Christine nicht helfen können in ihrem Kampf um Gerechtigkeit, und - mal im Ernst - auf meine Kultiviertheit, meine Bildung, meine Fantasie, und, bei aller Bescheidenheit, mein brillantes Aussehen zu verzichten? Na also. Sie sehen selbst, welcher Schaden hierdurch angerichtet worden wäre.

Ich musste ihn verschwinden lassen. Das war das kleinere Opfer. Wie gut, dass Frau Rusch beschlossen hatte, ihr fettes, rotblondes Monster von Katze im Garten unseres Grundstücks beerdigen zu lassen. Sie hatte dem Hausmeister 50 Euro für das Ausheben der Grube gegeben, die Erde war noch locker, und die Spuren würden keinen Verdacht erregen. Ich hatte die Kuhle nur etwas zu erweitern und zu vertiefen, und schon lagen Kind und Katz friedlich vereint in ihrer letzten Ruhestätte. Nächtliches Dunkel hatte meine Aufräumarbeiten verhüllt. Es begann, zu regnen. 

Bevor ich mich daran machte, den Keller gründlich aufzuräumen und zu reinigen, brauchte ich dringend eine von meinen kleinen, gelben Sonnen. Licht ins Dunkel. Harmonie. Frieden. Gleich morgen früh würde ich beginnen, Jürgen, den Ordnungsliebenden, zu observieren. Ich spülte die Tablette mit einem Schluck meines alkoholischen Getränks herunter und wartete, wie gewohnt, ab, bis das Engegefühl in der Brust abgeklungen war. Ich beseitigte den Schmutz im Keller, bewahrte allerdings einige Papiertaschentücher, die der Junge benutzt hatte, in kleinen Plastikbeuteln auf, in denen ich üblicherweise Brotscheiben oder Früchte verpackte. Man konnte ja nicht wissen, ob diese irgendwann noch einmal von Nutzen sein würden. 
Dann begab ich mich ins Bad und reinigte mich gründlich von den Spuren der Nacht. 

Die Beseitigung Jürgens würde die Beziehung zu Christine festigen. Ich würde ihr diese als eine Art Geschenk darbieten. Ihres Wohlwollens konnte ich gewiss sein. Sie war ja kein schlechter Mensch, oder? Ich meine, mit der richtigen Creme, einer konsequenten Low-carb-Diät, einem guten Friseur und einer Zahnspange würde man ihre Probleme quasi mühelos aus der Welt schaffen können. Und wenn ich mich etwas vorsah und nicht alles aß und trank, was sie mir vorsetzte ... warum sollte das nicht der Beginn einer wunderbaren Freundschaft sein?


BOSHEIT FÜR ANFÄNGER ( Midpoint Fortsetzung 1 )

Ich hatte wirklich gut geschlafen. Ein wunderbares Gefühl, in der Küche endlich die Gläser mit dieser ekligen, klebrigen süßen Nuss-Creme entsorgen zu können. Und das, was ich mir immer vorgenommen und immer wieder aufgeschoben hatte - den Keller einmal gründlich aufzuräumen, nämlich - gehörte endlich auf die Liste mit den erledigten Dingen. 


Zum Frühstück verzehrte ich das Brot und den Apfelsaft, die übrig geblieben waren. Übrigens achte ich nicht nur beim Saft auf Bio-Qualität. Mein Brot muss die gleichen Kriterien erfüllen. Vollkorn, mindestens 1050er Mehl, am besten Roggen oder Dinkel. Der Vorteil ist das Sättigungsgefühl, und, natürlich, die Regulation einer der allerprivatesten Körperfunktionen. Denaturierte Kohlenhydrate kommen mir nicht auf den Tisch! 


Ich war gerade im Begriff, aufzubrechen, als das Telefon klingelte. Das Institut für chemische Analysen war am Apparat. Man teilte mir vorab telefonisch mit, dass es sich bei der Substanz in meinem Kaffee um ein Derivat der Gamma-Hydroxybuttersäure handelte. Ich war erstaunt. K.o.-Tropfen? Warum sollte Christine mir ein derartiges Präparat verabreichen wollen? Ich konnte mir den Grund beim besten Willen nicht vorstellen. Wir mussten dies dringend zum Gegenstand einer Erörterung machen. 


Ich dankte der Mitarbeiterin des Instituts für die schnelle Bearbeitung, sehr liebenswürdig, erhalte ich das Ergebnis noch schriftlich? Selbstverständlich, meinte die junge Frau. Zusammen mit der Rechnung, die gar nicht so hoch ausfiel, wie ich befürchtet hatte. 


Auf der Straße tauschte der Nachbar gerade einige seiner selbstgemachte Plakate aus, Sie erinnern sich an den Nachbarn und seine Plakate? Die mit dem blonden Zehnjährigen im roten T-Shirt? Beim Regen gestern Nacht waren sie nass geworden. Freundlich lächelnd ging ich auf ihn zu. „Kommen sie, geben sie mir gern ein paar Zettel! Ich helfe ihnen rasch!“

Er sah mich dankbar an und ließ ein paar Reißzwecken in meine Hand gleiten. 

„Sie haben auch immer noch nichts gehört, oder?“, flüsterte er mit schwacher, monotoner Stimme. Ich bedauerte. Und das war ja wahr. Seit der Knabe verschwunden war, war die Straße wieder still. Endlich war wieder Ruhe eingekehrt. Dies nervige, klatschende Geräusch des Balls, der unablässig gegen eine Hauswand geworfen wird, oder gar das ‚Tooor, Tooor‘-Geschrei seiner Freunde, wenn besagter Ball seiner zweiten Funktion zugeführt wurde. All diesen ruhestörenden Lärm hatte ich schon eine Woche lang nicht mehr gehört, genau! Und es schmerzte mich, sagen zu müssen, dass ich das nicht weiter bedauerte. Aber das behielt ich für mich. Ich hielt nichts davor, Menschen unnötig traurig zu machen.


Ich heftete also einige „Vermisst“-Plakate an die Straßenbäume, über die Nassen, die durch das Zerlaufen der Druckertinte unleserlich geworden waren. Als ob man Christus ans Kreuz nagelt, schoss es mir durch den Kopf. Aber ich sprach diesen Gedanken nicht aus. 

„Meine Frau und ich, wir geben die Hoffnung nicht auf!“, jammerte er weinerlich. Ich legte meine Hand auf seine Schulter, sah ihm fest in die Augen, und behauptete, dass schon alles wieder gut werden würde.


Ich stieg in meinen Wagen, fuhr aber nicht sofort los. Ich beobachtete den Nachbarn noch ein paar Minuten. Er wirkte ... ja, er wirkte ungepflegt, irgendwie. Verheiratete Männer ließen sich ja schnell mal gehen. Ein Besuch beim Friseur hätte seinen schütteren Haaren vielleicht etwas Fasson verliehen. Bauchansatz, ausgebeulte pastellbraune Cordhosen, pastell-grünliches Hemd, beige, ausgeleierte Strickjacke. Fahles Hautkolorit. Und die Zähne! Eine Katastrophe! Grau-gelb. Die Kombination aus starkem Kaffee und zu viel Zigaretten. 


Nein, so könnte ich nicht leben. Die Erscheinung dieses Mannes verkündete die peinliche Tatsache, dass er die Kontrolle verloren hatte. Er hatte sich aufgegeben. Er befand sich in Auflösung. Das gnadenlose Pastell seiner Erscheinung ließ ihn förmlich transparent erscheinen. Unsichtbar vor dem Hintergrund der Straßenbäume. Farblos. Ohne Konturen, zerfloss sein Abbild vor meinen Augen ...


Ich weiß, dass Sie sagen werden, dass das Folgende mit Absicht geschah. Dass ich absichtlich aufs Gaspedal trat, als ich ihn auf die Fahrbahn treten sah. Sie werden mir nicht glauben, dass es sich wirklich um einen Unfall handelte. Auch die beiden Polizeibeamten sahen mich skeptisch an. Besonders der Jüngere der beiden. 

Wissen Sie, was ich bemerkenswert fand? Der Reflex des flackernden Blaulicht des Krankenwagens verlieh den aufgerissenen, entsetzten Augen des Opfers etwas von ihrer Farbe. So hatte eben alles sein Gutes.


