Für immer wir ... na so ein Kitsch! 

"Haben Sie schon gehört? Der Kleinert soll pleite sein und sich umgebracht haben! ... Ein Bund Radieschen, und sechs von den italienischen Tomaten, bitte!" 
"Was? Der Kleinert? Der Laden war doch immer voll! Das brummte doch nur so!" 
"Tja, da wird die Gnädige Frau jetzt wohl kleinere Brötchen backen! Die trug die Nase ja immer ziemlich hoch!" 
"Jaja, Hochmut kommt vor dem Fall, da ist schon was dran! Er war ja immer nett, obwohl ... nett? Naja: Geschäftsmann, eben. Aber sie ... ein Drachen!" 
"Ach wissen Sie, solche Leute gehen nie unter! Die schwimmen immer oben, wie Fettaugen auf der Hühnersuppe, das hat schon meine Mutter, Gott hab sie selig, oft gesagt .... Was macht das? 4 Euro 70, bitte sehr, Moment, ich hab's passend! Also: Entweder verkauft sie, oder der Sohn macht weiter, und vermutlich zahlt ohnehin die Versicherung." 
"So, ich muss dann. Mein Mann wird immer so schrecklich ungeduldig, wenn das Mittagessen nicht pünktlich auf dem Tisch steht! Bis zum nächsten Mal!" 
"Ja, auf Wiedersehen, grüssen Sie Ihren Mann schön!"

Der Zug stand zischend und dampfend auf dem Gleis 4 des langsam verfallenden, hässlichen Kleinstadtbahnhofs. Der Schalter für die Fahrkarten war geschlossen, die musste man aus einem leicht demolierten orangefarbenen Automaten ziehen. Die Fensterscheiben des Raums, der sich grossspurig 'Wartesaal' nannte, waren trüb und zersplittert, und beim Zustand der verdreckten Toilette hätte jede Klofrau freiwillig und frustriert ihren Job an den Nagel gehängt.

Es handelte sich um einen dieser schmutzigen Vorortzüge mit fast blinden Scheiben und nach altem Schweiss riechenden Kunstledersitzen, in der Luft lag der Qualm der Zigaretten, die Jugendliche verbotenerweise geraucht hatten. Aber, warum sollten sie sich auch an Regeln halten? Bei den letzten Stationen hatten die Schaffner meist keine Lust mehr, wegen der Fahrkartenkontrolle durch die Wagons zu gehen. Immerhin war an der Endstation Feierabend, und warum sollten man sich wohlmöglich noch über Kinder ohne Fahrschein ärgern, das brachte nur Schriftkrams mit sich, den man dann sofort zu erledigen hatte, und der einen vom  Heimgehen abhielt. 

Der Zug fuhr in die Stadt, die grosse, schöne, glänzende Stadt mit ihren Einkaufszentren und Restaurants, mit Kinos und Theatern, mit den glas- und chromblitzenden Hochhäusern und den erleuchteten Boulevards. Man konnte dort was erleben. Besser einkaufen. Man bekam alles sofort, ohne irgendetwas bestellen zu müssen, um dann mindestens eine Woche darauf zu warten. Hier gab es maximal den Supermarkt, das leicht heruntergekommene Kino, dessen grossspurige Bezeichnung als 'Lichtspielhaus' von längst vergangenem Glanz kündete. Das kleine Café, das eigentlich zur Bäckerei Gräber gehörte und in dem sich die Schulschwänzer aufhielten, um verbotenerweise Kaffee mit Schlagsahne und einem Schuss Whisky zu trinken, der auf der bescheidenen, laminierten Karte als 'Pharisäer' geführt wurde. Ach ja, die Oberrealschule und 'Rainers Grillimbiss' fand man hier auch. Rainers halbe Hähnchen waren offenbar eines natürlichen Todes gestorben. Und bei seinem Jägerschnitzel, das, überreich in Paprikaketchup ertränkt, politisch unkorrekt "Zigeunerschnitzel" hiess, übernahm er sich meist mit der Panade. Die Pilze kamen aus der Dose, aber wenn man Hunger hatte ....

Kai hatte im Reisebüro eine Fahrkarte gekauft, nein, danke, einfache Fahrt, 2. Klasse, erstmal bis in die Stadt, von da sehen wir weiter.  

Er hatte die Schnauze voll. Seine Mutter hatte ihn immer gewarnt. Er sei zu gutmütig, könne sich nicht durchsetzen, gebe zu schnell nach. 
"Du bist gar kein richtiger Mann, genau wie dein Vater. Der war auch so ein Schwächling. Wenn man dem nicht sagte, was er zu tun hatte, wäre er vermutlich verhungert." 

Kai dachte an seinen Vater, den ruhigen, freundlichen Hannes, der niemals seine Stimme erhob, niemals schimpfte, nie schlecht über jemanden sprach. Seine Mutter hatte ihm oft Vorwürfe gemacht. 

"Wenn du einmal, nur einmal deine Ellenbogen benutzen würdest, wie die anderen. Aber du bringst es zu nichts. Alle anderen um dich herum sind befördert worden, oder sonst irgendwie reich, oder zumindest wohlhabend und einflussreich, sogar der Mann von Rosemarie Meinck, und der ist wirklich ein Idiot." 

Ich bin auch so ein Idiot, dachte Kai, aber ich lasse es mir nicht gefallen. Ich habe die Schnauze voll, ich haue ab. Und Katja? Egal. Auch wenn es weh tat. Aber sie hatte ihn verarscht. Mit seinem besten Freund Sören. Nicht nur einmal. Die Wahrheit hatte er nach und nach herausgefunden, und sie mit allem konfrontiert. Sie hatten trotzdem weitergelogen, beide, und sich immer weiter in ihrem Lügengespinst verfangen. 
Schluss. Aus. Er fühlte sich verlassen. Erst sein Vater. Dann Katja und Sören.

Franziska freute sich auf das vor ihr liegende freie Wochenende. Ihre Arbeit als Krankenschwester auf der Chirurgischen Station der Städtischen Krankenanstalten würde heute jemand anderes tun müssen, sie hatte so viele Überstunden angesammelt, die sie jetzt abbummeln wollte. Sie würde sich in der Stadt mit ihrer Freundin Raffaela treffen, sie planten, zu shoppen, was essen zu gehen. Dann ins Café. Und danach vielleicht ins Kino.  Wenn die Kraft dann noch reichte, Tanzen, schicke Clubs gab's ja in Hülle und Fülle, wer konnte es wissen. Am Folgetag wollte sie die Familie ihres Verlobten, Lukas, besuchen, die in einem Dorf im Umkreis lebte. 

Sie hatte eine kleine Reisetasche gepackt und das Notwendigste für eine Übernachtung dabei. In ihrer Vorstellung existierte, wie immer, noch keine präzise Idee von ihren Einkäufen, sie würden durch die Geschäfte streifen, mal sehen, was es so gab, die neuesten Trends, anprobieren, lachen, sich beraten lassen, Verkäuferinnen zur Verzweiflung treiben, um dann doch nichts zu kaufen. 

Franziska war in allerbester Laune. Sie hatte die Ohrhörer ihres iPod in die Ohren gestöpselt und hörte ABBA, ziemlich retro, und voll die 70er, irgendwie, aber sie mochte die Musik. Zu "Dancing Queen" summte sie mit, machte einige Tanzschritte, eine Drehung, wieder einige Tanzschritte auf dem Bahnsteig 4. 

Der Zug stand zischend und dampfend da, sie war allein auf dem Bahnsteig 4. Nein, doch nicht. Da sass jemand auf der Bank. Der dunkelgelockte Junge kam ihr bekannt vor, vom Sehen, aber in einer so kleinen Stadt war das nicht weiter verwunderlich. Es war ein hübscher Junge, Dreitagebart, eine schmale, feine Nase, grosse, dunkle Augen, eine schlanke Figur, Jeans, rostroter Pullover über dem T-Shirt. Weiße Turnschuhe, ein Kurzmantel mit Stehkragen in Pfeffer-und-Salz-Optik. Er schien sie gar nicht zu bemerken. Stur blickte er geradeaus. Noch 20 Minuten bis zur Abfahrt des Zuges. Sie vermied es, ihn direkt anzusehen, lief aber wie zufällig vor ihm auf und ab wie ein Model auf dem Laufsteg, hin, kurzes, kokettes Posing, Drehung, zurück, erneutes Posing, dann erneut hin. Dabei warf sie mutwillig den Kopf mit dem Schwall blonder Haare zurück. 

Er jedoch zeigte sich völlig unbeeindruckt, jetzt sah er sogar auf seine Uhr. 

Primitives Balzverhalten. Hatten sie das nicht mal in Biologie gelernt? Irgendwie hatte das was mit Atavismus oder Ethologie zu tun ... Dies Mädel hier versuchte doch deutlich, um nicht zu sagen, verzweifelt, seine Aufmerksamkeit zu ergattern. Das hätte sie wirklich geschickter anstellen können, so hübsch, wie sie war! Wie die sich benahm, würde sie vermutlich splitternackt durch die Stadt laufen, um irgendeinen Kerl aufzureissen. Wie affig ihre Kopfbewegungen waren, wie die Frauen in der Shampoo-Werbung, um zu zeigen, wie seidig das glänzende Haar fliesst, alles im Computer nachbearbeitet, blöd. 

Dabei war sie wirklich attraktiv, sehr attraktiv, sogar. Klasse Figur, schlichte, schwarze Hose, weiße Bluse mit Spitzenbesatz, ein cremefarbener Mantel und ein graugemusterter Seidenschal, passend zu dunkelgrauen, schlichten Stiefeletten. Aber dann diese billige Kopie einer Louis-Vuitton-Tasche! Bestimmt ein Mitbringsel aus dem letzten Türkei-Urlaub. Albern! Katja war auch immer auf diese zweitklassigen Blender abgefahren. Sie besass einen ganzen Stapel kopierter Shirts mit Krokodil, eine falsche Ray Ban-Sonnenbrille und die plumpe Fälschung einer Chanel-Tasche. Aber billig war ja wohl ohnehin ihr Ding, sonst hätte sie sich wohl kaum mit seinem besten Freund Sören auf eine so primitive Geschichte eingelassen...

In der Zwischenzeit waren etliche Fahrgäste eingetroffen und hatten die jeweiligen Waggons bestiegen. Auch Franziska kletterte nun in den Zug, stellte ihre Tasche in einem Abteil auf die Gepäckablage und setzte sich auf den Fensterplatz. 
"Entschuldigung, kann das sein, dass Sie auf meinem Platz sitzen? Ich habe eine Reservierung!" 
"Mein Gott, nun haben Sie sich doch nicht so! Hier, der Mittelplatz ist noch frei!" 
Franziska klopfte mit der flachen Hand auf den Sitz neben sich. Kai runzelte die Stirn und sah düster drein. 
"Ich mag die Mittelplätze nicht. Deswegen reserviere ich. Also: Darf ich bitten?" 
"Unhöflich. Ich nenne es unhöflich. So behandelt man keine Dame." 
Abrupt erhob sich Franziska, sah Kai schmollend an, und liess sich auf den Mittelplatz fallen. 
"Und? Zufrieden?" 

Wortlos setzte Kai sich auf den nunmehr freien Fensterplatz. Ihm gegenüber schlief ein älterer Herr, auf den Plätzen an der Tür hatte eine Mutter mit ihrem kleinen Sohn Platz genommen. Der Mittelplatz Franziska gegenüber war leergeblieben. Franziska legte nunmehr beide Arme auf die Lehnen, die ihren Sitzplatz rechts und links begrenzten, und stieß dabei gegen Kais linken Arm. 
"Nun machen Sie sich hier mal nicht so breit! Das ist meine Lehne!" 
Franziska wechselte ihre Taktik. Lieblich lächelnd fragte sie: "Sagen Sie bitte: Was ist ihr Problem?" 
Kai sah sie verdutzt an.
"Mein Problem? Ich habe kein Problem. Ach doch, wo Sie es jetzt sagen: Ich habe eins. Sie!" 


( Gestern Abend, auf einer Fortbildung, sass ich auch neben einem Herren, der sich sehr breit machte und mich ununterbrochen strafend ansah. Grauenvoll, diese Leute, die einem den eingenommenen Platz im Leben streitig machen möchten. 
Ja, so fängt er an, mein Kitschroman. Eigentlich müsste er am Kiosk auf dem S-Bahnsteig € 1,80 kosten und Sie auf der Fahrt zum Dienst oder ins Büro begleiten. Was? Sie benutzen keine öffentlichen Verkehrsmittel? Ich auch nicht. 
Franziska und Kai schon. Ob sie sich die ganze Fahrt über streiten werden? )



"Ich? Ich bin ihr Problem? Das darf doch nicht wahr sein! Ich bin der netteste und friedfertigste Mensch unter der Sonne! Da können sie ja nun wohl so ziemlich alle fragen, die mich kennen! Ausserdem sind sie doch hier wie ein Panzer hereingerauscht und beschimpfen alle!" 
"Ich habe niemanden beschimpft. Ich habe nur auf dem für mich reservierten Platz bestanden! Wo sind sie denn nett und friedfertig?"
 
Franziska hielt kurz inne, dann setzte sie erneut ein freundliches, wenn auch etwas gequältes Lächeln auf.
 
"Franziska Tauber, angenehm! Meine Freunde sagen auch Fränze zu mir! Und mit wem habe ich das Vergnügen?" 
"Kai Kleinert. Und alle sagen 'Herr Kleinert' zu mir!"

Fränze konterte mit ironischem Unterton. Seine Ruppigkeit überhörte sie. 

"Ich freue mich, sie kennenzulernen, Kai! Wollen wir uns nicht vertragen? Ist das mit dem Sitzplatz denn wirklich so ein Drama? Wenn sie sich hinter einer derartig mürrischen Fassade verstecken, überspielen sie doch etwas, oder? Haben sie Kummer? Sie wirken so bedrückt! Wollen sie sich nicht aussprechen? Das hilft manchmal!"