Ich wäre angefahren, so gab ich zu Protokoll, und hätte Gas gegeben. Plötzlich hatte der Nachbar, hinter einem Baum plötzlich hervor stürmend, sich direkt vor mein Auto geworfen. Er sei in hohem Bogen durch die Luft geflogen und mit dem Kopf so ungünstig auf der Bordsteinkante gelandet, dass nicht nur an der unnatürlichen Haltung seines Kopfes ein Genickbruch anzunehmen war. Man müsse ihm zugute halten, dass sein Sohn vor ein paar Tagen spurlos verschwunden war. Seither sei er depressiv, suizidal und einfach nicht mehr der Alte gewesen.


Die Rettungssanitäter konnten nur noch den Tod feststellen. Ich versprach, mich zur Verfügung zu halten, falls noch Fragen beantwortet werden mussten, und händigte den Beamten meinen Schlüssel für die Spurensicherung aus. Für den Schaden an meinem Wagen, so entgegnete der Ältere der beiden Polizisten, würde wohl meine Versicherung aufkommen, sonst die Haftpflichtversicherung des Unfallopfers. Solche Dinge müssen geklärt, werden, finden Sie nicht? Bitte, ich will auf keinen Fall herzlos erscheinen, aber ... möchten Sie auf den Kosten sitzenbleiben? Na also!


Ein Blick auf meine Uhr verriet mir, dass der Nachmittag bereits begonnen hatte. Schon so spät! Ich entschloss mich, mit dem Bus zu der Lehranstalt zu fahren, in der Jürgen Schauder sein Unwesen trieb. Das Foto hatte Christine mir zur Verfügung gestellt. Sie erinnern sich. Dieses Salamischeiben-Foto mit den sich nach oben wellenden Ecken.


Die Schule machte gar keinen schlechten Eindruck. Ein Backsteinkasten, ich schätze mal, dreißiger Jahre? Eine Einfahrt zu einem Parkplatz. Der Lehrereingang unterschied sich vom Schülereingang durch die Treppe aus Granitstein, die zum pompösen Portal aus edlem, dunklen Holz, mit kostbaren Schnitzereien verziert, hinaufführte. Die Tür für die Schüler wirkte nicht minder edel, allerdings deutlich schlichter, und mit Glasscheiben. Beide Pforten ließen sich durch leicht überdimensionierte Messing-Klinken öffnen. Über dem Schülereingang stand in ebensolchen Lettern, die allerdings von grünlicher Patina überzogen waren, „Höhere Staatsschule für Knaben“.


Der Schule gegenüber befand sich eine Ladenzeile mit einem Bäcker, der, wie ich annahm, durch die Schüler, die sich in der Pause ein Gebäckstück genehmigten, ein gutes Geschäft machte. Ich nahm an einem der Bistro-Tischchen Platz und orderte eine Erdbeer-Milch. 


Also, so lange, bis Lehrer Schauder die Schule verlässt, haben wir einen Moment Zeit, über die Erdbeer-Milch zu sprechen. Ist Ihnen das recht? Ich meine, Sie wundern sich doch bestimmt, oder? Jeder andere hätte sich einen Kaffee, oder wenigstens einen Tee bestellt! Aber Erdbeer-Milch? Da sind Sie erstaunt, sehen Sie! Sie wissen jetzt schon so viel von mir. Ich habe keine Geheimnisse vor Ihnen, im Gegenteil. Merken Sie nicht, wie die Distanz zwischen uns langsam schwindet? Wie wir immer vertrauter werden? Ich genieße diese Atmosphäre sehr. Es ist gut, Menschen zu begegnen, die einen verstehen, und trotz mancher Schrullen so akzeptieren, wie er ist. 


Also: Mit der Erdbeer-Milch hat es folgende Bewandtnis. Meine Mutter .... Moment mal ...grauer Haarkranz? Fussballrunder Schädel? Hässliche Brille? Fu Manchu-Bart? Schmallippiger, arroganter Mund? Das war er! Gut, dass ich schon gezahlt hatte. Ohne auch nur einen Schluck meiner Milch getrunken zu haben, stürzte ich aus dem Laden. Entschuldigen Sie, bitte, wir plaudern später weiter! Jetzt muss ich mich sputen! 



BOSHEIT FÜR ANFÄNGER ( Pinch 2 )

Na, das wäre um ein Haar schiefgegangen. Fast hätte ich Jürgen Schauder entwischen lassen, aber Erdbeermilch hin oder her - ich war ihm dicht auf den Fersen. Er marschierte eiligen Schrittes, als sei er auf der Flucht. Seine geschmacklose Brille hatte er gegen eine ebenso stillose Sonnenbrille ausgetauscht. Typisch für Menschen, die etwas zu verbergen haben. Und dann diese Kleidung! Die Jacke, Modell Herren-Freizeitjacke mit Strickbündchen aus dem billigen Modemarkt, passend zum tristen Grau seiner Haare. Eine abgewetzte, graue Polyester-Hose, und, bitte halten Sie sich fest: Braune Sandalen! Dass er seine Füße in hellbraune Socken, vermutlich Acryl, bestenfalls 10% Baumwolle, gehüllt hatte, machte die Angelegenheit nicht besser. Gegen diesen Mann war ja noch das Opfer meines bedauerlichen Unfalls - ja, Unfall. Da gibt es gar nichts zu lachen! - wie ein Top-Model gekleidet. 

Vor dem Gebäude des Roten Kreuzes machte er Halt. Er schaute auf die Uhr und verschwand im Haupteingang. 
Über eine Stunde später, ich hatte schon angenommen, dass er beim Versuch, mich abzuschütteln, den Hinterausgang benutzt hatte, verließ er die Institution wieder. Was mochte er dort getan haben? Das Vertrauen der Mitarbeiter erschlichen, und sich für die nächste Sammlung für einen guten Zweck angemeldet, als freiwilliger Helfer? Um dann mit dem erbeuteten Bargeld zu verschwinden? Medizinische Hilfsmittel oder Medikamente entwenden, für ein teuflisches Mordkomplott? Hatte er sich gar in die Notfall-Zentrale gehackt, um über den Seniorennotruf leichtgläubige Opfer zu finden? 

Über eine Stunde! Die Preise der in den Schaufenstern dekorierten Waren kannte ich inzwischen auswendig, so lange und so oft hatte ich sie angesehen. Schade, dass ich nicht daran gedacht hatte, dass mir die freundliche Verkäuferin meine Erdbeermilch auch hätte mitgeben können. Kaffee gab es ja immerhin auch ‚to go‘, wie man so sagte. 
Ach Gott, dabei fällt mir ein: In dieser guten Stunde hätten wir Zeit gehabt, um über die Erdbeermilch zu sprechen. Völlig vergessen! Und jetzt geht es nicht, weil ich weitereilen musste. Ich kam mir vor wie weiland der alte Sherlock Holmes! Lieber Gott, hatte der einen Schritt am Leib! Vermutlich war er Mitglied im regionalen Wanderverein! 

Mir fiel auf, dass er immer wieder die Straßenseite wechselte, um auf Leute zuzugehen, sie zu begrüßen, ein kurzes Gespräch zu führen. Ich blickte in die Gesichter der Menschen, mit denen er sich austauschte. Entgegen meinen Erwartungen sahen diese aber entspannt, heiter, gut gelaunt aus, als spräche man mit jemandem, dem unverhofft zu begegnen man mit Freude zuließ. 

Was für ein Heuchler! So hatte er es bestimmt auch mit Christine gemacht! Ein Kompliment hier, ein Scherz dort, ein einschmeichelndes „Sehen wir uns wieder?“ ... und schon ist man in das Leben eines anderen Menschen eingedrungen. Wie eine Zecke saugt man sich fest. Empörend, so etwas! 

Nunmehr betrat er das Gebäude der Volkshochschule. Welche Teufelei plante er dort? Auf der Damentoilette auf ahnungslose Opfer lauern? Hatte er wohlmöglich einen Mitarbeiter erpresst und kassierte nun sein Schweigegeld? Plante er einen Anschlag, und in seiner Aktentasche ruhte die selbstgebaute Bombe nebst Zeitzünder? 

Nun, vermutlich dauerte es wieder. Dann hätten wir ja Zeit, um Ihnen von der Erdbeermilch zu erzählen. Das ist mir wirklich wichtig, wissen Sie? Ich weiß ja, dass sie mich nicht sonderlich sympathisch finden. Trotz meines attraktiven, kultivierten Äußeren. Vielleicht sogar, einen schlechten Eindruck von mir haben. Ungeachtet meiner gewinnenden Umgangsformen. Deswegen ist es so wichtig, dass Sie mehr Hintergrundinformationen bekommen. Die Geschichte mit dem Mixgetränk beleuchtet die schwierige Beziehung, die ich zu meiner Mut ... 

Das darf nicht wahr sein! Gerade will ich erzählen, und da kommt dieser dumme Kerl schon wieder heraus! 

Den Rest des Weges legten wir mit dem Bus zurück. Er wohnte in einer kleinen Reihenhaussiedlung im Südosten der Stadt. Niedliches kleines Vorgärtchen, gepflegtes Gärtchen hinter dem Haus, die Fenster geputzt, auf dem polierten Messingschild an der Tür stand, wie nicht anders zu erwarten war, ‚Schauder‘. Das Haus war nicht unterkellert. Wollte man eindringen, kam nur die Terrassentür infrage, die durch Wand und Hecke vor den Blicken neugieriger Nachbarn geschützt wurde. 

Ich beschloss, Christine von der Ausbeute des Tages zu berichten. Zudem mussten wir ja noch die Sache mit den Tropfen klären. 
Noch während ich bei der Fahrstuhlfahrt in die 4. Etage grübelte, wie ich unverfänglich das Thema auf den präparierten Kaffee lenken konnte, kam mir der Zufall zu Hilfe. Intensiver Duft nach dem aromatischen Getränk drang an meine Nase, und als auf mein Klingeln hin Christine die Tür öffnete, begrüßte sie mich mit den Worten, „Genau richtig! Der Kaffee ist gerade fertig geworden!“ Sie strahlte mich nach Leibeskräften an. Oh ja, der Kieferorthopäde würde seine helle Freude an ihr haben. Einfach kann jeder. Wenn es jedoch aufwendig wird, ist der Künstler im Arzt viel mehr herausgefordert, oder etwa nicht? 

„Gute Idee“, antwortete ich nonchalant. „Aber bitte nicht wieder mit chemischen Beimengungen!“
Sie erstarrte. „Woher weißt Du?“, wisperte sie traurig, mit gesenktem Haupt, wie ein Kind, das man wegen des Versengens von Ameisen mit einer zum Brennglas umfunktionierten Lupe tadelt. Ich lächelte mild und war willens, den heimtückischen Anschlag zu vergeben. 
„Nur so eine Ahnung!“
Sie blickte mich aus tränenumflorten Augen an. Ein Bild des Jammers. Sie bereute ihre Tat, das erkannte man ganz deutlich. Ich wollte verhindern, großzügig, wie es meiner gutherzigen Natur entspricht, dass sie sich vor mir erniedrigen musste. Ich ergriff ihre Hände. 
„Ich bin schlecht“, schluchzte sie. „So unglaublich schlecht!“ Höflichkeit verbot mir, zu widersprechen. „Wie konnte ich nur? Ich muss doch irgendeinen dummen Fehler gemacht haben!“

Ich verstand nicht ganz. „Wie meinst du das?“
„Du hättest das gar nicht merken dürfen! Ich habe vermutlich zu viel Gamma-Butyrolacton genommen! Normalerweise schmeckt man nichts, wenn man das richtige Verhältnis zu Natriumhydroxid und Kaliumhydroxid zusammenmischt. Ich bin so unfassbar schlecht! Früher war so etwas eine meiner leichtesten Übungen!"

Ganz offensichtlich litt sie unter ihrem Versagen. Tränen liefen über die talgige Haut ihrer Wangen; Tränen, deren gerader Lauf nach unten immer wieder durch die Pickel in andere Bahnen gelenkt wurde. 
Um ihr Trost zu spenden, berichtete ich von der Verfolgungsjagd, die ich mir mit Jürgen geliefert hatte. „Ein Verbrecher“, befand ich. „Der Mann ist ja ein Ausbund an krimineller Energie! Sollte mich gar nicht wundern, wenn es in seiner Schule bereits einige ungeklärte Vorfälle gegeben hat. Aber das ist ja auch offensichtlich: Diese niedrige Stirn, der stechende Blick, die angewachsenen Ohrläppchen ... haben da bei Dir nicht die Alarmglocken geläutet?“

Wir saßen über unseren Kaffeebechern, ich versuchte, Christine zu trösten, so gut, wie es ging. Draußen wurde es langsam dunkel. Es wäre Zeit, aufzubrechen, erwähnte ich beiläufig, und war überrascht, dass es wie ein Ruck durch ihren Körper fuhr. Wütend schaute sie mich an. 
"Wenn du durch diese Tür da gehst“, zischte sie wie eine nur mäßig gelaunte Königskobra, „brauchst du gar nicht mehr wiederzukommen!“
„Christine, was ist mir dir? Was ist los? Wir sind doch nur ...“ 
„Warum? WARUM?“, schrie sie und schlug ihren Kopf gegen die Wand. „Ihr Kerle seid solche Schweine! Du hast mich benutzt! Ja, guck nicht so blöd! Benutzt hast du mich, wie eine billige Hure! Dann hau doch ab! Geh doch zu Deinem Flittchen! Los, verschwinde! Lass mich alleine! Lasst mich doch alle alleine!“ 
Das Anschlagen des Kopfes hatte eine blutende Wunde an der Stirn verursacht. Sie heulte auf wie ein wildes Tier und sank auf dem Teppich in sich zusammen.

„Na gut, ich breche dann auf“, äußerte ich so beherrscht und sachlich wie möglich. Mit einem unartikulierten Schrei ergriff sie einen der beiden Kaffeebecher und schleuderte ihn mit aller Kraft in meine Richtung. Er war nicht ganz leer, so dass mein Jackett an der rechten Schulter durchnässt wurde. Mich vorsichtig rückwärts tastend, verließ ich die eigenartige Szene.

Leise schloss ich die Tür und drehte mich um, um zum Fahrstuhl zu gehen. 

„Guten Abend!“
 
Mein Gott, hatte der Mann mich erschreckt! Ich fuhr zusammen, einen Satz zur Seite machend. „Keine Sorge, ich kenne diese Ausbrüche! Das geht vorbei! Ich hab das Geschrei bereits von draußen gehört!“ Er musterte mich einige Sekunden. Plötzlich leuchteten seine Augen auf.  „Entschuldigen sie“, meinte er, „aber kann es sein, dass sie heute den ganzen Tag hinter mir her gerannt sind?“


BOSHEIT FÜR ANFÄNGER ( Plot Turn 2 )

Ich errötete. Vermutlich konnte er dies angesichts der sparsamen Beleuchtung des Ganges nicht erkennen. Schade. Verlegenheit stand mir gut. Ich wirkte dann wie ein netter, kleiner Junge, den man beim Stibitzen eines Schokoladenriegelchens ertappt hat. Wenn ich so schuldbewusst dreinsah, konnte mir niemand mehr etwas übelnehmen. 


„Ich ... ich bin mir nicht sicher! Kennen wir uns denn, Herr ... ääähhh?“

„Schauder. Jürgen Schauder. Der Name sagt ihnen doch bestimmt etwas, oder? Ich meine, wenn sie jetzt mein Nachfolger sind! Im wahrsten Sinne des Wortes!“


Er lachte etwas, aber es klang nicht echt. Zumindest nicht heiter. Bitter, vielleicht. Dieser Eindruck wurde noch verstärkt durch den Widerhall, den der Flur verursachte. Sie kennen dies unheimliche, hohle Lachen aus den alten Edgar-Wallace-Filmen, in denen Klaus Kinski und Gisela Uhlen ... egal. Mir jedenfalls liefen kalte Schauer über den Rücken. Mein Gegenüber machte einen Schritt auf mich zu. Er stand jetzt ganz dicht vor mir. Ich spürte, wie meine Haare sich durch den Strom seiner Ausatmenluft bewegten.