Autsch! Treffer! Das hatte gesessen! Sie hatte ja nicht gerade Unrecht mit Ihrer Annahme. War er denn so leicht zu durchschauen? Dies Mädchen war entwaffnend in ihrer Offenheit. Nett und friedfertig? Ja. Das stimmte wohl.

Sie sprach jetzt ernsthaft, geduldig und mit Nachsicht.
 
"Kommen Sie schon: Frieden. Oder wenigstens Waffenstillstand." 

Kai lachte bitter auf. 

"Ich - mich aussprechen? Bei ihnen? So verzweifelt kann ich gar nicht sein. Warum sollte ich das tun?"
"Vielleicht, weil sie niemand anderen haben, als mich. Mit ihrem unhöflichen und aggressiven Verhalten verjagen sie bestimmt alle!" 

Treffer - versenkt! dachte Kai.

Der Zug fuhr an. Die flache Landschaft begann, am Fenster vorbei zu gleiten, immer schneller, bis die Konturen der neben den Gleisen stehenden Bäumen zu einem unscharfen, grün-braunen Band verschmolzen. Gelegentlich wurde die etwas eintönige Szenerie durch ein Bauerngehöft, eine kleine Schafherde, durch einen Bahnhof unterbrochen. 

Kai war nachdenklich geworden. Franziska hatte recht. Sie hatte ihn auf Anhieb durchschaut. Irgendwie war ja seine Prinzipienreiterei auch Quatsch. Dieses Friedensangebot! Er unterdrückte ein Lächeln und schüttelte den Kopf. Einerseits naiv, aber irgendwie auch bestechend aufrichtig und geradeheraus. Sie hatte ihm angeboten, sich mal auszusprechen. Warum eigentlich nicht? Er war schon oft in seinem Leben Situationen begegnet, in denen er sich jedem beliebigen Fremden eher hätte öffnen können als den Menschen, die er liebte, oder die ihn kannten. 
Merkte man ihm seine Sorgen denn wirklich an? Er war wohl doch ein ziemlich lausiger Schauspieler! 

Dabei, wenn er ehrlich zu sich selbst war, hatte sie sogar recht. Er hatte wirklich niemandem, mit dem er seine Sorgen teilen konnte. Unhöflich und aggressiv ... scheisse, das war er doch gar nicht. 

"Also, Frau Tauber ..." 
"Fränze", korrigierte Franziska beharrlich. 
"Ich denke wirklich, daß diese Unterhaltung nicht zu zwei sich völlig fremden Menschen, die sich zufällig im Zug getroffen haben, passt." 

Da hatte er Wasser auf ihre Mühlen gegossen. Oder Öl ins Feuer? 

"Völlig fremd? Wer ist denn hier völlig fremd? Kai - Fränze, Fränze - Kai. Schon klar: offenbar gehört es zu ihrem Image, den Groben und Unfreundlichen zu geben, was sie bestimmt nicht sind, ich dagegen verhalte mich jedermann gegenüber nachgiebig und charmant. Wo sind wir uns denn fremd? Wir sind hier, fahren noch mindestens eine Dreiviertel Stunde, und dann steigen wir aus und sehen uns nie wieder. Was kann passieren? Ausserdem: Tun sie doch nicht so, als ob sie ihre Probleme regelmäßig mit ihren guten Freunden diskutieren. Haben sie überhaupt gute Freunde?" 

Kai schwieg. Mit seinen dunklen, traurigen Augen schien er einen in weiter Ferne liegenden Punkt zu fixieren. Katja und Sören ...
Am ersten Halt, den der Zug machte, stiegen Mutter und Sohn aus. Der Mitreisende schlief weiter und schnarchte leise. 

"Nein, habe ich nicht. Nicht mehr, jedenfalls", erwiderte Kai plötzlich leise. 
"Aber so werde ich wenigstens nicht enttäuscht." 

Dann sprudelte es voll Verbitterung aus ihm heraus.

"Freundschaft, Liebe, Vertrauen ... das ist doch alles nur hohles Geschwätz! Du wirst mit grossen, unschuldsvollen Augen angeschaut, man versichert dir, dass alles in Ordnung ist, Liebe und Treue auf ewig, und noch schlimmer, der Mensch, mit dem du im Sandkasten gespielt hast, mit dem du Äpfel beim Nachbarn geklaut hast, die Schule geschwänzt und Fussball gespielt hast, hintergeht dich und belügt dich."

Franziska verstand. Impulsiv ergriff sie Kais Hand. Sie erfasste die Situation sofort. Sie sah in sein gequältes Gesicht und spürte, was ihn so unglücklich machte. Etwas ähnliches hatte auch sie schon erlebt.
"Das tut mir sehr leid, Kai", brachte sie leise hervor. 
"Deine grosse Liebe und ein Freund von dir?" 
"Meine erste grosse Liebe, und mein bester Freund." 
"Autsch! Das tut weh! Jetzt verstehe ich, warum du so mürrisch bist! Wie ist es denn passiert?" 
"Ich Idiot habe die beiden sogar noch miteinander bekannt gemacht und mich darüber gefreut, dass die Menschen, die mir am wichtigsten waren, sich so gut verstanden. Irgendwann, als der Akku meines Handys leer war, lieh ich mir Katjas aus, und während ich telefonierte, kam eine SMS von Sören. Er schrieb: 'Wann können wir uns treffen, wann kannst du ihn abschütteln', sowas in der Art. Ich habe Katja das Handy zurückgegeben, so getan, als hätte ich nichts bemerkt, und die beiden dann sozusagen in flagranti erwischt." 
"Und was hat Sören, das du nicht hast?" 

Komisch. Es ging ihm besser. Er fühlte sich verstanden. Fränze hielt immer noch seine Hand. 

"Das habe ich mich auch gefragt, immer wieder. Das einzige: Er hat mehr Geld als ich, stammt aus gutem Haus. Das Geschäft meines Vaters ist pleitegegangen, Papa war kein guter Geschäftsmann, nur ein guter Mensch. Aber das zahlt sich nicht aus, und auch nicht die Schulden. Er hat den Kunden Rechnungen gestundet, obgleich er die eigenen Verbindlichkeiten nicht 'bedienen' konnte, grässlich, dieses Bankdeutsch. Erst kam das Finanzamt, dann stand die Sparkasse auf der Matte ... das war alles zu viel für ihn." 
"Was ist passiert?" 
"Er ist beim Schwimmen ertrunken. Angeblich ein Unfall. Ich weiss aber sicher, daß es Selbstmord war. Weisst du, was meine Mutter als Erstes sagte, als sie davon erfuhr?" 
"Was?" 
"Er hätte wenigstens eine Lebensversicherung abschließen sollen. Das war alles. Nur der Satz mit der Lebensversicherung. Keine Träne, kein Wort des Bedauerns." 

Kai hatte sich richtig in Fahrt geredet. 

"Und jetzt halte dich fest: Er hatte eine abgeschlossen. Deswegen hat er seinen Tod wie einen Unfall aussehen lassen, bei Selbstmord hätten die nicht gezahlt." 
Tränen liefen über Kais Gesicht. Fränze hatte, während er sprach, ihn erst ungläubig, dann fassungslos angesehen. Sie liess seine Hand nicht los.

"Ach Mensch Kai, was du hast aushalten müssen!" 

Sie war sehr ernst geworden und sah ihn aus ihren dunkelblauen Augen an. Kai befreite sich aus ihrem Griff und öffnete die Abteiltür. 

"Wo willst du hin", fragte sie. 
"Ich brauch' mal eben frische Luft und etwas Bewegung", entgegnete er. 

Gedankenversunken sass Fränze auf ihrem Platz. Kais Erzählung... seine Worte wirbelten in ihrem Kopf herum. Ja, sicher, auch sie hatte sich damals aus ihrer Beziehung verabschiedet. Nachdem sie bemerkt hatte, dass er in jemand anderen verliebt war, suchte sie mit ihrem damaligen Freund die Aussprache. Nie wäre ihr, schon aus Bequemlichkeit, eingefallen, zu lügen oder zu betrügen. Sie hatte dann auch wieder jemanden kennengelernt, sich aber dann bald wieder getrennt. Es war einfach alles zu schnell gegangen. Mit ihrer alten Partnerschaft hatte sie damals noch nicht abgeschlossen. Und dann kam Lukas ... 

Kai. Dieser Dussel. Er war sensibler, als er auf den ersten Blick wirkte. Vermutlich ähnelte sein Charakter dem seines Vaters. Dieser hatte Selbstmord begangen. Fränze schüttelte sich. Etwas wie Selbstmord war für sie völlig unvorstellbar. Sie war jung, hübsch, lebenslustig, und wie ihr verstorbener Vater immer gesagt hatte, "173 cm Schabernack und Energie". 
Selbstmord ... Wie lange war Kai eigentlich schon weg? Und warum kam er nicht endlich zurück?

Kai war zu den Toiletten gegangen, die sich kurz vor der Zugtür an der Kupplungsstelle zweier Waggons befanden. Seine Gedanken kreisten wie ein immer schneller werdendes Karussell in seinem Kopf, er hörte Katjas entschuldigende, Sörens beschwörende Stimmen, dazwischen das höhnische Keifen seiner Mutter, "Du bist wie dein Vater!" 
Wie mein Vater, wie mein Vater ... der gleichmässige, monotone Takt der Räder auf den Schienen gab den Rhythmus vor. Er öffnete die Aussentür, der Fahrtwind liess sein dunkles, lockiges Haar fliegen und zerrte an seinem Mantel. Mit der einen Hand hielt er die Tür, mit der anderen hielt er den Haltegriff umklammert. Er stand gefährlich dicht an den gitterartigen Stufen ... 
"KAI!" 
Fränze hatte ihn am Ärmel gepackt und zog ihn mit aller Kraft weg von der Tür, die, plötzlich losgelassen, sich von selbst schloss. 
"Was um Gottes Willen sollte das?" 
Er stammelte irgendetwas von erschrecken, und dass er leicht aus dem Zug hätte fallen können. Sie nahm ihn in den Arm. 
"Idiot!" sagte sie leise. 
"Erst mit mir um den Sitzplatz streiten, und dann aus dem Zug springen. Blöder gehts nicht." 
Sie führte Kai zum Abteil zurück, das inzwischen bis auf die zwei leer war. Bleich und zitternd sank Kai auf seinen Platz. 
"Danke", sagte er. 

Der Zug lief ein, Hauptbahnhof, bitte alle aussteigen, der Zug endet hier. Kai half Fränze, die Tasche aus der Gepäckablage zu nehmen. 
"Schlechte Kopie. Türkei - oder Gran Canaria?" fragte der junge Mann, der schon wieder Oberwasser zu haben schien.
"So sind sie, die Kerle", seufzte sie. 
"Kaum geht es ihnen besser, werden sie frech! Das ist natürlich ein Original! Du hast keine Ahnung!" 
Sie strahlte ihn an. 
"Was hast du vor?" 
"Ich habe keinen Plan. Rumlaufen, auf andere Gedanken kommen. Was machst du?" 
"Ich treffe mich mit einer Freundin, und morgen mit der Familie meines Verlobten, wie ich da allerdings hinkommen soll, weiss ich noch nicht, sie wohnen auf dem Land, und es gibt kein öffentliches Verkehrsmittel, was mich dort hinbringt. Wo hab ich bloss den Zettel mit der Adresse?" 

Er sah ihr erstaunt beim Kramen in ihrer Handtasche zu. Sie hatte ihm gut getan. Er fühlte sich etwas freier. Und jetzt ... 
Er zwang sich zu einem Lächeln. 

"Du bist verlobt?"

( Ich kenne dies Gefühl. Das gibts wirklich. Etwas belastet einen, und man würde gerne mit jemandem reden, denn geteiltes Leid ist ja bekanntlich halbes Leid. Aber irgendwie geht das nicht. Man ginge lieber auf jemand Unbekanntes in der Fußgängerzone zu, hielte ihn fest, und schüttete ihm sein Herz aus. Naja, hier hat es ja auch funktioniert. Wozu Bahnfahrten manchmal gut sind! 
Ach Mensch, wie schade! Fränze ist schon vergeben! Ich hätte Kai wirklich gewünscht, dass er eine Frau kennenlernt, die ihm den Rücken stärkt. Wie fühlt man sich, wenn man von der eigenen Mutter niedergemacht wird ... du bist wie dein Vater ... ich kann dazu nur sagen, lieber wie dein Vater, als wie deine Mutter, Kai!


"Ja, warum nicht?" 
Kai wirkte etwas enttäuscht. 
"Ach, nur so..." 
Er sah wie ein kleiner Junge aus, dem man den Strom für die elektrische Eisenbahn abgeschaltet hatte.
"Kai, darf ich dir noch einen Rat geben?" 
"Das kommt auf den Rat an." 
"Im Ernst: du musst mit Katja und Sören abschliessen. Am besten mit einem Ritual, oder so. Nimm ein Foto von den beiden, verbrenne es und spül es die Toilette herunter. Schlicht, aber wirkungsvoll, glaub mir." 
"Bei nächster Gelegenheit! Das Foto trage ich zur Zeit nicht mit mir herum, das wäre ja wohl noch schöner! Sag mal: Warum mietest du keinen Wagen und fährst zur Familie deines Verlobten?" 
"Selbst auf die Gefahr hin, daß du dich kaputtlachst, aber: Ich habe keinen Führerschein!" 
"Wie bitte?"
"Ja, ich hab keinen Führerschein. Glotz nicht so! Ich bin zweimal durch die Prüfung gefallen, und ich Trau mich nicht, mich wieder zu blamieren!"
Kai lachte herzhaft. Tat das gut! Es kam ihm so vor, als hätte er jahrelang nicht mehr so gelacht! In dieser Sekunde hatte er sich verliebt. Aber das wusste er noch nicht. 
"Soll ich dich fahren?" 
"Das würdest du tun?" 
"Ich schulde dir was, oder?" 
Franziska jubelte innerlich. Äusserlich blieb sie gelassen. 
"Nein. Aber ich nehme deinen Vorschlag dankend an!"