„Stimmt doch, oder? Sie sind doch jetzt mit Christine zusammen?“


Ich war bemüht, meine Stimme entspannt und beiläufig klingen zu lassen, als berichtete ich von meinem letzten Urlaub ... obwohl, wie ich Ihnen anvertrauen möchte, mein letzter Urlaub alles andere als unverfänglich verlief. Ich glaube, dass die Polizei in Playa del Ingles immer noch versucht, den Überfall auf den Koch des ‚Chez Luis‘ - unweit des Yumbo Centers - aufzuklären, der damals die Insel in Aufregung versetzte. Man fand ihn leblos im dem Gesicht in seiner Paella-Pfanne liegen. Nennen Sie es einen ärgerlichen Zufall, dass diese Pfanne noch auf dem Herd stand. Der Rauch und Gestank nach Luis angebranntem Gesicht war es dann auch, der ein junges Paar, das den Abend in einer Bar verbracht und sich nun auf den Weg ins Hotel gemacht hatte, auf die nicht ganz abwegige Idee brachte, es könnte etwas mit der Spezialität des Hauses nicht stimmen. Ich hatte diesen Eindruck schon vorher gewonnen, die Diskussion um die Qualität seiner Paella allerdings verloren. Dafür zeigte er sich später, in seiner Küche, meinen körperlichen Kräften deutlich unterlegen. Ein schöner Beweis dafür, dass sich mein Einsatz im Fitness-Studio bezahlt machte. Und ein großartiges Beispiel dafür, dass es im Leben so etwas wie Gerechtigkeit gab, nicht wahr?


Nein. Wo war ich doch gleich? Ach so. Ich erwiderte also: „Ich bitte Sie, Herr Schauder. Christine und ich sind nur Bekannte. Ich habe ihr mit einem Blumenkübel geholfen. Ja, vielleicht kann man sogar von Freundschaft sprechen. Aber ‚zusammen‘ im Sinne von Zusammen ... nein, dass halte ich für übertrieben!"


Er starrte mich erstaunt an. „Wieso? Hat sie noch nicht versucht, sie umzubringen?“


Jetzt war es an mir, verblüfft auszusehen. Ich erinnerte mich an den gallenbitteren Geschmack des Kaffees, der die K.o.-Tropfen enthielt. Wer weiß, was passiert wäre, hätte ich diese zu mir genommen. Erstaunlich, wie zahlreich die Variationen dessen waren, was in meiner Fantasie entstand. „Nun, ich bin mir nicht sicher“, erwiderte ich zögerlich. „Hätte ich ihren Kaffee getrunken, wäre ich vermutlich für eine begrenzte Zeit eingeschlafen, aber umbringen? Nicht mit Gamma-Hydroxybuttersäure!"


Jürgen Schauder lehnte sich etwas zurück und legte den Kopf in den Nacken. „Donnerwetter“, entfuhr es ihm mit bewunderndem Unterton. „Wie haben sie das denn geschafft?“


Ich begriff immer weniger. 

„Was, geschafft?“

„Na, dass Christine sich derart in sie verliebt!“

„Woraus leiten sie das ab?“


Er lächelte. „Unsympathische Menschen haben bei ihr keine Chance. Die lässt sie nicht mal in ihre Wohnung. Ach, Entschuldigung, aber - hatten Sie den Eindruck, dass ihre Wohnung ordentlich und sinnvoll aufgeräumt war?“

Ich bejahte dies.

„Sie ist so schrecklich unordentlich, und ihre Art der Raumnutzung ist völlig unökonomisch! Wie oft habe ich aufgeräumt und ihre Sachen geordnet! Ich ertrage es nicht, wenn ...“ 

Er unterbrach sich.

„Nein. Wenn Sie jemanden mag, tötet sie ihn über Kurz oder Lang. Aber wenn sie versuchte, sie gefügig zu machen, dann ist das der größte Liebesbeweis. Vermutlich hätte sie sie irgendwo angekettet!“

„Wie schön!“, entfuhr es mir mit deutlich ironischem Unterton. „Mir ist allerdings nicht ganz klar, wieso eine derartige Gefangennahme einen Liebesbeweis darstellen soll!“


Nun schaute mich der Lehrer wieder verdutzt an. „Na! Überlegen sie doch mal!“ Es kam mir so vor, als versuchte er, einem etwas begriffsstutzigen Schüler den Satz des Pythagoras zu entlocken. 

„Sie hat doch ganz offensichtlich darüber nachgedacht, sie ganz und für immer, vielleicht, an sich zu binden! Im wahrsten Sinne des Wortes! Wirklich erstaunlich, dass sie dieser Falle entgangen sind!“


Mir stockte der Atem. Die Gefahr war ja keineswegs vorüber. In einem unbeobachteten Moment hätte sie den Versuch, mich meiner Freiheit zu berauben, wiederholen können. Jederzeit. Allerdings hatte ich für sie einen Auftrag auszuführen. 


Wir saßen beide im Hausflur von Christines Haus, nebeneinander, und an die Wand gelehnt. Der Pädogoge schmunzelte. „Hat sie ihnen auch erzählt, was ich für ein schlimmer Finger bin? Der ihr das Leben zur Hölle machte?"


Ich nickte stumm. Ich kam mir plötzlich irgendwie idiotisch vor. Ich meine, Jürgen war nicht halb so attraktiv wie ich. Aber er war mir auf eine unergiebige Weise nicht unsympathisch. Wenn er lächelte, sogar, wenn dies Lächeln bitter war, zeigten sich Grübchen in beiden Wangen. Wer weiß? Mit einem vernünftigen Haarschnitt, mehr Pflege, einem professionellen Zahn-Bleaching und dem einen oder anderen Eingriff durch einen plastischen Chirurgen ... man hätte aus seinem Gesicht etwas machen können. Vielleicht sollte ich ihn mal unter meine Fittiche nehmen. Als erstes müsste man diese schreckliche graue Freizeitjacke aus Polyester mit dem gestrickten Bündchen verbrennen. Und dann die Sandalen. Mein Gott! Sandalen! Eine Fußbekleidung, durch die man die Zehen sehen kann! Unästhetisch! 


„Und wie“, kicherte ich. „Besonders ihre Anordnung der Tassen im Küchenschrank hat sie an den Rand der Verzweiflung gebracht!“

Jürgen sah einen Moment verärgert aus. Dann grinste er. „Das Elend hätten sie mal vorher sehen sollen! Man konnte den Schrank nur ganz, ganz langsam öffnen, und musste eine Hand vor die Öffnung halten, um rechtzeitig die herausfallenden Tassen auffangen zu können!“


Er sah mich einen Moment lang von der Seite an. „Es mag vielleicht etwas schräg klingen“, lächelte er, „aber darf ich sie zu einer Erdbeer-Milch einladen?“


Mir stockte abermals der Atem. „Wie um Himmels Willen kommen sie auf Erdbeer-Milch?“

„Ach wissen sie, das ist eine längere Geschichte! Also, die Geschichte hat mit meiner Mutter zu tun. Die hat ...“

„Wollen wir uns nicht Duzen?“, unterbrach ich mein Gegenüber.



BOSHEIT FÜR ANFÄNGER ( Plot Turn 2 Fortsetzung ) 

Die Strohhalme, durch die Jürgen und ich unsere Erdbeer-Milch schlürften, waren grün, was, darüber waren wir uns einig, gut zu dem kräftigen Rosa unseres Getränks passte. Außerdem hatte die übereifrige Tresenkraft die Gläser noch mit je einem Papierschirmchen dekoriert. Ich zog meins heraus und entfernte mit der Zunge die pinkfarbene, dickflüssige Schicht vom Stil. 


Ich betrachtete mein Gegenüber. So schlecht sah er gar nicht aus, befand ich. Die Haare waren frisch gewaschen, der Fu Manchu-Bart sorgfältig gestutzt. Freundliche, warme braune Augen sahen mich durch eine Brille im Retro-Style an. Mochten seine Lippen auch schmal sein - er lächelte liebenswürdig. Dass der Tag so ausging, hätte er nicht vermutet. Nach der Schule hatte er zunächst beim Roten Kreuz Blut gespendet, „Blutgruppe 0 Rhesus negativ, Universalspender, sehr gesucht“, betonte er stolz, und dann in der Volkshochschule sein ehrenamtliches Engagement für die Integrationskurse für Migranten besprochen.


„Es ist ja nicht so, dass ich mich über Arbeitsmangel zu beklagen habe, aber ich tue so gern Gutes, weißt du?“ 

Erstaunlich, wie wir uns glichen! Ich knickte vor Aufregung die weiße Stockspitze meines Schirmchens, pulte die Farbe herunter und fand den Anfang der kleinen Rolle aus mit asiatischen Schriftzeichen bedruckten Zeitungspapier, die ich nunmehr abwickelte. Den so entstandenen Streifen strich ich sorgfältig auf dem Tischchen mit der Marmorplatte glatt. 


Jürgen lachte wie ein kleiner Junge. „Genau das habe ich früher auch immer mit meinen Schirmchen gemacht! Wie lustig!“


Wir sind uns wirklich ähnlich, dachte ich. Dann erschrak ich. War ich am Ende gar nicht böse? Kein Psycho- oder Sozio- oder Sonstwas-path? War ich vielleicht doch ein Wohltäter der Menschheit, ausgestattet mit dem Auftrag einer höheren Macht, schädliches oder unnützes Leben auszulöschen? Und wenn dem so war: Wo hatte ich Christine einzuordnen? Ob mein Gegenüber die Antwort wusste? Immerhin war er Lehrer. 

„Jürgen, sag mal ... Meinst du, Christine ...“

„Genau das habe ich auch gedacht. Du nimmst mir das Wort aus dem Mund. Sie muss verschwinden. Es ist eine Frage von ‚Sie oder wir‘.“


Er hatte recht. Ich spürte erneut den bitteren Geschmack der K.o.-Tropfen auf dem hinteren Teil meiner Zunge. Trotz der Erdbeer-Milch. Mir graute vor den Senfeiern, obwohl ich die ja prinzipiell gern aß. Ich hatte das sichere Gefühl, dass ich diese Mahlzeit nicht überleben würde. 


„Wir müssen uns von ihr befreien“, erklärte Jürgen in geduldigem Ton, wie eben nur ein Lehrer mit seinem Schüler spricht. „Nachhaltig befreien. Sie wird uns anders nicht gehen lassen. Du siehst: Dich hat sie auf mich angesetzt. Und wer weiß, was sie danach mit dir noch alles vorhat. Ihr Plan, dich zu betäuben, ist schiefgegangen. Vermutlich heckt sie just in diesem Moment einen Plan aus, um dich dauerhaft an die Kette zu legen. In ihrem Keller steht eine Gefriertruhe, wusstest du das?“


Die düstere Andeutung beunruhigte mich so sehr, wie sie meine Fantasie beflügelte. Ich stellte mir vor, Christine in eine Art Eisskulptur zu verwandeln, um sie dann aus einiger Höhe fallen und in tausend Stücke zerspringen zu lassen. Sie kennen das Märchen von der Schneekönigin? Hans Christian Andersen? Der Spiegel, der, schaut man in ihn hinein, alles Schöne hässlich und alles Schlechte gut erscheinen läßt? Von dem, als er zerbirst, ein Splitter in das Auge des Protagonisten gerät und dessen Wahrnehmung trübt? 


Was würde wohl, meinen Sie, passieren, mit einem Stück tiefgefrorener Christine im Auge? Könnte sich Schlechtigkeit im Opfer ausbreiten? Über den Sehnerven zum Gehirn, und von da aus Besitz ergreifen von seiner Person, seiner Persönlichkeit, seinem Körper ... seiner Seele, gar? Ich meine ... glauben Sie an so etwas wie ‚die Seele‘? Etwas wie Unsterblichkeit? Leben nach dem Tod? 


Aus naheliegender Gründen hatte diese Idee für mich etwas Beunruhigendes. Aber ich hielt das ohnehin für ein Märchen. In diesem Fall eine Geschichte, die die menschliche Vorstellungskraft ersann, um sich über das Erlöschen der eigenen Existenz bzw. das Dahinscheiden geliebter Menschen hinwegzutrösten. 


„Christine lässt niemanden gehen“, erklärte Jürgen. „Hat sie einmal ihre Krallen in dich geschlagen, bist du in ihr Spinnennetz geraten, ist dein Schicksal besiegelt. Sie lässt dich nie wieder vom Haken. Sie wird jeden deiner Schritte kontrollieren!" 

„Jetzt übertreibst du aber. Wie soll das denn gehen?“

„Hast du ein Mobiltelefon?“

„Ja, natürlich. Hier!“ 

Ich reichte es ihm. Er warf einen kurzen Blick auf das Display. 

"Hast du etwa die Spy-App installiert?“

„Was bitte hab ich installiert?“

Er tippte auf den kleinen Bildschirm. „Hier!“

Ein bräunliches, unauffälliges Quadrat mit abgerundeten Ecken, kaum zu entdecken vor dem Hintergrundbild, befand sich in der unteren Reihe der Applikationen. Nein, das hatte ich nicht heruntergeladen. 

„Siehst du? Mit diesem Programm kann man leicht erkennen, wo sich das Handy gerade befindet, und mehr noch, man kann es einschalten und mithören, was gesprochen wird!“


Mit wurde schlecht. „Meinst du, Christine hat ... “ Er ergriff den Apparat, drückte ein paarmal auf ihm herum, und lehnte sich lächelnd zurück. „Beruhige dich. Sie beobachtet dich zwar, hat aber noch nicht gelauscht!“


Apropos ‚Dahinscheiden geliebter Menschen‘: Ich schulde Ihnen ja immer noch die Erklärung meiner Beziehung zur Erdbeer-Milch. Komisch, dass auch Jürgen, der gerade sehr geräuschvoll die Reste der fruchtigen Flüssigkeit durch den grünen Halm sog, indem er ihn rasch in immer enger werdenden Kreisen über den Boden des Glases führte, zu diesem Thema etwas beitragen konnte. Was mochte seine Geschichte sein? Meine hatte mit meiner Mutter zu tun, die ein manipulatives Monstrum war. Sogar einer meiner Psychiater bescheinigte mir, dass meine diversen Störungen, die er bei mir diagnostizieren zu müssen glaubte, auf die pathologische Bindung an diese Frau zurückzuführen war. Naja, und einmal passierte es eben, dass meine Mutter für mich ... Verflixt! Das Licht meines Telefons ging plötzlich an! Wieso hatte ich es nicht ausgeschaltet? So was Dummes!


„Sie hört mit“, hatte Jürgen auf einen Bierdeckel gekritzelt. 

„Weiß sie, dass wir zusammen sind?“, schrieb ich darunter. Er schüttelte den Kopf und bedeutete mir, dass sein Mobiltelefon ausgeschaltet war. Ich wollte seinem Beispiel folgen, er allerdings winkte heftig ab. „C. wird misstrauisch!“, las ich auf dem runden Filz. Er zeigte auf die Tür zur Toilette. Wortlos durchschritten wir sie. Jürgen legte den Apparat auf den Rand des Waschbeckens und drehte beide Wasserhähne auf. Er zog mich in eine Kabine und schloss die Tür. Sich zu mir herüberbeugend, flüsterte er in mein Ohr: „Du musst sie beseitigen! Ich helfe dir! Nur dann sind wir frei!“


Womit ich nicht wirklich gerechnet hatte, war, dass unvermittelt seine Lippen die Meinen zum Ziel hatten. Er nahm meinen Kopf in beide Hände und küsste mich. Leidenschaftlich. Ich war viel zu perplex, um irgendwie reagieren zu können, so ließ ich ihn gewähren. Ich öffnete sogar ein wenig meinen Mund, in dem seine Zunge nunmehr etwas zu suchen schien. Ob sie es fand, war mir nicht ganz klar. Aber so unvermittelt, wie die kleine Attacke begann, endete sie wieder. Mit seinem Zeigefinger, den er mir auf meine Lippen legte, forderte er mich zum Schweigen auf. Dann verließen wir diesen Ort, nachdem ich den kleinen Spion in meine Hosentasche gesteckt hatte. 