Raffaela trug Jeans und einen orangefarbenen Pullover, unter den sie ein weisses T-Shirt gezogen hatte. Ihre glatten, schwarzen Haare hatte sie erst kürzlich zum Bob umgestalten lassen, unwillkürlich griff sie immer noch nach den nicht mehr vorhandenen Strähnen ihrer Langhaarfrisur.

"Komisch, nicht? Ich hab mich immer noch nicht daran gewöhnt! Hallo Franziska!"

"Mensch Ela, wir haben uns so lange nicht mehr gesehen! Du siehst toll aus! Wie machst du das nur, so schlank zu bleiben? Ich denke an Essen und nehme zu!" 
"Fränze, Süsse, glaub mir, es ist ein harter Kampf, aber, die Konkurrenz schläft nicht! Na gut! Worauf hast du Lust? Willst du die Kreditkarte direkt zum Schmelzen bringen, oder sollen wir hier in der Passage uns verbotenerweise einen Eisbecher genehmigen?" 
"Oh ja, Nervennahrung! Das kann ich jetzt sehr gut gebrauchen, und der Tag ist noch lang!" 
Fränze berichtete ihrer Freundin von der seltsamen Begegnung im Zug. 
"Fränze, mein Schatz, wie lange kennen wir uns eigentlich?" 
"Sehr lange, glaube ich." 
"Genau. Ich rate zur Vorsicht! Ich kenne diese roten Flecken auf deinen Wangen, die man durch das Make-up hindurchsieht. Die kommen bei dir immer dann, wenn du dich verguckt hast oder verliebt bist. Deswegen betrachte ich es als Freundinnenpflicht, dich an deine Verlobung zu erinnern. Lukas ist etwas langweilig für meinen Geschmack, aber das hätte er nicht verdient." 
"Liebe Raffaela, du siehst Gespenster. Du weisst, dass mein moralisches Rückgrat einer Registrierkasse ähnelt, also kein Grund zur Sorge. Im übrigen wird Kai mich morgen sogar zu Lukas' Familie fahren. Alles ganz offiziell und ohne Heimlichkeiten!" 
Ela sah Franziska mit hochgezogener rechter Augenbraue an. "Schade! Nichts ist so schön wie Schmetterlinge im Bauch, oder?" 

Kai suchte am Bahnhof im Tourismusbüro eine preiswerte Unterkunft und besorgte sich ein paar Waschutensilien; auf eine Übernachtung war er nicht eingestellt, aber irgendwie freute er sich darauf, Fränze wiederzusehen. Diese tiefblauen Augen, wie Ozeane! Und wenn sie lachte, hatte sie Grübchen. Und auf der Nase ziemlich freche Sommersprossen. 

Er kicherte erneut. Die Sache mit dem Führerschein war wirklich zu komisch! 
Eine alte Frau, die ihm entgegenkam, sah ihn erschrocken an. Das Gespräch hatte ihm gut getan, sehr gut, sogar. Das hätte er nie erwartet. Er würde es allen zeigen. Er würde das Geschäft seines Vaters übernehmen und damit reich werden. Immerhin hatte er es geerbt, seine Mutter hatte zwar darauf bestanden, dass er es verkaufte, aber genau das würde er nicht tun. Gleich Anfang der Woche würde er sich um die Erstellung einer Homepage kümmern und das Ladengeschäft um den Handel im Internet erweitern. Dann musste er nur noch dafür sorgen, dass, wenn jemand bei irgendeiner Suchmaschine seine Produkte als Suchanfrage eingab, auf einem der ersten Plätze der Name Kleinert erschien. 

Kai Kleinert blickte endlich wieder optimistisch in die Zukunft. 

Der Erdbeerbecher war vorzüglich, die Eisschokolade reichhaltig. Raffaela stöhnte leise. 
"Kein Mittagessen, kein Abendbrot mehr. Nur ein Schlückchen verdünntes Wasser und vier - nein, besser nur zwei - Salatblätter!"
Franziska grinste satt. 
"Das war es wert, oder? Komm, die Kilos rennen wir uns doch gleich wieder ab, noch bevor sie auf den Hüften angekommen sind! Ausserdem scheinst du aus dem Kampf gegen die Kilos grundsätzlich als Siegerin hervorzugehen! Wird Zeit, daß ich auch mal gewinne!" 

In der Tat liessen die beiden kein Bekleidungsgeschäft und auch kein Schuhgeschäft aus. Sie probierten die hochhackigsten, waghalsigsten Pumps, die erotischste Unterwäsche, die eleganteste Oberbekleidung. Die Anzahl der Einkaufstüten steigerte sich beträchtlich im Halbstundentakt. 

"Oh mein Gott! Da ist ein Geschäft für Brautmoden!" 
Franziska stürzte mit einem heiseren Aufschrei auf die Eingangstür zu. 
"Ist das nicht leicht verfrüht?" fragte die Freundin lachend. 
"Merke Dir, Ela: Es ist nie zu früh, und nie zu spät! Schon als ganz kleines Mädchen habe ich, vermutlich wie jedes andere kleine Mädchen auch, meine Hochzeit geplant! Vom traumhaften Prinzessinnenkleid über das Brautbukett bis hin zur Dekoration auf der überaus mehrstöckigen Hochzeitstorte!" 

Lauter Fantasien, meist in Weiss, Elfenbein oder hellem Pink. Perlen und Pailletten, Spitze, Seide, Georgette, Tüll .... die beiden Freundinnen schwelgten in den Vorbereitungen der imaginären Hochzeit. 
Franziska sagte zu einem immateriellen Pastor, "Ja, ich will!", woraufhin Ela in stürmisches Gelächter ausbrach. 
"Darf ich fragen, wie in deinem Traum der Mann an deiner Seite aussieht?" 
"Natürlich so wie Lukas! Was hältst du von mir?" 
Ein Unterton gespielter Empörung schwang in ihrer Stimme mit. 
"Und warum bekommst du dann wieder diese roten Flecken?" 
"Ela, du siehst Gespenster. Außerdem, Lukas passt viel besser zu mir. Er ist grundsolide, die Familie ist nett, er wird den Hof erben." 
"Ja, und wenn er sich die Mistgabel in den Fuß sticht, hat er gleich die Krankenschwester in der Nähe, die die Wunde versorgen kann, nicht wahr?" 
"Nun sei doch nicht gleich so giftig! Ich werde vermutlich gar nicht mehr arbeiten müssen, Lukas meinte, wir würden zwei bis drei Kinder haben, um die ich mich dann kümmere, da ist er irgendwie noch alte Schule." 
Raffaela hatte sich einen Prospekt aus dem Ständer genommen und fächelte sich damit Luft zu. Es war wirklich recht warm im Laden.
"Das ist mal eine gute Idee. Gib nur deine Selbständigkeit auf und mach dich von einem Kerl abhängig. Sag mal, wofür bist du eigentlich zur Schule gegangen und hast einen Beruf gelernt, Fortbildungen und qualifizierende Maßnahmen auf dich genommen? Nur, um dein Leben mit Küche, Kirche und Kindern zu beenden?" 
"Naja, Kirche muß nicht unbedingt ... und wieso: Leben beenden? Sei doch nicht so negativ!" 
"Wart's ab, Fränze, mein Schatz! Lukas wohnt in einem kleinen Dorf, und ehe du dich versiehst, wirst du Mitglied im Sparclub, im Tauben- und Kaninchenzüchterverein, im Landfrauenverband, und deine einzige Abwechslung werden das Schützenfest, Erntedank und der Feuerwehrball sein. Du wirst mit den Nachbarinnen Kochrezepte tauschen und Lukas' Mutter wird dir demnächst alle Rezepte mit den Lieblingsgerichten ihres Sohnes aufhalsen und dir raten, schon mal Kochen zu üben! Ach ja: Und wenn du Sonntag nicht zum Gottesdienst erscheinst, wirst du vermutlich als Hexe auf dem Scheiterhaufen verbrannt!" 
Fränze lachte vergnügt. 
"Das klingt, als ob du jahrelang selbst auf einem Bauernhof in einer Dorfgemeinschaft gelebt hättest!" 
"Das nicht gerade, aber denke daran, daß wir beide aus einer Kleinstadt kommen und das Leben dort immer schon reichlich kompliziert fanden. Denkst du, auf einem Dorf wird das einfacher?" 
Fränze wurde nachdenklich. Sie wusste, das Ela recht hatte. 

Als junge Mädchen hatten sie unter der spiessigen Enge der Kleinstadt, in der jeder jeden kannte und jeder mit jedem irgendwie verwandt war, gelitten. Ununterbrochen hatten sie unter Beobachtung gestanden. 
Nun, Raffaela hatte es geschafft. In ihrem Beruf als Bankangestellte hatte sie eine Arbeit an einem Kreditinstitut in der Grossstadt gefunden. Franziska hatte sich um einen Ausbildungsplatz in verschiedenen Kliniken im Umkreis beworben, aber nur die Städtischen Krankenanstalten hatten ihr zugesagt und sie nach Ende der Ausbildung auch sofort übernommen. Lukas hatte sie als Enkel eines ihrer Patienten kennengelernt, der im Umkreis der Kleinstadt lebte. Opa Richard hatte sich bei einem Sturz die Hüfte gebrochen, und die musste durch ein künstliches Gelenk ersetzt werden. Lukas hatte seinen Grossvater besucht, dabei ein Auge auf die pfiffige, nette blonde Schwester geworfen, die sich so kompetent und einfühlsam um den alten Mann kümmerte. Sie waren ins Gespräch gekommen, Fränze hatte sich in den ruhigen, freundlichen, soliden jungen Mann verliebt, sich alsbald von ihrem damaligen Freund getrennt, und war dann von Lukas' Familie als künftige Schwiegertochter sozusagen vereinnahmt worden. Es war die unkomplizierte und ungekünstelte  Herzlichkeit, die sie bestach. Wenn sie mit Lukas und seiner Familie zusammen war, fühlte sich das so an, als sei es nie anders gewesen. Dies war auch der Grund, aus dem sie das Bild ihres zukünftigen Lebens sich bisher nicht so erschreckend vorgestellt hatte, wie Ela es jetzt zeichnete. Sie musste unbedingt den Führerschein machen. Zudem war es bis zur Hochzeit ja auch noch Zeit.

( So ein Mist! Franziska ist verlobt! Hätte sie das nicht eher sagen können? Und dann diese schräge Idee, zu ihrem Lukas JWD aufs Land zu ziehen? 
Als ich damals, zum Studium, nach Berlin ging, kam mir meine kleine Heimatstadt winzig und eng vor. Kein Schritt blieb unbeobachtet, ständig lief man jemandem Bekanntes über den Weg. In Berlin konnte man tagelang herumwandern, völlig anonym, frei. Und es war jede Menge los. 
Aber heute? Immer, wenn ich in der Grossstadt bin, frage ich mich, wie ich so viel Hektik ertragen konnte. Ständig wird was abgerissen und neu gebaut, Geschäfte kommen und verschwinden wieder, Menschen, die hasten und eilen, laute Geräusche, üble Gerüche. Nichts ist konstant, ausser dem Brandenburger Tor und dem KaDeWe. Die Grenze zum Wahnsinn lächelt greifbar nahe herüber.
Und wenn ich dann in mein sympathisches, ruhiges Dorf komme ... ja gut, dort findet man kein Highlife, aber Ruhe, und so etwas wie Geborgenheit. 
Aber Franziska ist bedeutend jünger. Mitte/Ende 20, schätze ich. Wird das gut gehen, so abgeschieden auf dem Land? )


Kai hatte in einem Schnellrestaurant eine vermutlich ungesunde Mahlzeit zu sich genommen und sich dann in sein schlichtes Hotelzimmer zurückgezogen. Das preiswerte Touristenhotel lag außerhalb des Stadtzentrums, sehr verkehrsgünstig, in der Nähe des Flughafens, an der Ausfahrt einer Autobahn. Es war blitzsauber, das Zimmer war funktionell spärlich ausgestattet, aber das Bad war zweckmäßig, und es gab einen Fernseher, in dem er sich durch die Programme zappte. Bei einer Dokumentation über die Geschöpfe der Tiefsee blieb er hängen und lernte etwas über Kraken und Quallen, Seespinnen und Stachelrochen, wirklich unheimlich, sogar ein wenig eklig. Im Anschluß daran lief ein kitschiger Fernsehfilm mit einer allzu bekannten österreichischen Schauspielerin, die ihm immer etwas auf die Nerven ging, da sie in wirklich jedem Film, der dort produziert wurde, mitzuspielen schien. 

Auf dem Bett liegend, dachte er an seine seltsame Begegnung im Zug. Er hatte Fränze zuerst aufdringlich und nervig gefunden, aber in ihrer humorvollen, direkten Art hatte sie es geschafft, daß er sich öffnete, und letztlich verdankte er ihr sogar sein Leben. Diese Grübchen, wenn sie lachte! Und diese unglaublich blonden Haare, die glänzten und schimmerten! Sie hatte so eine Art, den Kopf schief zu legen, wenn sie lächelte.  

'Erst mit mir um den Sitzplatz streiten, und dann aus dem Zug springen', hatte sie gesagt. 

Ja, wirklich blöde, nicht? Sag mal, warum bist du eigentlich verlobt? Findest du nicht, daß du gut zu mir paßt? Blöder geht's nicht, hörte er sie sagten, blöder geht's nicht! Dabei lachte sie und hielt den Kopf schräg. Plötzlich fand er sich in einer Kirche, mitten auf der ersten Bank, vor dem Altar ein Brautpaar vor einem Pfarrer. Die Braut kam ihm bekannt vor .... war das nicht Fränze? 

'Ich mag keine Mittelplätze, und die Braut ist reserviert!' rief er laut. Die Anwesenden, auch das Brautpaar, brachen in diabolisches Gelächter aus, das sich so anhörte, als habe ein übereifriger Tontechniker sich mit dem Unterlegen des Halls übernommen. Er versuchte, die Stufen zum Altar hochzusteigen, aber da war plötzlich eine Zugtür, hinter der die Landschaft rasend schnell vorbeiwirbelte. 
'Du Schwächling! Du bist genau wie dein Vater', kreischten die Räder des Zugs mit der Stimme seiner Mutter.