BOSHEIT FÜR ANFÄNGER ( Retarding Moment 1 )

Ich erwachte eigenartig gut gelaunt. Was für ein wunderbarer Traum! Ich meine, so ganz konkret konnte ich mich nicht an jede Einzelheit erinnern, aber das Gefühl, das er in mir hinterließ, war unbeschreiblich! 
Wohlig räkelte ich mich. Dabei hasse ich es, geweckt zu werden. Ich konnte es mir erlauben, aufzustehen, wenn es draußen hell wurde, und mit der Dunkelheit schlafen zu gehen. Nun hatte es Sturm geklingelt, und mich aus überaus angenehmen Welten gerissen. 

Noch sehr benommen, schwankte ich zum Fenster. Ich stolperte über etwas. Ein Hocker. Seit wann stand da ein Hocker? Auch das Gefühl unter meinen Füßen ... es hätte sich wie Holz anfühlen sollen. Parkett-Holz. Keinesfalls aber wie Flokati. Blinzelnd rieb ich mir die Augen. Auf der Straße sah ich einen 70er-Jahre Opel Corsa, inclusive rotem Lack und reichlich Rost. Konnte das ... aber woher hatte sie meine Adresse? 
Vorsichtig tastete ich mich zum Bett zurück und setzte mich auf die Kante. Wie hätten Sie sich verhalten? Einfach die Tür geöffnet? Verschlafen und zerstrubbelt von der Nacht? So durfte mich niemand zu Gesicht bekommen, unter keinen Umständen. Schon gar nicht mit ungenutzten Zähnen!

„Hat es eben geklingelt?“

Ich machte einen Satz. Eine Sekunde lang dachte ich, dass mein Herz stehenbliebe. Das Zimmer gewann langsam an Kontur, ebenso wie Jürgen, der, gestützt auf den rechten Ellenbogen, sich etwas aufrichtete und mich fragend ansah. Er war, wie ich auch, komplett entkleidet. 

„Wie kommst du denn in mein Schlafzimmer?“
„Dein Schlafzimmer?“ Er kicherte. „Dann schau dich doch einfach mal um!“

Stilvolle Naturholz-Möbel, soweit das Auge reichte. „Team 7, schätze ich!“ 
„Riletto“, nickte er. „Du hast ein gutes Auge!“
„Die Bettwäsche ist von Paloma Picasso, oder?“ 
„Sonne, Mond und Sterne. Gefällt sie dir?“

Das Schlafzimmer war, wie sich später herausstellte, nicht das einzige Highlight in seiner Wohnung. Alles verriet Stil. Badezimmer von Villeroy und Boch. Wohnzimmer Rolf Benz. Selbst in der Küche fand sich ein hochmoderner Herd von Gaggenau.

Aber jetzt schrillte die Türklingel erneut, ungeduldig, heftig. „Christine“, flüsterte ich verschwörerisch. „Die hat mir gerade noch gefehlt!“ Jürgen wirkte angestrengt. „Ich hatte eigentlich gemütlich mit dir frühstücken wollen. Es ist Samstag! Du musst mein Vitello tonnato probieren. Einfach göttlich! Hängt natürlich auch immer von dem Weißwein ab, den du zum Kochen verwendest!“
„Ach, ein einfacher Marmeladentoast .... Sag mal - wieso bin ich eigentlich hier? Du hast doch nicht ...?“
„Wo denkst du hin? Natürlich nicht. Das waren die vier Planter's Punch, schätze ich.“ 

Na klar. Rum. 

„Du musst aufmachen, denke ich. Sie wird wissen, dass du zu Hause bist", ächzte ich resigniert. „Ach so ... ich wollte noch sagen: Nicht das du denkst ... also, ich bin nicht ...“
„Nein?“, grinste Jürgen frech. „Also, wenn's dir eine Strafe war, hast du Sie jedenfalls weidlich ausgekostet!“

Er erhob sich von seinem Lager, und streifte einen eleganten Bademantel mit typischem Versace-Motiv über. Erstaunlich, wie man sich in Menschen täuschen konnte. Definierte Muskeln an allen möglichen Stellen. Das konnte kein Zufall sein. Das war das Ergebnis regelmäßigen Trainings in einem Studio mit erstklassiger Betreuung durch einen professionellen Trainer. 

Jürgen hielt kurz inne und sah mich an. „Ich übrigens auch nicht. Nur, falls es dich interessiert. Aber es war doch gar nicht so schlecht, oder?“
„Aber ... “
Es war sinnlos, weiterzusprechen. Ich hörte, wie er die Tür öffnete. 

„Christine! Was machst du denn hier? Bitte, komm doch ... “
Zum ‚Herein‘ kam er gar nicht. Christine wartete hörbar nicht auf eine Einladung zum betreten der Wohnung. Dann ist sie schon mal hier gewesen, schoss es mir durch den Kopf. Vampire brauchen eine Einladung zum Übertreten der Schwelle. Oder sie waren schon mal in der Wohnung. 
Dem Geräusch ihrer Absätze auf dem Fußboden des Flurs nach zu urteilen, bewegte sie sich bereits sicher auf vertrautem Terrain. Ich schlich zur Tür und schob sie einen Spalt weit auf. 
„Wo ist er? Er ist nicht zu mir gekommen. Noch nicht mal angerufen hat er. Hast du ihn ... ich meine, ist ihm ...“ - sie räusperte sich vielsagend - „ ... etwas zugestoßen?“ 
„Warum räusperst du dich so vielsagend? Und wie kommst du denn auf den Quatsch? Immerhin bin ich nicht derjenige, der versucht hat, ihm chemische Substanzen zu verabreichen!“ 
„Aber du bist derjenige, der bereits zwei Männer beseitigt hat. Er könnte bequem die Nummer Drei auf deiner Liste sein! Ich kenne doch deine Hobbies!“ 

Erneut hörte man Christines energische Schritte. „Wir haben beide nichts davon, wenn wir ihn misstrauisch machen“, erwiderte Jürgen. „Du weißt, dass wir ihn noch brauchen. Glaubst du, ich wäre dämlich genug, um den Jungen zu beseitigen, bevor er seinen Zweck erfüllt hat? Ich habe einen halben Tag darauf verwandt, ihn auf meine Fährte zu locken. Dann hätten wir eine Erdbeermilch, und dann Sex! Und, ganz unter uns: Ziemlich guten Sex!“
„Sex? Ihr beiden? Aber du bist doch gar nicht ...!“
„Ja und? Sei doch nicht so spießig!“
„Ist er denn ...?“
„Er sagt: Nein. Aber ich kann es nicht glauben. Für ‚nein‘ war er zu erfahren. Und zu talentiert.“
„Ist ja auch egal. Er ist der Trottel, den wir gesucht haben. Wir benutzen ihn, und wenn er seine Pflicht und Schuldigkeit getan hat, entsorgen wir ihn. Und damit das klar ist: Ich darf sagen, wie! Immerhin habe ich ihn rekrutiert, im Gartencenter!"

Meine Knie zitterten. Wem war ich da auf den Leim gegangen? In was war ich hineingeraten? Wer waren Christine und Jürgen? So eine Art Bonnie und Clyde? Was planten sie, und welche Rolle sollte ich dabei spielen? 

Sie verstehen doch meine Unsicherheit, oder? Das bezeichnet man vermutlich als Kontrollverlust! Und einen Solchen war ich eben nicht gewohnt. Ich verstand auch nicht, wieso Jürgen, dem ich so etwas wie Sympathie entgegenbrachte, und mit dem ich offenbar Dinge getan hatte, die unbefangen auszusprechen mir zum gegenwärtigen Zeitpunkt unmöglich war, sich plötzlich in dieser Weise über mich äußerte. 

Ich hatte genug gehört und schloss vorsichtig die Schlafzimmertür. Kurze Zeit später vernahm ich den gedämpften Klang von Abschiedsworten sowie das Geräusch der sich öffnenden und dann wieder schließenden Eingangstür. 

Ich hatte mich wieder in das Bett gelegt. So kam es, das Jürgen mich mit bis zum Kinn hochgezogener Decke liegend vorfand. „Ich konnte sie abwimmeln, Gottseidank“ lächelte er. „Was hältst du von Eiern Benedict zum Frühstück? Und mein göttliches Vitello tonnato?“
„Mach dir keine Umstände“, erwiderte ich. „Marmeladentoast reicht völlig.“



BOSHEIT FÜR ANFÄNGER ( Retarding Moment 2 )

Ich weiß nur noch, dass die hauchdünnen Scheibchen aus Kalbfleisch mit der cremigen Thunfischsauce besonders gut dufteten und sehr hübsch, in Form einer Blüte, auf dem Rosenthal-Teller angerichtet waren. Es zerging auf der Zunge, hatte aber einen leichten Nachgeschmack, den ich nicht zuordnen konnte. Jürgen sah mich stolz an. „Gut, nicht? Ich hab's dir ja gesagt ...“ und lachte leise. Was ich nicht verstand, war, dass sein rechtes Auge sich plötzlich auf die Nase zubewegte, während sein Mund sich, ähnlich einem schlechten Picasso, plötzlich auf der linken Wange befand. Sein Bart erschien erdbeerrot und blinkte wie die Neonröhren einer Leuchtreklame. Dann bewegte sein Kopf sich mit der Geschwindigkeit einer Pistolenkugel zentralperspektivisch fort von mir und erschien am Ende eines Tunnels, nicht größer als eine Erbse. Jürgens Konturen lösten sich auf in zunehmender Helligkeit. Dann erlosch das Licht. 

Das erste, was ich wahrnahm, als ich erwachte, waren Stimmen. Viele Stimmen. Laute Stimmen, die sich wie Parasiten durch mein zentrales Nervensystem fraßen und mir physische Schmerzen bereiteten. Ein Lachen flog durch den Raum wie ein bunter Vogel. Einzelne Worte, überrascht, empört, belustigt, gewannen an Schärfe und Klarheit. Ich versuchte, zu blinzeln, gab diesen Versuch aber schnell wieder auf. Warum war mir so kalt? Ich lag, so viel stand fest. Der Duft und das Gefühl von Gras auf meiner Haut in Kombination von vielen mich umgebenden Menschen war zumindest ungewöhnlich.

„Personenkontrolle, guten Tag. Die Personalpapiere, bitte!“ 

Reflektorisch tastete meine Hand die Region ab, in der sich unter normalen Umständen die Gesäßtasche meiner Beinkleider befunden hätte. Nun berührte sie allerdings nur die unbekleidete Haut meines Gesäßes. Ich war überrascht. Die Haut fühlte sich weich an, wie Samt, die darunter liegende Muskulatur war fest und definiert. Donnerwetter! Und das in meinem Alter! Das sollte mir erstmal jemand nachmachen! Ich spannte den Glutäus an. Wunderbar, diese Kraft! Jede Faser war zu spüren!

„Und?“, erklang die Stimme erneut. Ich versuchte vorsichtig, die Augen zu öffnen. Ich befand mich in einer Art Park, vor mir standen zwei Männer in Uniform. Die Szene wurde umrahmt von einer kleinen, eifrig murmelnden Menschenmenge. Ich selbst war unbekleidet. Die Szene erschien mir in grellem, blendendem Licht. 

Ich kann Ihr Erstaunen förmlich fühlen. Wie kam ich hierher? Warum war ich nackt? Warum ausgerechnet in dieser Grünanlage - vor einem Beet, das im Hintergrund mit Rhododendren, im Vordergrund mit Anemonen, Margeriten und Phlox bepflanzt war? Wobei ich persönlich ja Phlox ungeeignet finde, da der ständig gegossen werden muss - aber gut, das gehört nicht hierher. 

Schade, dass wir - Sie und ich, meine ich - nicht miteinander kommunizieren können. Vielleicht könnten Sie mir die Frage beantworten, wie ich hierher gekommen bin. Oder wenigstens, was vorher war. 
Was vorher war ...

Vor meinem inneren Auge erschien das picasso-eske Bild von Jürgens Gesicht. Krampfhaft versuchte ich, mich auf die Zusammenhänge zu besinnen. Warum fiel mir bloß Vitello tonnato ein? Und warum tauchte in dem Bild Christine auf, wie eine böse Fee mit aus kieferorthopädischer Sicht bedenklichem Zahnschema? 

„Was glauben Sie, wo mein Ausweis ist? Sie sehen doch, dass ich nur eingeschränkte Möglichkeiten habe, die mich identifizierenden Unterlagen zu transportieren, oder?“ Ich war gereizt, was man mir vielleicht nachsehen konnte. 
„Mann, müssen sie voll gewesen sein“, lachte der jüngere Beamte. Es handelte um einen blonden, mäßig attraktiven Mittdreißiger mit einer kleinen Narbe an der rechten Augenbraue. 
„Breit wie ein Fußballplatz“, grinste der Ältere. Sein kahler Schädel, der in fataler Weise einer Bowling-Kugel glich, reflektierte das Sonnenlicht. Ich schloss meine Augen.

„Ihnen ist schon klar, dass wir sie wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses und zum Zweck der Feststellung ihrer Identität mit aufs Revier nehmen müssen“, betete der Junge seine juristische Litanei herunter. Es handelte sich um eine Feststellung. Keine Frage.

„Hören sie, Sie blonder Scherge ...“, begann ich. Aber dann begriff ich, dass dies meine Chance war, der inzwischen johlenden Menge auf anständige Art zu entkommen. Mein Wagen stand was-weiß-ich-wo, und den Bus konnte ich so wohl kaum benutzen.

„Hol mal die Decke aus dem Einsatzwagen“, kommandierte der Glatzkopf den Blonden. Der tat, wie ihm geheißen, und kehrte alsbald mit einer Art Aluminiumfolie zurück, in die ich mich einwickelte. „Wollen Sie nicht mal diesen dämlichen Cocktail-Schirm hinter ihrem Ohr entfernen?“, fragte er mich. Ich verstand nicht.
„Da! Hinter ihrem rechten Ohr!“, wiederholte er, sich die Schirmmütze über seine blonden Haare stülpend. Verwirrt griff ich an mein Ohr, und entfernte den Fremdkörper, der sich dort befand. Tatsächlich. Ein Cocktail-Schirmchen! So eins, von dem man die Spitze abbrechen und abwickeln konnte, um asiatische Schriftzeichen ... woran erinnerte mich das bloß? 
Es war nicht ganz einfach, sicher auf meinen Füßen zu stehen. Nach einigen Schritten wurde mir schwindelig, auch etwas übel. Der junge Polizist sprang mir zur Seite und stützte mich. "Käseweiß sind sie. Käseweiß! Geht's wieder?", erkundigte er sich mitleidig.
Ich nickte. Aber auch wenn er mich dadurch unterstützte, dass er meinen linken Unterarm stabilisierte, während ich mit der anderen Hand die Folie, die meine Blößen bedeckte, zusammenhielt, torkelte ich und schwankte, besonders, da der Weg ein kleines Stück bergauf ging. 

Wir erreichten den Streifenwagen. Mein blonder Freund half mir hinein, wobei er schützend die Hand über meinen Kopf hielt, damit ich ihn nicht am Wagendach verletzte. „Wo wohnen sie denn?“, erkundigte er sich. Und, seinem älteren Kollegen zugewandt, raunte er, „Vielleicht können wir dem Herrn die Blamage ersparen. Wir können doch nachsehen, ob er die Papiere zu Hause hat!“ Dann wandte er sich erneut mir zu und sah mich fragend an. 
„Jakob-Kaiser-Straße!"
„Mensch Frieder, so ein Zufall! Da waren wir doch vor 2 Tagen! Das ist doch die Straße, in der dieses Kind entführt wurde! Und in der der Vater jemandem vors Auto gesprungen ist! Erinnerst du dich nicht?“ Die Wangen des jungen Ordnungshüters waren vor Eifer ganz rot geworden. 
„Komm. Da fahren wir rasch hin!“

Obwohl der ältere Beamte, Frieder, also, eher gemächlich fuhr, hatte ich das Gefühl, dass wir an den Bäumen und Gebäuden dahinter, die wie ein überbelichtetes Foto wirkten, förmlich vorbeirasten. Es schmerzte in meinen immer noch lichtempfindlichen Augen, weswegen ich mich auf den kleinen Papierschirm konzentrierte, den ich nachdenklich öffnete und wieder schloss.