Als er schweißgebadet erwachte, lief der Fernseher noch immer. Immer die gleichen Nachrichten. Krise im Nahen Osten, Rede des russischen Botschafters vor der EU in Brüssel stößt auf Kritik, Bestechungsskandal in Italien, glänzender Sieg der amerikanischen Nationalmannschaft beim Internationalen Sportfest, schließlich die Fußballergebnisse und Tabelle. Im Wetterbericht wurde bedeckter Himmel mit örtlichen Aufheiterungen für die Region angekündigt.

Kai duschte ausgiebig, als wolle er nicht nur den Schmutz der Reise, sondern auch einige Erinnerungen fortspülen. Danach begab er sich zum Frühstücksbüffet. Donnerwetter. Mehr konnte man für den Preis von 10 Euro zusätzlich zum Zimmerpreis nicht erwarten. Kaffee, diverse Tees und Säfte, Wurst, Schinken, Hart- und Weichkäse, Obstsalat und Zerealien, Brot und Brötchen, Rühr- und gekochte Eier, letztere allerdings zu hart für seinen Geschmack. Offenbar wollte der Koch sichergehen, daß sieauch wirklich tot waren ... Honig, Marmelade, Butter, Margarine ... 

Also gestärkt, fragte er an der Rezeption nach einem Mietwagen, der nach einigen Telefonaten der netten jungen Frau nach einer knappen Stunde bereitstand. Er fuhr zum vereinbarten Treffpunkt.

Franziska und Raffaela hatten in einem der großen Multiplex-Kinos einen hochgradig schmalzigen, aber auch heiteren Liebesfilm gesehen. Raffaela hatte es mit einem Mineralwasser bewenden lassen, Franziska hatte sich ein Kindermenu bestellt, süßes Popcorn mit einem Plastikbecher, auf dem ein Motiv des gleichzeitig laufenden Animationsfilm abgebildet war. Auf dem Deckel des Bechers thronte eine kleine Figur aus diesem Film. 

Das Kino war gegen 22:30 Uhr zu Ende, und, etwas erschöpft durch die Ereignisse der letzten sechzehn Stunden, beschlossen die beiden, sich nunmehr ihrem Schönheitsschlaf hinzugeben. Ela teilte ihr großes Doppelbett mit der Freundin. Sie schwatzten noch ein wenig, viele Sätze begannen mit "Weißt du noch ...?", und sie kicherten und alberten herum wie die Schulmädchen.

Die junge Bankkauffrau hatte Fränze zum Treffpunkt gebracht. Sie blieben noch einen Augenblick im Wagen sitzen, und Raffaela gab ihrer Freundin gute Ratschläge, trug ihr diverse Grüße auf, sollte sie zufällig diesem oder jenem begegnen. Als sie Kai in seinem Mietwagen, einem neuen, feuerroten Opel Corsa, auf den Parkplatz neben dem Hauptbahnhof fahren sahen, nahm sie sie in den Arm und half ihr noch, die Tüten mit den Einkäufen umzuladen. 

Franziska stellte die beiden einander vor. 

"Das ist Kai, mein Zugbegleiter, und das ist Raffaela, meine bei weitem älteste und beste Freundin! Keine Angst, sie ist viel seriöser, als sie aussieht, als Bankangestellte!" 
"FRÄNZE! Den Begriff 'älteste Freundin' mußt du aus deinem aktiven Wortschatz streichen. Ich bin nicht alt, ich habe nur etwas mehr Vergangenheit. Und erzähle nicht jedem, daß ich bei einer Bank arbeite, das macht mich unsympathisch!" 

Sie lachte, drückte und küßte Franziska, winkte Kai fröhlich zu und fuhr von dannen. 

Kai wählte den Weg durch die Stadt zum südöstlichen Stadtrand. Über die Autobahn wäre es schneller gewesen, aber er wollte um jeden Preis den gemeinsamen Weg so lange wie möglich auskosten. An der Stadtgrenze fanden sie die Bundesstraße, die sie zur Landstraße führen sollte. Es war ein zauberhafter Weg. Einer Allee gleich, standen rechts und links Laubbäume, deren Kronen mitten über der Fahrbahn wie ein grünes Dach zusammenstießen und vereinzelt Sonnenstrahlen durchließen. An den Zäunen der in größeren Abständen errichteten Bauernhöfe hingen Schilder, die die Vorbeifahrenden darüber informierten, daß man hier Eier, Schinken, Äpfel und Kartoffeln für wenig Geld, biologisch einwandfrei, ökologisch korrekt und zudem noch direkt vom Erzeuger kaufen konnte.

Schweigend saßen sie so nebeneinander, bis Fränzes Stimme die Stille durchbrach.
"Wirklich sehr lieb von dir, Kai, daß du mir weiterhilfst. Lukas kann nicht kommen, ich hätte mit einem Vorortzug zu irgendeinem dieser trostlosen Orte hier fahren müssen, und von da mit dem Taxi weiter .... wenn es denn überhaupt hier ein Taxi gibt! Vermutlich hätte ich Anhalter bei einem Trecker spielen sollen!"

Kai amüsierte sich.

"Das ist doch aber sowieso deine Bestimmung, oder? Wenn du Lukas heiratest, wird aus dir eine tüchtige Bäuerin, die um 4 Uhr morgens aufsteht, den Hühnern die Eier stiehlt, die Melkmaschine an den Eutern der Kühe befestigt und die Schweine füttert!" 
"Nun fang du auch noch an", stöhnte Fränze entsetzt. 
"Ela hat mir schon die Hölle heiß gemacht und mir meine Zukunft in plastischen, düsteren Farben ausgemalt! Vielleicht kann ich ihn ja auch bewegen ... " 

Aber sie spürte, daß ihre Freundin und Kai die Situation richtig einschätzen. Der Hof, Lukas' Erbe, lag nun mal, wo er lag, und Lukas hatte Agrarwissenschaften studiert und arbeitete dort bereits als Jungbauer. Was sollte sie tun? Vor allem: der dunkle, blasse Mann mit dem Vier-Tage-Bart, der jetzt gerade neben ihr saß, bedeutete ihr von Minute zu Minute mehr. Liebe auf den ersten Blick? Nö. Wenn schon, dann wohl eher auf den Zweiten. Dummes Zeug, oder? Sowas gab's doch nur im Kino, in Groschenromanen oder ziemlich kitschigen Fernsehfilmen, für die die Wertung in den Programmzeitschriften immer den Daumen nach unten zeigten. 

Andererseits: Sein spontanes Vertrauen zu ihr, seine Geschichte, seine Hilfsbedürftigkeit machten ihn für sie ungeheuer attraktiv. Wenn man in uns Mädels die Mutter weckt, dachte sie. Da fallen wir doch immer wieder drauf rein! Außerdem war sie so etwas wie seine Lebensretterin. War man nicht für immer für den verantwortlich, dessen Leben man gerettet hatte?

Das Dorf, durch das sie jetzt fuhren, verfügte über einen Tante-Emma-Laden, eine kleines Café und eine Tankstelle. Sonst schienen nur Wohnhäuser die Hauptstraße zu flankieren. Nein, da, im Hintergrund, in einer Querstraße, entdeckten sie noch den Hinweis auf ein Pflanzencenter. Na prima. 
"Hier möchte ich nicht tot über'n Zaun hängen", sagte Kai düster. "Ich fand unser Städtchen immer schon reichlich provinziell, aber das hier schlägt ja wirklich dem Faß den Boden aus." 
"Weißt du, Kai, ich möchte dich die ganze Zeit schütteln und schreien, Dreh um, sofort, aber das geht so nicht! Ich kann das nicht machen! Ich bin mir wirklich total unsicher, was ich tun soll, um mich richtig zu verhalten. Ich brauche deine Freundschaft wirklich, Kai. Stehst du mir bitte bei?" 

Kai versprach, sein Bestes zu geben. 

Bald hinter dem Ort mit dem Pflanzencenter mußten sie auf die Landstraße abbiegen, die sie, nach scheinbar endloser Fahrt, zu einer kleinen Gemarkung führte, die im wesentlichen aus sieben Gehöften zu bestehen schien. "Nach den Erfahrungen eben hatte ich nicht angenommen, daß es noch schlimmer kommen kann", ächzte Kai trocken. 
"Ich habe mich getäuscht! Das hier ist der reine, unverfälschte Horror!" 

Franziskas sonst volle, rosige Lippen glichen einem schmalen Strich, auf ihrer glatten Stirn zeigten sich diverse Sorgenfalten. Seufzend sagte sie tonlos, "Hier, Nr. 4. Das muß es sein." 
Kai bog durch die Toreinfahrt auf den großen Platz ein, der von vier Gebäuden, von denen zwei Stallungen sein mußten, gebildet wurden. Er war mit Pflastersteinen ausgelegt, die mehr zum Wohnhaus hin, durch einen ausladenden, alten Kastanienbaum durchbrochen wurden. Zwischen Stall und Wohnhaus führte ein Weg, vorbei an einigen Scheunen, zu einem sehr nett angelegten, bunten Blumengarten. Jetzt öffnete sich die Tür des Hauses, und Lukas kam heraus und lief mit elastischen, langen Schritten auf die eingetroffenen Gäste zu.

"Franziska, Liebes!" Er umarmte sie stürmisch. "Du wirst dich freuen: Zur Feier des Tages ist Opa Richard auch angereist! Wir freuen uns alle so! Mama kann die Hochzeit gar nicht mehr abwarten!" 

Fränze lächelte verlegen. 

"Darf ich dir einen guten Freund vorstellen, Lukas? Das ist Kai Kleinert, er war so nett, mich herzufahren!" 
"Ich freue mich, dich kennenzulernen, Kai", lächelte Lukas freundlich, indem er dem Gast auf die Schulter klopfte. "Fränzes Freunde sind auch meine Freunde. Herzlich Willkommen!" 
Die Erwiderung Kais, er wolle nun nicht weiter stören und aufbrechen, ließ Lukas nicht zu. 

( Mitgehangen, mitgefangen ... ich erinnere mich an einen 60. Geburtstag, an dem ich für eine Bekannte den Alibi-Freund spielen mußte. Anstrengende Leute, und dann ununterbrochen die Fragen, wann, wo und warum wir uns kennengelernt hätten und wann die Hochzeit ... und dann ging dieser Abend überhaupt nicht zu Ende. 
Wenn man Opfer bringt, sollte man dies heiter tun. Mit Gelassenheit. Und wer weiß? Gegen eine Tasse Kaffee und ein Stück selbstgebackenen Kuchen ist doch nichts einzuwenden, oder? Ich meine, Kai hat es gut, der kann dann, mit heiteren Worten des Danks für die Gastfreundschaft, wieder aufbrechen. Franziska allerdings muß dort bleiben. Lebenslänglich, lautet das Urteil. 
Kein Wunder, daß die Panik von ihr Besitz ergreift, oder? Für immer. Unwiderruflich. Kein Zurück. Na prima! )

Das ist natürlich super! 636 Personen erreicht? Ich bin berühmt? Wann kommt die Anfrage von RTL für das Dschungelcamp? 


"Das kommt überhaupt nicht infrage. Auf dem Land gilt die Gastfreundschaft noch was! Du bist natürlich eingeladen! Wo zehn satt werden, hat ein Elfter auch noch Platz, sagt meine Mutter immer!" 
"Ich möchte aber wirklich keine Umstände ... " 
"Umstände? Du lieber Gott! Was glaubst du, wie das hier zugeht, wenn meine Mutter für die Familie, die Mägde und Knechte kocht! Nicht wahr, Mama?" wandte er sich der eben Erwähnten zu, die gerade, angetan mit einer gestärkten, weißen Schürze, durch die Tür trat. 
"So lange ich hier das Sagen habe", meinte Frau Butenschön, "verläßt hier niemand hungrig oder durstig diesen Hof! Das wäre ja wohl noch schöner! - Franziska, min Deern, hilfst du mir eben, den Kaffeetisch zu decken? Oder willst du dich erst frisch machen, von der langen Fahrt?" 

"Ich helfe gern", erwiderte Franziska. 
"Können wir auch etwas tun?" fragte Kai mit einem Blick auf Lukas. 
"Du kannst die Sahne schlagen, Jung", sagte Lukas' Mutter, "und du gehst noch mal eben zu Harms 'rüber, Lukas, ich glaube nicht, daß die Grillkohle für heute Abend ausreicht!" 

Jeder bemühte sich nun um die Erledigung der ihm zugewiesene Aufgabe. Herr Butenschön hatte sich noch mal kurz zum Mittagsschlaf hingelegt. 

Auf dem Herd standen beeindruckend große Töpfe. 

"Das ist schon das Mittagessen für morgen", erklärte die Hausfrau der zukünftigen Schwiegertochter, "Kohlrouladen, eins von Lukas' Leibgerichten. Die schmecken ja sowieso besser, wenn sie wieder aufgewärmt werden. Du darfst aber auf keinen Fall den Kümmel und die Muskatnuß im Hackfleisch vergessen, und unbedingt gemischtes Hack nehmen, das ist saftiger. Willst du es dir aufschreiben?" 
"Ach, ich glaube, das kann ich behalten!" 

Franziskas Gesichtsausdruck war irgendwo zwischen Betroffenheit und Entsetzen angesiedelt. 
"Ich liste dir mal alle Rezepte auf, die Lukas gern ißt. Du kannst ja bist zur Hochzeit noch üben, nicht?"

Franziska war es jetzt schon so, als bekäme sie keine Luft mehr. 
"Ich muß mal eben ..." 
Den Satz nicht vollendend, stürmte sie aus der Küche. 
"Nanu, was hat sie denn", fragte Frau Butenschön den sahneschlagenden Kai. 
"Oh, sie hat vorhin über Kopfschmerzen geklagt", meinte der. 
"Kopfschmerzen? Das soll sie sich abgewöhnen. Die Arbeit auf dem Hof muß erledigt werden. Früher haben die schwangeren Bäuerinnen die Feldarbeit gemacht. Und wenn die Wehen einsetzten, haben sie das Kind zur Welt gebracht, und sind dann weiter arbeiten gegangen!" 
"Das war wirklich eine harte Schule", entgegnete Kai mit einem frechen Grinsen. 
"Ich hoffe trotzdem, daß Fränze ihre Kinder in einer Klinik bekommen kann!" 
Frau Butenschön sah ihn erstaunt an. 
"Na, was dachtest du denn?" 

Tapfer war Fränze zurückgekehrt. 
"Ich nehm' dann mal die Teller, ja?" 
Klappernd verließ sie die Küche. Fast hätte sie den kleinen Stapel fallen lassen, denn nun erschien, aus dem oberen Stock, Opa Richard. Er freute sich riesig, seine ehemalige Krankenschwester wiederzusehen. 

"Töw man, Deern", sagte er, "auf Deiner Hochzeit tanzen wir Walzer zusammen." 
Zum Beweis seiner Beweglichkeit mit dem neuen Hüftgelenk machte er einige Tanzschritte zu einem erdachten Walzer, den er mit einem heiseren "Tam-Tam-Tam, Tam-Tam-Tam" andeutete.

Die Kaffeetafel nahm ihren Verlauf. Der Pflaumenkuchen war aromatisch, der Apfelkuchen war ein Gedicht. Eigentlich ein Käsekuchen, auf dem ornamental feine Apfelscheiben dekoriert waren. Wenn man sich einmal an die zahlreichen, aufdringlichen, grünschillernden Fliegen und die hartnäckigen Wespen gewöhnt hatte, konnte man dem schönen Garten sogar angenehme Seiten abgewinnen. 

Besonders ein Beet, das mit den Stauden, hatte es Kai angetan. Er fragte den Hausherren, der sich nach lauten Rufen seiner Gattin vom Mittagsschlaf erhoben hatte und eben zur Tafel dazustieß, um welche Pflanzen es sich handelte. Er hatte nur den Rittersporn erkannt.

"Tscha, min Dschung", sagte Herr Butenschön, "das ist Reseda. Die s-penden so'n scheunen Duft!" 

Frau Butenschön flüsterte Franziska zu, "Den Pflaumenkuchen mag Lukas ganz besonders. Aber nicht den Zimt vergessen, ganz wichtig!" 

Fränze hatte das Gefühl, langsam zu ersticken. Voll Panik sah sie von einem zum anderen. Kai bemerkte, daß sie sich immer unwohler fühlte. 
"Naja", versuchte er, mit verbindlicher Freundlichkeit einzuwenden, "Franziska muß sich ja auch erstmal in ihre Rolle hineinfinden. Beruflich ist sie perfekt, was ja Ihr Vater schon erlebt hat ..." 
"Ja, aber damit ist dann Schluß", antwortete Lukas, "der Landfrauenverband hat schon angefragt, ob Fränze nicht als Gemeindeschwester zur Verfügung stehen könnte, aber ich habe bereits abgesagt. Meine Frau arbeitet nicht für andere. Das hat sie, mit mir als Mann, Gottseidank nicht nötig.  Nur auf unserem Hof, und sie zieht unsere Kinder auf. Das ist Arbeit genug." 
"Hört, hört!" rief Opa Richard aus und kicherte. 
"Lukas, wirklich, findest Du nicht, daß Du mich zumindest hättest fragen müssen?" 
Franziska schien den humorigen Teil nicht recht zu erfassen. Sie sah ihren zukünftigen Ehemann empört und entsetzt an. 
"Vielleicht hätte es mir Freude bereitet, hier in meinem Beruf zu arbeiten. Das mußt Du doch mit mir besprechen!" 
Peinliches Schweigen lag über der Szene. 

Lukas lachte. 

"Jetzt laß doch das Emanzengetue, mein Schatz. Gleich nach der Hochzeit bist Du schwanger, und dann hast Du sowieso keine Zeit mehr!" 

Frauke erhob sich so heftig, daß der Stuhl, auf dem sie gesessen hatte, umfiel. Sie nahm ihr Gedeck vom Tisch und hastete in Richtung Haus. Lukas wollte hinter ihr her, aber sein Vater hielt ihn zurück. 
"Laß sie", sagte er, "sie muß sich erst an die Veränderungen gewöhnen. Das hier wird kein Leben in Saus und Braus, das Landleben ist hart!" 
"Ich bitte um Entschuldigung für meinen Widerspruch", wandte Kai ein, "aber das Leben einer Krankenschwester ist auch kein Zuckerschlecken, und Fränze ist sicher nicht der Mensch, der auf Saus und Braus Wert legt!" 

Er erhob sich und folgte seiner Freundin. Die saß schluchzend in der Küche. 
"Bring mich hier weg, Kai, bitte, bring mich hier weg! Ich halte das nicht aus! Ich komme mit vor wie eine Kuh, die angeschafft wird, um Kälber zu züchten! Und vergiß ja nicht den Kümmel und den Zimt, sonst passiert wohlmöglich ein Unglück!" äffte sie den Tonfall von Frau Butenschön nach. 
"Willst Du den Leuten nicht noch eine Chance geben?" fragte Kai. Fränze schüttelte energisch den Kopf. Kai hielt ihr ein Papiertaschentuch hin, in das sie sich kräftig schnäuzte. 

Opa Richard betrat die Küche. 
"Leeve Deern, wat büst Du jümmers so trurig? Was s-timmt denn nicht?" 
Kai öffnete den Mund, um an Fränzes statt zu antworten, aber der alte Herr lächelte. 
"Ich weiß, was los ist. Meine Kinder und mein Enkel sind blind. Du liebst nicht Lukas, Du liebst den Jungen hier..." ... indem er auf Kai zeigte. 
"Das Leben hier ist nichts für Dich, Du gehörst in die Stadt. Wollt Ihr den Rat eines alten Mannes?" 
Franziska und Kai nickten. 
"Haut ab, so schnell Ihr könnt", lachte Opa Richard. 
"Ich erkläre es der Familie, und ich sage meinem Enkel, daß die Verlobung gelöst ist. Dat löpt sich allens t'recht!" 

Kai und Fränze sahen sich an. Dann umarmte Fränze den alten Mann. 

"Danke, Opa Richard. Vielen Dank. Du bist der einzige Mensch hier, der mich versteht. Das vergesse ich dir niemals!" 

Der alte Mann tätschelte Franziskas Wangen. Schade, daß nun aus dem Hochzeitswalzer nichts werden würde.

"Nu hör man op to snacken, Deern!" 

Kai drückte Opa Richards Hand, und dann eilten sie durch die Vordertür zu dem Opel Corsa, der rot in der Abendsonne leuchtete.
 
Sie waren schon eine ganze Zeit gefahren. Schweigend hatten sie nebeneinander gesessen, jeder hing seinen Gedanken nach. Kai durchbrach schließlich die Stille. 
"Sag mal, der alte Mann ... Opa Richard ... hatte der recht?" 
Franziska sah ihn überrascht an. 
"Recht? Womit?" 
"Er sagte, daß Du nicht Lukas, sondern ... mich liebst ..." 

Franziska schlug die Augen nieder. 

"Kai, sei mir bitte nicht böse, aber nach dem, was ich gerade hinter mir habe ... ich glaube, ich liebe lieber erst einmal nur mich selber, und niemanden sonst. Ich vermute, man hat ein ähnliches Gefühl, wenn man einen Flugzeugabsturz überlebt und aus den Trümmern herausgeholt wird. Ich weiß im Augenblick überhaupt nicht, ob ich mich jemals wieder binden möchte." 

Kai sah mit einem Seitenblick aus dunklen, traurigen Augen seine Beifahrerin an, dann lachte er, an einer roten Ampel anhaltend.
 
"Ich bin wirklich der geborene Verlierer! Verzeih meine Aufdringlichkeit, kommt nicht wieder vor." 
Franziska zerriß es das Herz. 
"Bitte, Kai, so ist das doch nicht gemeint. Laß uns doch etwas Zeit, ja? Ich muß erst mit einigen Dingen ins Reine kommen, bevor ich weitermachen kann, und ich glaube, auch bei dir ist da noch einiges offen, oder?"
"Das ist wahr." Kai wirkte deprimiert. 
"Ich hatte aber gehofft, daß wir die Dinge gemeinsam ..."
Franziska winkte ab. Er mußte das verstehen. Selbst, wenn sie ihm das Herz brach. 

"Ich habe nur Kraft für mich. Bitte, laß mir Zeit."
Er nickte stumm und nahm die Fahrt wieder auf.

Sie hatten erneut die Stadt erreicht. Fränze rief ihre Freundin Raffaela an und erklärte die Situation in kurzen Worten. 
"Es ist in Ordnung", sagte sie zu Kai. 
"Ich kann erstmal bei Ela wohnen, bis ich was Eigenes habe." 
"Was Eigenes? Fährst Du denn nicht mehr nach Hause?" 
"Nach Hause? Wo ist das? Dieses spießige Kaff, in dem man kaum noch Luft bekommt, weil jeder alles von einem weiß, und man unter ständiger Überwachung steht? Oder ein Kerl, der dir schöne Augen macht, um dich nachher als Gebärmaschine und billige Arbeitskraft zu benutzen? Nein, mein Lieber, nicht mit mir, nicht mehr, jedenfalls. Ich habe die Nase so voll! Und ich schwöre dir: Wenn mich jemand benutzen will, dann soll er dafür bezahlen!"

Er sah sie entgeistert an. 
"Was meinst Du, Fränze?" 

( Das würde ich auch gern wissen! Was, um Gottes Willen, meint Franziska? Bezahlen? Das hört sich nach ... naja. Ein ehrenwerter Beruf, finde ich. Ich habe in meinem Leben mit zwei Damen zu tun gehabt. Die eine arbeitete in Frühschicht auf der "Potse", der Potsdamer Straße, Ecke Pallasstraße, wo meine Studienfreundin Sina wohnte, mit der ich für Histologie lernte. Sie wollte mir einen Studenten-Sondertarif anbieten, aber ... wir haben stattdessen öfter einen Kaffee zusammen getrunken, wenn's gerade paßte.
Die Zweite war Patientin, arbeitete auf der Reeperbahn, und mußte immer pünktlich gegen 15 Uhr zu Hause sein, weil sie einen kleinen Jungen mit Legasthenie zu Hause hatte, dem sie das Mittagessen kochte und bei den Hausaufgaben half. Sag mir keiner was gegen diese Frauen.
Ist in Ordnung, Fränze. Ich stehe zu dir.



Aber in diesem Moment waren sie schon am Hauptbahnhof angekommen. 
"Ich nehme die S-Bahn", sagte sie. "Danke für alles, Kai. Wenn ich meine alte Wohnung auflöse, melde ich mich vielleicht bei dir." 
"Vielleicht? Sehen wir uns nicht wieder?" 
"Laß mir Zeit, bitte", flüsterte sie leise. 
"Ich muß mein Leben wieder in den Griff bekommen. Ist das nicht witzig? Vorgestern, im Zug, hatte ich ein Leben und glaubte an die Zukunft. Und zweimal 24 Stunden später ist alles, wovon ich überzeugt war, zusammengebrochen wie ein alter Zwieback. Naja, macht nichts. Das wird schon wieder." 
"Und ich danke dir, Franziska. Du warst bei mir, als ich dich am nötigsten brauchte. Und dabei wußte ich noch nicht mal, daß ich Dich brauchte. Das vergesse ich dir nie. Glaub mir bitte: ich bin froh und dankbar, daß wir uns kennengelernt haben, und ich werde nicht darüber jammern, daß wir uns jetzt trennen." 
Franziska ergriff die kleine Louis-Vuitton-Reisetasche und stieg aus dem Wagen. 
"Man sieht sich immer zweimal im Leben, oder?" 
Erst, als sie in der Bahn saß, fiel ihr ein, daß sie die Tragetaschen mit ihren Einkäufen im Kofferraum des Corsa hatte stehen lassen ...

Kai legte den Schlüssel auf den Tresen der Autovermietung. Die nette junge Frau in dem dunkelblauen Kostüm, der weißen Bluse und dem weiß-blau-gelben Halstuch, das in dieser Kombination an eine Uniform erinnerte, fragte: "Na, alles 'raus? Handschuhfach, Rücksitz, Kofferraum? Nicht, daß Sie irgendwas Wertvolles vergessen haben!" 
"Ich wüßte nicht .... DOCH! Na sowas Blödes! Gut, daß wenigstens sie aufpassen!" 

Er hatte die Tüten aus dem Kofferraum geholt, den Wagen gezahlt und sich dann zum Bahnsteig begeben, von dem der Regionalzug, der ihn in seine Heimatstadt bringen würde, abfuhr. Es war früher Nachmittag. Der Feierabendverkehr hatte noch nicht eingesetzt, der Zug war fast leer. Die Tüten hatte er neben sich gestellt. Es würde schon eine Gelegenheit kommen, bei der er ihr ihr Eigentum zurückgeben konnte. Und, aus der Nähe betrachtet: Vielleicht war das ein guter Aufhänger, mit ihr wieder in Kontakt zu treten.

"Der Laden wird verkauft, und Schluß!" 

Die Art, in der seine Mutter mit nervend-nöliger Stimme ihren Willen kundtat, ließ vermuten, daß es ihr sehr ernst war mit diesem Anliegen. 
"Dafür hat Papa nicht sein Leben lang geschuftet. Das Geschäft ist sein Lebenswerk, sein Herzblut ist hier eingeflossen, und ich denke gar nicht daran, den Laden zu verscherbeln." 
Kai zeigte sich kampfbereit. 
"Das wirst du wohl müssen, oder kannst du mich auszahlen?" 
"Mama, ich bin dein Sohn!" 
"Ja, schlimm genug. Erinnere mich nicht. Ich hatte gehofft, mein Sohn würde es mal zu etwas bringen, heiraten, Enkelkinder .... und, was ist? Nichts von alldem. Du bist doch nicht schwul, oder? Ein Wunder wär's ja keins. Naja, dein Vater war ja auch schon ein Versager. Mein Leben hat er jedenfalls gründlich ruiniert!" 
"Und du seins! Hannes Kleinert hat dein ewiges Gekeife und Gemecker eben nicht mehr ausgehalten! Seine Geschäftsidee war gut, aber wenn man von nirgendwoher Unterstützung erfährt ... was hätte er tun können?" 