„Halt hier mal kurz an, bitte!“ Der Blonde berührte die Schulter des Kahlkopfs. „Hier gibt es die beste Erdbeermilch der Stadt! Soll ich dir was mitbringen? Oder ihnen?“



BOSHEIT FÜR ANFÄNGER  ( Plot Turn 3 )


Das konnte doch nicht wahr sein! Was war passiert? Sollte der bittere Geschmack, den ich beim Genuss der Erdbeermilch in Jürgens Gesellschaft als Erinnerung an Christines Attacke zu verspüren glaubte, doch real gewesen sein? 


Ich suchte die Spy App auf dem Display meines Smartphones. Nichts davon war zu sehen. Na gut, das hätte auch jemand löschen können, als ich bewusstlos war … was war mit Jürgen und mir? War das, von dem ich mir nie hatte vorstellen können, dass es mir mit einem Mann passieren würde, tatsächlich geschehen, oder war es nur ein Traum? Und vor allem: War ich jetzt wach? Oder handelte es sich hier nur um die Fortsetzung der durch psychotrope Substanzen hervorgerufenen Halluzinationen?


Der kahle Polizist hielt, der Blonde stieg aus. „Entschuldigung - darf ich bitte mitgehen? Ich muss etwas fragen. Es ist wichtig, glauben sie mir!“ 


„Ach! Ist es Ihnen eingefallen? Und warum sind sie verpackt?“ Die Tresenkraft im Laden sah mich überrascht, aber auch skeptisch an. Ich war vollauf damit beschäftigt, die Wärmefolie um mich herum möglichst geschlossen zu halten, besonders im Bereich der Körpermitte. Sie müssen wissen, dass Gott oder das Schicksal oder die Natur mich besonders reichlich … also, überdurchschnittlich bedacht hat. Ich bin es gewohnt, bewundernde Blicke und begehrliche Andeutungen auf mich zu ziehen. Hier jedoch hätte es eher gestört, und vom eigentlichen Thema abgelenkt. „Sie erinnern sich an mich?“, fragte ich hoffnungsvoll.

„‚Erinnern‘ ist gar kein Ausdruck“, stellte die junge Frau mit der appetitlich weißen, gestärkten Schürze fest. „Schließlich passiert es nicht täglich, dass ein Kunde das Geschäft betritt, zweimal Erdbeer-Milch bestellt, nur eine trinkt, Selbstgespräche führt und dann aus dem Laden stürmt, als wäre der Leibhaftige hinter ihm her! Und dann noch, ohne die 9 Euro zu bezahlen, die er schuldig ist! Und die der armen Mitarbeiterin, deren Lohn ohnehin kümmerlich ist, auch noch abgezogen werden!“

„Erinnern sie sich noch, wann das war?“ 

„Na klar! Vor zwei Tagen!“

„Und sie sind sicher, dass ich …“

„Wenn ich es ihnen doch sage!“


Ich nickte nachdenklich. Sie hatte die Situation überzeugend geschildert. 

Ich entdeckte in mir das dringende Bedürfnis nach den kleinen gelben Sonnen. Und wenn sie noch so sehr das Engegefühl in der Brust verursachten. Egal. Sie führten zu innerem Frieden, Harmonie, Ruhe. Sicherheit.


Die blonde Verkörperung der Staatsgewalt hatte den kurzen Dialog schweigend mit angehört. „Ich zahle die beiden Erdbeer-Milch für den Herren mit“, erklärte er der Verkäuferin. Und, mir zugewandt, fügte er ein „Wirklich mysteriös, was Ihnen da passiert ist!“ hinzu. 


Es stellte sich heraus, dass seine Frage, an welchen Moment ich mich denn klar erinnern konnte, nicht eindeutig zu beantworten war. Es war mir ja nichts irreal oder wie ein Rausch vorgekommen. Ich hatte alles als ganz wirklich in Erinnerung. Aber dennoch musste der Besuch der Milchbar mit Jürgen bereits unter dem Einfluß einer bewusstseinsverändernden Droge stattgefunden haben. Wer hatte sie mir verabreicht? War es der Kaffee bei Christine gewesen? Ich hatte nur einen Tropfen mit der Zunge aufgenommen, aber manchmal reichte eben auch ein Tropfen! Aber wenn das zutraf, dann gehörte ja bereits die Beschattung ihres Ex-Partners zu meinen Halluzinationen! Oder hatte die Wirkung der Chemikalie erst zeitverzögert eingesetzt? Oder hatte gar Jürgen .. nein, das konnte ich nicht glauben. Zudem war ich doch angeblich allein gewesen, mit meiner Erdbeer-Milch. Was letztlich bedeutete, dass er mir nichts hatte in mein Getränk schütten können. War denn alles eingebildet? Die Verfolgung? Die Begegnung? Der Kuss? Der bedrohliche Dialog zwischen Christine und Jürgen? Das Vitello tonnato? 


„So, da wären wir!“, stellte der Glatzkopf fest. 

„An ihrer Stelle würde ich ein heißes Bad nehmen, und ordentlich frühstücken!“, lachte der Blonde gutmütig. „Ach ja: Und ziehen sie sich was an! Auch wenn ihnen die Folie ausnehmend gut steht!“


Erneut lachte er über den kleinen Scherz, den er da gemacht hatte.

„Zu Befehl, Herr Wachtmeister!“, entgegnete ich schmunzelnd und salutierte, woraufhin mir die Folie entglitt und den Blick auf etwas freigab, dass dem jungen Beamten ein spontanes „Donnerwetter!“ entlockte. 

„Wenn Sie mal Zeit haben - vielleicht können wir mal eine Erdbeermilch miteinander trinken? Ich schulde Ihnen ohnehin noch 9 Euro!“


Er sah mir tief in die Augen. Dann öffnete er die Brusttasche seines Hemdes, beförderte eine Visitenkarte ans Tageslicht und reichte sie mir. „Wenn sie sachdienliche Hinweise haben - das ist meine Durchwahl. Und sollte ich nicht am Platz sein, fragen sie nach Jan. Jan Dammfink. Polizeiobermeister.“ 

„Daran habe ich nicht einen Moment lang gezweifelt.“

„Woran?“ Er wirkte erstaunt.

„An dem ‚ober‘!“


Fast zeitgleich brachen wir in hemmungsloses Gekicher aus. Als ich die Haustür erreicht hatte, blickte ich zurück. Jan stand noch da, tippte zum Gruß mit zwei Fingern der rechten Hand an den Schirm seiner Dienstmütze, und stieg in den Wagen. 


Ich musste Christine sehen. Heute noch. Es ließ mir keine Ruhe. Ich konnte die Realität nicht mehr von fantastischen Hirngespinsten unterscheiden. Was war wirklich passiert, was bildete ich mir ein? Ich verschlang drei meiner kleinen gelben Sonnen und wartete, wie üblich, darauf, dass das Atmen wieder leichter und der enge Gürtel, der sich um meinen Brustkorb gelegt hatte, lockerer wurden. Ich wählte ein lichtblaues Polohemd zu einer anthrazitfarbenen Jeans, das meine Augen zur Geltung brachte. Zudem war es die ideale Kombination zu meinem Teint.


Ein Klirren schreckte mich aus meinen Gedanken auf. Es hörte sich nach einer Glasscheibe an, die unter akuter Gewalteinwirkung zerbarst. Ich sah aus dem Fenster. Mein Blick fiel auf einen ca. 10jährigen, blonden Knaben in rotem T-Shirt, den eine Nachbarin, ihn am Ohr festhaltend, seinem Vater vorführte, der in legeren, ausgebeulten pastellbraunen Cordhosen, pastell-grünlichem Hemd, und beiger, ausgeleierter Strickjacke, auf der Straße stand …. Mir wurde schwindelig. Ich klammerte mich am Fensterbrett fest. Was zum Teufel … ? 



Ja, hier endet die Erzählung. Das hier wollten so wenig Leute lesen ( leider bekomme ich immer Statistiken auf meiner ‚Peik Volmer Autor‘ - Facebookseite ), dass ich es sinnlos fand, das Ding fortzusetzen. Ist ja auch nicht wirklich mein Thema. Meinen Protagonisten alles Gute!