Er verließ das Wohnzimmer, in dem diese höchst unerfreuliche Unterhaltung stattgefunden hatte, und betrat im ersten Stock sein Zimmer. Das sogenannte Balkonzimmer. Von diesem aus konnte man tatsächlich einen kleinen Balkon betreten, der in den hinter dem Haus gelegenen Garten wies. Er beauftragte telefonisch und über das Internet eine Marketing- Firma mit der Erstellung einer Homepage. Er formulierte Texte, die er ins Englische, Spanische, Französische übersetzen ließ. Er fotografierte die Produkte. Schließlich sorgte er für eine optimale Platzierung in den üblichen Suchmaschinen. 

Sein Vater war ein begeisterter Tier-, Natur- und Umweltschützer gewesen. Aus dieser Leidenschaft hatte er die Idee entwickelt, einen Laden für ökologisch und nachhaltig produzierte Produkte zu eröffnen, in der Hauptsache einfach zusammenzusetzende Kleinmöbel wie Beistelltische, Nachtschränke, Hocker, Stehpulte oder Regale, die aus Recycling-Pappe bestanden und durch raffinierte Konstruktion hochstabil, belastbar und tragfähig waren. Der Clou war, daß man diese mit Motiven eigener Fotografien bedrucken konnte. 

Zunächst lief alles hervorragend an, aber wie in jedem Geschäft, gab es natürlich auch Durststrecken zu überwinden. Das Finanzamt forderte die übliche Beteiligung am Gewinn, dann erschien die Stadtsparkasse auf dem Plan und erklärte sich angesichts immer leerer werdender Konten für nicht willens, Lastschriften einzulösen. Kreditverhandlungen scheiterten. Der Markt sei offenbar gesättigt, sagte man. Oder vielleicht läge es auch an der Qualität der Produkte. Nein, leider, hier könne man nicht helfen, das Risiko sei zu groß.

Irgendwann hielt Hannes Kleinert den Druck nicht mehr aus. Er hatte eine Lebensversicherung abgeschlossen, damit seine Frau und sein Sohn versorgt waren, sollte ihm etwas zustoßen. Diese hätte allerdings bei Selbstmord etwaige Ansprüche zurückgewiesen, so ließ er alles wie einen Unfall aussehen. Obgleich keiner so wirklich daran glaubte, daß es sich hier um ein Unglück handelte, mußte die Versicherung zahlen. Mit dem Geld konnten allerdings gerade eben die Gläubiger befriedigt und die laufenden Kosten gedeckt werden. Viel blieb nicht übrig. Es mußte also dringend etwas geschehen. 

Als die erste Anfrage aus Frankreich eintraf, hielt Kai den Atem an. Er lieferte. Dann folgte ein ökologisch orientiertes Hotel aus der Schweiz. Ein anthroposophisches Institut aus Bayern. Ein Bio-Laden aus Holland. Kai lieferte. Schließlich nahm der Internet-Handel einen so hohen Stellenwert ein, daß er das Ladengeschäft ohne weiteres hätte schließen können; aus sentimentalen Gründen jedoch ließ er es geöffnet, und unter dem in grünen Leuchtbuchstaben über den Schaufenstern angebrachten Namen "Lebens-Werk" vermerkte er mit Stolz "Inhaber: Hannes Kleinert & Sohn".

Nun, nachdem seine finanzielle Lage sich nicht nur gebessert hatte, sondern er fast schon zu den wohlhabendsten Bürgern der Stadt zählte, meldete sich die Stadtsparkasse: Ob man dem verehrten Kunden wegen langjähriger Treue nicht mit einem Kredit für neue Investitionen oder gar einen neuen Wagen dienen könne. 

Kai fuhr umgehend dorthin, löste sein Konto auf und ließ das Geld auf ein neu Eingerichtetes bei der Verbraucherbank überweisen. Der eilends herbeigerufene Filialleiter zeigte sich untröstlich.
"Aber wir haben doch jahrelang so überaus vertrauensvoll miteinander gearbeitet, Herr Kleinert", rief der kleine dicke Herr Vuchelich aus. 
"Vertrauensvoll?" Kai mußte sich zwingen, ruhig zu bleiben. "Soll ich Ihnen die Briefe zeigen, in denen sie mir mitteilten, daß sie eine 30 Euro-Lastschrift für meine Telefonrechnung mangels Kontodeckung nicht eingelöst haben? Und jetzt ..." - Kai näherte seinen Kopf dem des knallrot angelaufenen Filialleiters - "... schleimen Sie sich bei mir ein? Das ist WIDERLICH!" 

Herrn Plagemanns Kopf glich in fataler Weise einer überreifen Tomate. Er stotterte noch das eine oder andere Wort des Bedauerns und floh aus der Schalterhalle. 

Auch seine Mutter kehrte zu den Verhaltensweisen zurück, die sie in der Stadt so beliebt machten. Sie forderte überall Sonderbehandlungen. Sie wurde laut, wenn in einem Geschäft oder Kaufhaus nicht umgehend ein Verkäufer sich nach ihren Wünschen erkundigte. Sie erzürnte sogar ihren Hausarzt, als sie sich nach 10 Minuten Wartezeit über dessen Unpünktlichkeit beschwerte. Alles war ihr nicht mehr gut genug, nein, in diesem miesen Kaff bekäme man ja nun wirklich gar nichts, sie führe künftig in die Großstadt zum shoppen. 

Vergeblich hatte Kai seine Mutter gebeten, freundlich oder doch zumindest höflich zu den Leuten zu sein. 
"Das sind potenzielle Kunden, Mama, die darfst Du nicht vergrätzen!" 
Aber sie kümmerte sich nicht darum. Und trotz allem gingen Kai die Kunden nicht aus. Das Mitleid, aber auch die Sympathie der Leute überwog die negativen Gefühle, und als Kai aus dem Haus der Familie auszog, da Frau Kleinert sich im Internet einen neuen Lebensgefährten gesucht hatte, brachte man ihn kaum noch mit seiner Mutter in Verbindung. 

Sicherheitshalber hatte er das Ladengeschäft schätzen lassen und sie ausgezahlt. Damit hatte sie keinerlei Ansprüche mehr gegen ihn. Man munkelte, da man Frau Kleinert gelegentlich mit einer großen, dunklen Sonnenbrille sah, daß Sie damit ein blaues Auge verbergen wollte, das der neue Mann an ihrer Seite, ein grobschlächtiger, unsympathischer Vertreter für Küchenutensilien, verursacht hatte ... hinter ihrem Rücken lachte man, und tuschelte, und freute sich insgeheim.

"Hier: Escort-Service, seriös, gute Verdienstmöglichkeiten! Was meinst Du?" 
Franziska saß am Küchentisch in Raffaelas Wohnung über den Stellenanzeigen der 'Abendpost'.  

"Escort-Service? Hört sich wie eine höfliche Bezeichnung für Prostituierte an, wenn Du mich fragst. Laß bloß die Finger weg von so etwas! Warum willst Du nicht als Krankenschwester weiterarbeiten? Du findest doch immer was, bei Deiner Qualifikation!" 

"Richtig. Und wenn die harte Arbeit nun auch noch wenigstens halbwegs angemessen bezahlt würde, wäre es vor lauter Glück gar nicht mehr auszuhalten. Wird sie aber nicht. Deswegen suche ich mir was anderes. Glaub' mir: So was wie mit Lukas passiert mir nie wieder!" 

Sie machte mit dem Filzstift einen roten, ovalen Rahmen um die Annonce.
 
"Sonst ist nichts Gutes drin?" fragte Ela. 

"Jede Menge. Das Beste war noch der Job als Flugbegleiterin bei der Lufthansa, aber auf den Ausbildungsplatz hätte ich fast zwei Jahre warten müssen! Und wovon, bitte, soll ich inzwischen leben? Und sonst? Entweder Fallen wie 'Setzen Sie in Heimarbeit Kugelschreiber zusammen' oder Sekretärin, Köchin, Kassiererin, Raumpflegerin. Na super. Das wollte ich immer schon mal. Nein, ich rufe hier mal an!" 
"Hoffentlich bereust Du es nicht!" 
Ela zog die Augenbrauen hoch. 
"Soll ich Dich begleiten?" 
"Danke, aber ich schaff' das schon!"

Die Stimme, die nach Wählen der achtstelligen Telefonnummer antwortete, klang warm und freundlich. 
"Angelus Escort-Service, der persönliche Service mit Niveau! Sie sprechen mit Cora Welk, guten Tag! Wie kann ich Ihnen helfen?" 

Etwas aufgeregt war sie schon. Ihre Lippen waren knochentrocken. Ihre Oberlippe blieb sogar an den Vorderzähnen kleben. 

"Guten Tag, Frau Welk, Franziska Tauber am Apparat, ich rufe wegen Ihrer Anzeige in der 'Abendpost' an!" 
"Oh, Sie möchten sich als Mitarbeiterin bewerben? Haben Sie denn schon im Escort-Gewerbe gearbeitet?" 
"Wie man's nimmt! Ja! Ich bin gelernte Krankenschwester, da begleitet man die Menschen ja auch!" 
"Das hört sich sehr interessant an. Sprechen sie Fremdsprachen?" 
"Englisch ganz gut, und auf Spanisch komme ich zurecht ... sonst leider nicht!" 
"Frau Tauber, ich würde Sie gern kennenlernen. Darf ich Ihnen für Morgen ein Vorstellungsgespräch anbieten und Sie zum Mittagessen einladen?" 
"Zum Mittagessen? Im Ernst?" 
"Ja, das ist bei uns so üblich. 'Le Café Gourmand', Millöckerstrasse, 12:30 Uhr? Der Tisch wird auf meinen Namen reserviert sein!" 
"Mil .. lök .. ker ...", buchstabierte Fränze, sich die Adresse notierend. "Ich werde pünktlich sein." 

( Also, gegeizt wird nicht beim Angelus Escort-Service. Donnerwetter, das Le Café Gourmand! Nicht gerade der billigste Laden! Und diese Frau Welk ( schlimmer Name für eine Frau, oder? ) hörte sich am Telefon ja ganz nett an. Finde ich. Aber warten wir es ab. 
Wie gut ich das mit den Banken kenne! Kreditinstitute sind meine Todfeinde. Leider geht es nicht ohne. Ich weiß nicht, wieviel Nächte ich nicht geschlafen habe, weil Bank und Sparkassen versuchten, mich zu erledigen. Ich habe mich trotzdem als erstaunlich zählebig erwiesen.
Auch die Mutter kommt mir bekannt vor. Mütter sind ein Kapitel für sich. Ich gratuliere jedem, dessen Mutter nicht manipulativ ist bzw. war. 
Na gut. Wo war das? Millöckerstraße? Das ist doch hier gleich um die Ecke! )



Schwarze Hose, weiße Spitzenbluse, graue Stiefeletten. Dazu der graue Schal und der cremefarbene Mantel. Hatte sie das nicht getragen, als sie die Kleinstadt verließ? An dem Tag, als sie Kai kennenlernte ... ach Kai! Lieber, armer Kai! Als sie ihn kennenlernte, hatte er ihre Hilfe benötigt. Dann hatte er ihr beigestanden. Sie dachte oft an ihn. Wie es ihm wohl ergangen war! Ob er schon gemerkt hatte, daß sie in einer Nacht- und Nebel-Aktion ihre Wohnung ausgeräumt, ihre Stelle gekündigt und die Kleinstadt für immer verlassen hatte? 

Um 12:25 Uhr betrat Franziska das 'Le Café Gourmand'. Ein junger Kellner, der ein schlichtes weißes Hemd und eine schwarze, lange Bistro-Schürze trug, trat mit einem Lächeln auf sie zu. 

"Enchantée, Mademoiselle, was kann ich für sie tun?" Franziska errötete. "Es ist ein Tisch bestellt worden, auf den Namen Welk. Für 12:30 Uhr!" 
"Ah, mais oui, Madame Welk ist bereits eingetroffen. Suivez moi, s'il vous plaît!" 
Cora Welk war eine Persönlichkeit mit eher dominanter Ausstrahlung. Sie trug ein schickes Business-Kostüm aus stahlblauer Rohseide, dazu eine schlichte Perlenkette, am Mittelfinger der linken Hand einen hinreißenden asymmetrischen Ring aus Weißgold, auf dem eine Perle, ein Saphir und ein Amethyst eingefaßt waren. Ihr fuchsrotes Haar war zu einem eleganten Chignon gestylt worden, sie trug ein zartes, helles Make-up, smoky eyes und einen leuchtendroten Lippenstift. Ihr Alter war schwer zu schätzen, vermutlich wußten nur ihre Eltern, daß sie die 40 bereits überschritten hatte. Das Bild wurde abgerundet durch Nylons mit Naht und blaue, hochhackige Pumps mit kleiner Schnalle.

Fränze stockte der Atem. "Sind das echte Manolo Blahniks?" 
Cora Welk lachte. 
"Sie kennen sich aus, Kompliment! Ich bin Cora Welk! Frau Tauber, nehme ich an?" 
"Töten würde ich für diese Schuhe! Ja, Franziska Tauber, ich freue mich!" 
"Schön, daß sie kommen konnten. Das müssen Sie vermutlich nicht. Töten, meine ich. Vielleicht erreichen sie ihre edlen Ziele schon mit etwas Arbeit! Darf ich etwas vorschlagen? Wollen wir uns beim Vornamen nennen? Ich bin Cora, Sie sind Franziska?" 
"Sehr gerne, danke, daß sie Zeit für mich haben." 
Der nette Kellner näherte sich ehrerbietig. 
"Pardon, Madame Welk, nehmen sie noch einen Aperitif, oder darf ich servieren?" 
Cora sah Franziska fragend an. 
"Ich trinke nie Alkohol", entgegnete diese. 
"Ich vertrag's einfach nicht." 
"Unter diesen Umständen: Legen wir endlich mit dem Menü los. Sind sie einverstanden? Ich habe mir erlaubt, etwas Schönes für uns zusammenzustellen!" 
"Sehr gerne!" 
Franziska und Cora unterhielten sich während des Essens über Gott und die Welt, aktuelle Politik, die Liebermann-Austellung in der Kunsthalle, Theater, Musical, Konzerte. Schließlich fragte die Chefin des Escort-Service: "Haben sie denn irgendwelche Fragen an mich, Franziska?" 
Die Angesprochene errötete. Cora lachte. 
"Das müssen sie sich unbedingt abgewöhnen." 
"Was?" 
"Das Erröten. Sie sind eine gescheite junge Frau, die sich gut benehmen kann, zuverlässig und alles andere als langweilig ist. Erröten ist somit überhaupt nicht erforderlich." 

Mit einem Lächeln spießte Franziska ein Stückchen Käse auf die zierliche Gabel. 
"Meine Freundin Raffaela hat mich gewarnt vor der Bewerbung. Sie meinte, Escort-Service bedeute .... " 
Verlegen und mit gesenktem Haupt verstummte sie. 
"Prostitution?" lächelte Cora. Stumm nickte Franziska. 
"Franziska, ich versichere ihnen, daß unsere Arbeit nicht mit der der Damen des horizontalen Gewerbes gleichzusetzen ist. Wir begleiten Herren zu Konferenzen, zu gesellschaftlichen Ereignissen, zu kulturellen Veranstaltungen. Wir vermitteln Reisebegleitungen, wir stellen auch Alibibegleiterinnen, besonders gern für schwule Fußballspieler, zur Verfügung. Ach so, ja, und übrigens verfügen wir auch über eine Anzahl sehr kultivierter Herren für unsere weibliche Kundschaft. Sollte sich nun zwischenmenschlich etwas Unvorhersehbares beziehungsweise Unvorhergesehenes ergeben, dann ..." - bei diesen Worten zwinkerte sie - " ... ist das ihre Privatsache, gehört aber nicht zum Job. Alles klar? Sie können ihre Raffaela beruhigen!" 

Franziska strahlte. 
"Ich bin sehr erleichtert. Wollen sie es denn mit mir versuchen? Sie haben mich ja noch gar nichts gefragt, um herauszufinden, ob ich geeignet bin!" 
"Sie sind wirklich ein unschuldiges Kind, Franziska. Diese ganze Veranstaltung hier diente nur dem Zweck, herauszufinden, ob sie sich benehmen können, und was sie so drauf haben. Manchmal kommen die hübschesten Mädchen, aber was nützt Schönheit, wenn man nicht weiß, wie man sich durch das Besteck am Teller hindurcharbeitet, oder wenn man ein Rotwein- nicht vom Wasserglas unterscheiden kann! Manche verlassen sich auf ihr gutes Aussehen, und dann trinken sie die Suppe aus dem Teller, statt den Löffel zu benutzen. Und Allgemeinbildung -Fehlanzeige! Nur ... ihre Kleidung ist ein wenig ... naja, sagen wir mal: bieder. Aber da helfen wir ihnen weiter. Ihr Haar ist wunderbar. Naturblond? Ja? Das habe ich mir gedacht. Ein herrlicher, wirklich ganz erstaunlicher Glanz! Haben sie irgendwas benutzt?" 

Ohne Franziskas Antwort abzuwarten, sah die Geschäftsfrau auf die kleine Rolex an ihrem Handgelenk. 
"Ich muß aufbrechen, Franziska. Ich habe mich wirklich gefreut, sie kennenzulernen, und ich heiße sie herzlich als jüngstes Mitglied unserer kleinen 'Familie' willkommen! Jacques? L'addition, s'il vous plaît!" 
"Danke für die Einladung, Cora!" 
"Wird als Bewerbungsessen von der Steuer abgesetzt. Kein Problem. Heute hat es mir allerdings sogar Spaß gemacht. Bei der letzten Bewerberin hätte ich mir selbst ein Schmerzensgeld anweisen sollen!" 
Beide lachten, dann trennten sie sich. 
"Morgen um 10 in der Agentur, Eichenallee 9-11, o.k.? Ich stelle sie den anderen vor!"

Die Eichenallee lag in einem der nobelsten Viertel der Stadt. Villa reihte sich an Villa, alle bis auf ein besonders schönes, schneeweißes Gebäude auf der anderen Straßenseite schienen bewohnt, die Grundstücke waren groß, der Baumbestand alt und üppig. Die Hausnummer 9-11, die Franziska am nächsten Morgen kurz vor 10 Uhr erreichte, wirkte sehr mediterran durch die großen, weißen Sprossenfenster, die überdachten Terrassen und die rostrote Farbe, die sie im letzten Italienurlaub in Rom so oft gesehen hatte. Überdacht war das Haus mit einem dunklen, flachen Zeltdach. 
Sie unterdrückte ein Lachen, als sie an den gestrigen Abend dachte. Sie hatte der Freundin von ihrem Vorstellungsgespräch berichtet.

Und wie erwartet, hatte Raffaelas Mißtrauen einen neuen Höhepunkt erreicht. 

"Hast du nicht gefragt, wieviel du verdienst? Ob du krankenversichert bist? Sozialleistungen? FRÄNZE! So naiv KANN man doch gar nicht sein!" 
"Jetzt schimpfe doch nicht, Ela. Cora war so nett, das Ganze war mehr wie ein freundliches Treffen mit einer alten Bekannten, nicht wie ein Vorstellungsgespräch!" 
"Nett? Ach Kind, niemand ist in Wahrheit 'nett', jeder ist nur auf seinen Vorteil bedacht! Tu' mir und dir einen Gefallen, und sieh dich vor. Unterschreibe nichts, was nicht vorher ein Anwalt überprüft hat, hörst du? Du bist immer so gutgläubig. Das geht schief, auf die Dauer!" 

Franziska hatte nachdenklich und auch ein wenig enttäuscht ausgesehen. Das Essen mit Cora Welk hatte sie in eine Art Euphorie versetzt, gut gelaunt und fröhlich war sie in Elas Wohnung angekommen und hatte kaum abwarten können, bis die Freundin endlich nach Hause kam, um ihr sozusagen druckfrisch die guten Neuigkeiten zu verkünden. Nun war sie da, hatte sich ihre Geschichte mit Stirnrunzeln angehört und immer wieder den Kopf geschüttelt. 

"Hoffentlich geht das gut, Fränze. Ich meine, du weißt, ich bin jederzeit und immer für dich da ... nur bitte, laß dich auf nichts Illegales ein. Du bist hier immerhin in der Großstadt, und du kannst nicht erwarten, daß hier nur Nonnen und Heilige leben!" 
Franziska hatte gelacht. 
"Du alte Schwarzmalerin! Du solltest dich lieber freuen, daß du ganz bald deine Wohnung nicht mehr teilen mußt!" 
"Na so ein Blödsinn! Das habe ich doch gern getan, und du würdest das auch für mich tun, oder? Wozu hat man denn Freunde?" 
Franziska hatte Raffaela spontan umarmt. 
"Laß dich drücken, alte Pessimistin. Du bist lieb!" 
"Da war es schon wieder. Alt. Du, das 'alte' verbitte ich mir. Ein für alle mal. Pessimistin, ja, aber alt...?!"

Auf die Betätigung des messingfarbenen Klingelknopfs an der Haustür ertönte ein Summer, und die Tür sprang auf. Franziska betrat die kleine Eingangshalle. Zentral auf hellem Marmorfußboden stand eine geschmackvolle Komposition aus Pflanzen um eine Art Zimmerbrunnen herum. Das leise Plätschern hatte eine beruhigende, fast hypnotische Wirkung. 
Aus einem Zimmer auf der linken Seite kam nun Cora Welk auf sie zu, in Begleitung eines deutlich jüngeren Mannes mit blondgesträhntem, längerem Deckhaar und präzise konturierten, kurz geschnittenen Seiten. Besonders auffällig waren seine scharf geschnittene Nase sowie seine markanten Gesichtszüge. Zwei junge Frauen, die eine blond, die andere rothaarig,  kamen die geschwungene Mitteltreppe, die in den ersten Stock des Hauses führte, herunter. 

"Das ist also deine neue Entdeckung, Cora, Liebes!" 
Der Satz des jungen Mannes, der maximal Mitte 30 sein konnte, klang eher wie eine Feststellung, nicht wie eine Frage. 
"Ja, Alexander, was sagst du zu ihr?" 
"Ich bin beeindruckt!" 
"Nur an Make-up und Kleidung müssen wir arbeiten", mischte sich nun eine der beiden jungen Frauen, die die Treppe herabgestiegen waren, in das Gespräch ein. Sie streckte Franziska die Hand entgegen. 
"Daniela Seiberth, ich freue mich!" 
"Das kommt schon alles noch, Kinder", beschwichtigte Cora. 
"Nun laßt Franziska doch erst einmal ankommen! Kaffee? Tee? Saft?" 
Der junge Mann lachte. 
"Feiern wir Kindergeburtstag? Champagner!" 
"Franziska trinkt keinen Alkohol, Alexander", wandte Cora ein und goß der neuen Mitarbeiterin Orangensaft in ein Glas. 
"Ist Champagner denn Alkohol?" fragte Alexander mit erstaunt-unschuldsvoll aufgerissenen Augen. 

Franziska sah unsicher von einem zum anderen, was Cora sofort bemerkte. 
"Jetzt laßt sie in Ruhe. Franziska, Kind, keine Angst. Alexander von Kostka ist meine rechte Hand, und die beiden hier, genannt Schneeweißchen und Rosenrot, sind tatsächlich unsere Friseurin und Visagistin Daniela, und unsere Stylistin Ann-Kristin!" 
Die Letztgenannte lächelte Franziska an. "Ich sehe, du brauchst meine Hilfe! Dringend!" 
"Warum nörgeln eigentlich alle an meiner Kleidung herum", wunderte sich Franziska. 
"Die Farbauswahl: Bieder, aber o.k.. Die Verarbeitung: Geht so. Der Stil: Frühes Karstadt? Sex-Appeal: Gleich Null!" 
Ann-Kristin grinste breit. 
"Stell' dir doch mal vor, du wirst von einem Manager gebucht, der einen chinesischen oder arabischen Investor beeindrucken möchte. Oder von einem Schauspieler, der einen Filmpreis verliehen bekommt. Da mußt du schon der Hingucker sein, mondän, kein liebes Mädel aus der Provinz!" 

Verzweifelt sah Franziska von einem zum anderen. Zu Cora gewandt, murmelte sie, "So langsam bekomme ich Angst." 
"Ach Quatsch", wischte Cora ihre aufkommenden Bedenken weg. 
"Das sind doch Kleinigkeiten!" 
"Stellen sie sich, Franziska", begann nun Alexander, "doch mal vor, sie werden heute von einem Herren als Begleitung für die Oper gebucht. Es wird "Ein Maskenball" aufgeführt. Und morgen nehmen sie an einem Galadiner einer gemeinnützigen Organisation teil. Wie gehen sie das an?" 
"Ich informiere mich bei google oder Wikipedia über Komponist und Werk bzw. die Organisation und ihr Einsatzgebiet!" 
"Donnerwetter! Gut gebrüllt, Löwin!" 
Cora sah Alexander strafend an. 
"Ich habe dir doch gesagt, sie hat Klasse!" 
Und, Franziska zugewandt: "Wollen Sie eigentlich gar nicht wissen, was Sie verdienen?" 

( Würde mich, ehrlich gesagt, auch brennend interessieren. Ich meine, ich kann nicht beurteilen, ob es leicht oder schwer verdientes Geld ist. Im Vergleich zum Beruf der Krankenschwester sicher leichter. Spannend ist es bestimmt. Und wenn die Herren, die Franziska buchen, Gentlemen sind, von angenehmem Äußeren und mit kultiviertem Wesen ... 
So. Halten wir fest: Raffaela hat sich geirrt. Es gibt Menschen, die übervorsichtig sind, genau so aber auch Abenteurer. Beides hat sicher seine Berechtigung. Ich selbst handele meist aus persönlichen Bedürfnissen heraus. Oder finden sie es normal, eine gut gehende Praxis hinzuschmeißen und Schriftsteller zu werden? Etwas, was man gut kann, gegen etwas einzutauschen, von dem man keine Ahnung hat? Aber wenn man es nicht tut, wird man nie wissen, ob es nicht doch die richtige Entscheidung war. Und sein Zögern bis zum letzten Tag bereuen. )




"Doch, schon!" Franziska nickte. 
"Sie sind offiziell angemeldet und krankenversichert. Ach ja, wir brauchen noch ihre Lohnsteuerkarte, bitte denken sie daran! Das Nettogehalt beträgt ungefähr € 3.500.-, zuzüglich einer Beteiligung an Ihren Buchungen. Der Vertrag gilt zunächst für ein Jahr, drei Monate Probezeit, ist das in Ordnung?" Franziska nickte erneut. 
"Und wie ist der Ablauf? Ich meine, wie werde ich gebucht?" 
"Zunächst suche ich die Events heraus, für die ich sie für geeignet halte. Sie werden Stammkunden gewinnen, die sie immer wieder buchen, und, wenn sie Profi sind, können sie sich auch aus dem Pool unserer Anfragen etwas heraussuchen. Für den Einsatz werden sie hier geschminkt, frisiert und eingekleidet. Alles klar?" 
Zum dritten Mal an diesem Tag nickte Franziska. 
"Soll ich jetzt gleich unterschreiben?" 
"Nein, bitte nicht. Nehmen sie doch einfach den Vertrag mit, und schlafen sie eine Nacht darüber. Hat Ihnen ihre vorsichtige Freundin, wie war noch gleich ihr Name ..?" 
"Raffaela!" 
"... Raffaela also, nicht geraten, unterschreib nicht, bevor nicht ein Anwalt den Vertrag überprüft hat?" 
Franziska errötete. 
"Nana, habe ich nicht gesagt, daß sie sich das Erröten abgewöhnen sollen?"

"Wieviel Hocker? Die Verbindung ist so schlecht! Hören sie, könnten sie ihre Bestellung nicht per Email ... Ja? Na wunderbar. Wir brauchen ja auch noch ihre Fotos für den Druck! Ich kümmere mich persönlich! Grüß Gott nach Innsbruck!" 

Kais Unternehmen florierte. Es florierte seit der kleinen Innovation, daß er in sein Sortiment ökologisches Kinderspielzeug, zum Beispiel Schaukelpferde,  aufgenommen hatte, sogar noch mehr. 
Alle Bio-Läden, alternativ, ökologisch, anthroposophisch orientierten Geschäfte Europas orderten seine Produkte. Der Name 'Kleinert' war groß geworden und aus der Szene nicht mehr wegzudenken. Die heimischen Produktionskapazitäten reichten nicht mehr aus, die kleine Firma stieg zur Fabrik auf, er benötigte immer mehr Mitarbeiter, schaffte Arbeitsplätze, zahlte Steuern. 

Eines morgens erwachte er und realisierte zu seiner großen Überraschung, daß er Konzernchef und Fabrikbesitzer war. 

Zu seiner Mutter hatte er keinen Kontakt mehr. Das Grab seines Vaters besuchte er allerdings oft. Der schlichte, dunkle Stein aus Granit trug nur den Namen 'Hannes Kleinert' und darunter die Jahreszahlen '1962 - 2016'. Rechts und links vom Stein standen zwei Rhododendren, das Grab war, betont schlicht, im Winter mit Tanne abgedeckt, im Frühjahr mit Stiefmütterchen, im Sommer mit Zinnien, im Herbst mit Astern bepflanzt. 
"Wir haben es geschafft, Papa! Wir haben es geschafft! Deine Idee und dein Geschäft sind etabliert. Wir sind wohlhabend, und unser Name klingt gut." 

Er harkte das von den umstehenden Buchen heruntergefallene Laub von der Ruhestätte seines Vaters, und legte zum Abschied einen Stein auf den Grabstein. Er hatte diese jüdische Sitte einmal in einem Film gesehen, sie gefiel ihm gut, deswegen hatte er sie übernommen. 

Annika Eilers, die Tochter des Oberstadtdirektors, hatte zu Schulzeiten wenig Interesse an dem melancholischen, dunklen Kai. Er beteiligte sich selten an Streichen, war immer ernst, versuchte nie, die Mädchen anzubaggern, wie man damals sagte. Er stand im Verdacht, ein Langweiler zu sein, oder schwul, oder wohlmöglich beides in Personalunion.

Gert Meyer hatte das Gerücht aufgebracht, daß er sich mehr für Jungs interessierte. Er war zurückhaltend, höflich, ruhig und ließ sich auch nie in der Raucherecke sehen, in der seine Klassenkameraden ihr Erwachsensein durch Nikotinkonsum zu dokumentieren versuchten.

Annika war, im Gegensatz zu Kai, sehr beliebt. Sie war sehr hübsch, sehr pfiffig, sehr ehrgeizig, sehr humorvoll und immerhin die Tochter des - nach dem Bürgermeister, Hans-Joachim Wegener - wichtigsten Mannes der Stadt. Die Jungs umschwärmten sie wie Ameisen das Marmeladenbrot, sie aber mochte sich nicht festlegen. Man hatte bei ihr immer das Gefühl, daß, wenn sie einen im Arm hielt, ihr die Nähe eher unsympathisch war. Nach wenigen Sekunden wand sie sich wie ein Aal aus der Enge, und ihre "Beziehungen" überlebten selten vierzehn Tage.
 
Das führte über kurz oder lang dazu, daß Ihr Ruf in der Kleinstadt sich zunehmend verschlechterte, und während alle aus der alten Klasse bereits 'unter der Haube' waren, lebte sie ein Single-Dasein, das sie, wie sie nicht müde wurde, zu betonen, sehr mochte, das sie aber auch, auf dringende Empfehlung ihrer Mutter, zu beenden plante, "... bevor Du eine alte verbitterte Jungfer wirst!" 

Annika Eilers hatte sich unter den Junggesellen umgesehen und festgestellt, daß der Einzige, der ihre hohen finanziellen Ansprüche ans Leben würde befriedigen können, der ruhige, langweilige, melancholische Kai Kleinert war. 

Ach du Schreck! Ausgerechnet! Wie hatte der es denn geschafft, so wohlhabend zu werden? Der sogenannte tödliche Unfall seines Vaters war doch nur dadurch zustande gekommen, daß er pleite gegangen war und sich in Wirklichkeit das Leben genommen hatte. Hatte der Direktor der Stadtsparkasse erzählt, als er, nebst Gattin, zum Abendessen geladen war. Und nun? 

Kai sollte angeblich inzwischen einer der reichsten Männer der Stadt sein. Sie würde es schon herausfinden! Auch, ob er eine Freundin hatte; verheiratet war er jedenfalls nicht, hatte sie vom Leiter des Standesamtes erfahren. Wo war doch gleich der Laden? Irgendwo in der Hauptstraße, nicht wahr?

"Fränze, Liebste, bist du bereit für deinen ersten Einsatz?" 

Cora und sie waren sich sehr nahe gekommen, die Agenturchefin war begeistert von ihrer neuen Mitarbeiterin wegen ihrer frischen, natürlichen Ausstrahlung, ihres offenen, ungekünstelten Wesens und ihrer Klugheit, so daß sie ihr das 'Du' anbot. 

Franziska war inzwischen bei Raffaela aus- und in das Haus der Agentur eingezogen. 
"So lange, bis du was Neues hast, kannst du gern im Gästezimmer im ersten Stock wohnen! Es ist wie ein kleines Appartement mit Bad und Kochnische. Einverstanden?" 

Franziska hatte gern zugestimmt, Raffaela hatte es sie nie spüren lassen, aber die 70 Quadratmeter geräumige Zwei-Zimmer-Wohnung war auf die Dauer für eine Wohngemeinschaft doch zu eng. 

"Mein erster Einsatz? Meinst du, ich bin schon so weit!?" 
"Ja, natürlich. Es ist etwa ganz Leichtes, zum Eingewöhnen. Ein sehr netter und, nach dem Tod seiner Frau, sehr einsamer Apotheker möchte ins Theater, hinterher noch etwas essen, und sucht eine Begleiterin, die seine trüben  Gedanken vertreibt." 
"Trübe Gedanken vertreiben? Das ist mein Spezialgebiet", lachte Franziska fröhlich. 
"Das traue ich mir zu. Um welches Stück handelt es sich?"
"Ich glaube, ein Boulevardstück in der Kleinen Komödie!" 
"Aha, dann also helle Farben, Kleidung sexy, aber nicht zu sehr, dezent-frisches Make-up!" 
"Das hört sich wunderbar an! Schneeweißchen und Rosenrot sollen alles geben!" 

Der Abend erwies sich als voller Erfolg. Der Apotheker, ein Herr Renke, zeigte sich als perfekter Gentleman, höflich, zuvorkommend, niemals anzüglich oder aufdringlich. Das Stück hatte das Publikum zu Lachsalven hingerissen. Das Diner hinterher schmeckte köstlich, auch wenn das Restaurant Fränze etwas zu rustikal vorkam. 

Herr Renke hatte Fränze in seinem Mercedes in die Eichenallee zurückgefahren. Er stieg aus, öffnete ihr die Wagentür, und küßte ihre Hand. 

"Das ist seit langem endlich einmal wieder ein Abend gewesen, an dem ich gelacht und mich amüsiert habe. Ich danke ihnen sehr dafür, Franziska." 
"Ich verrate Ihnen was, Herr Renke. Für mich war es das erste Treffen dieser Art. Wenn alle weiteren nur halb so schön sind, werde ich sehr glücklich sein!" 
"Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie mich bald einmal wieder begleiten würden. Mögen Sie klassische Musik?"  
"Vor allem mag ich es, in so charmanter Art und Weise ausgeführt werden!" 
 
"Sie sind sehr nett, Franziska. Schlafen Sie gut, bis zum nächsten Mal!" 
"Kommen Sie gut nach Hause!" 

Er winkte ihr zu und wartete höflich am Zaun, bis sie die Eingangstür erreicht hatte. Gut gelaunt legte Franziska sich zur Ruhe.


"Du hast dir eine Prämie verdient, mein Schatz!" 

Cora saß an dem großen, schweren Schreibtisch aus Eichenholz, auf dem nur ein Monitor mit Tastatur und eine Dockingstation für ihr Mobiltelefon standen. Rechts daneben lagen auch ein Block mit Schreibpapier und ein Kugelschreiber bereit. 
"Wie das?" 
"Ich habe hier gerade eine Email von deinem Apotheker bekommen. Der Mann überschlägt sich vor Begeisterung, lobt dich in den höchsten Tönen, hat dich gerade für die kommende Woche erneut gebucht und bittet um Aufnahme in die Stammkundendatei!" 
"Mensch Cora!" 
Franziska war atemlos vor Freude. 
"Schaffst du heute Abend eine Altenbegleitung?" 
"Altenbegleitung?" 
"Ja, das machen wir auch! Aus der Seniorenwohnanlage am Lindenbach kommen häufiger Buchungen. Herr Gauß ist sehbehindert, läßt sich gern vorlesen und liebt es, Geschichten von früher zu erzählen." 
"Ich bin begeistert, wirklich! Aber ... kann er sich das denn leisten?" 
"Leisten? Der Mann hat Geld wie Heu, er will nur so viel wie möglich davon ausgeben, um seinen Kindern, die ihn nur zu Weihnachten besuchen, um sich ihre Geschenke abzuholen, so wenig wir möglich zu vererben." 
"Das kenne ich aus meiner Zeit in der Klinik. Alt und krank darf man nicht werden ..." 
"... oder man muß Geld genug haben, um sich eine Gesellschafterin leisten zu können!" 
Franziska zwinkerte Cora zu. 
"Weißt du, was ich gerade denke?" 
"Deinem Gesichtsausdruck nach freust du dich, daß du kein Make-up brauchst und in deinen biederen Kleinstadt-Klamotten gehen kannst!" 
"Cora! Das ist ... gespenstisch! Genau daran habe ich gedacht! Bin ich denn wirklich so leicht zu durchschauen?" 
"Noch leichter, Kind. Deswegen mag ich dich so. Du bist, wie du bist. Es ist nichts Verlogenes oder Falsches oder Verstelltes an dir." 

"Was für ein lustiger Zufall! Du bist, Kai, Kai Kleinert, oder? Annika! Annika Eilers! Aus deiner Klasse! Das ist ja eine Ewigkeit her, daß wir uns zuletzt gesehen haben! Was machst du so?" 

Kai war in Gedanken bei einer Lieferung an ein Kinderhospiz. Er hatte sich zu einem großzügigen Rabatt entschlossen, da die Stadt nichts bezuschußte und das Hospiz alles aus Spendenmitteln finanzieren mußte. Irritiert starrte er sie an.

"Annika ... ach ja, jetzt erkenne ich dich! Wie gehts denn dem Herrn Oberstadtdirektor?" 
"Ist inzwischen im Ruhestand! Ach Kai, ich freue mich so sehr, dich zu sehen!" 
"Das ist nett von dir, aber wenn mein Erinnerungsvermögen mich nicht trügt, war dein Interesse an mir damals nicht der Rede wert! Wieso hat sich das denn jetzt plötzlich geändert? Woher der unverhoffte Enthusiasmus?" 
"Aber Kai, da täuschst du dich wirklich in mir, ich war nur immer so zurückhaltend, wenn mir jemand etwas bedeutete, wirklich! Und mit meinen Bindungsängsten kämpfe ich heute noch!" 
Kai lächelte. 
"Komisch, aber das habe ich irgendwie anders im Gedächtnis." 
Annika machte ein Schmollmündchen. 
"Außerdem, ich bin inzwischen viel reifer geworden, und klüger!" 
"Das mag sein", erwiderte Kai immer noch freundlich. 
"Wurde ja auch Zeit, oder? Damals warst du, wie es schien, zu keinem tieferen Gefühl fähig. Nett, dich mal wiedergesehen zu haben. So, ich muß zu einer geschäftlichen Verabredung, du entschuldigst mich, bitte. Alles Gute!" 

( Da lobe ich mir meine Klassenkameraden. Die mochten mich zu Schulzeiten nicht, und als ich 2005 zum 30jährigen Abiturjubiläum ging, stellte ich fest, daß sich daran nichts geändert hatte, weswegen ich mir das 40jährige gespart habe. Was soll das auch. Ich inmitten alter Herren! Schrecklicher Gedanke! 
Kai hat es geschafft. Ich beneide ihn etwas. Was sagen sie? Ach Quatsch. Geld ist völlig egal. Ich beneide ihn um das gute, über den Tod hinausgehende Verhältnis zu seinem Vater. 
Franziskas Einstieg in ihren neuen Beruf war ein voller Erfolg. Ich gönne es ihr, und ich hoffe, daß der Besuch in der Seniorenwohnanlage ihr ebenso viel Freude macht ...



Er nickte ihr mit dünnem Lächeln zu und schritt von dannen. Annika blieb schier die Luft weg. So war sie noch nie behandelt worden! Er hatte sie einfach stehen lassen! Was hatte der Flegel gesagt? Zu keinem tiefen Gefühl fähig? Und ob! Sogar zu mehreren tiefen Gefühlen! Das würde sie ihm schon beweisen! Ihr sportlicher Ehrgeiz war geweckt. In spätestens 4 Wochen würde er ihr aus der Hand fressen, wetten?

Die Seniorenwohnanlage am Lindenbach lag in einer ruhigen Seitenstraße und bot einen atemberaubenden Ausblick über die Stadt. Es handelte sich um lauter seniorengerechte Appartements, in denen die Bewohner ein selbständiges Leben führen konnten. Für die Mahlzeiten stand ein Restaurant zur Verfügung, und wenn man für die Reinigung oder zum Einkaufen Hilfe benötigte, gab es einen dienstbaren Geist, der aushalf und dies für die Bewohner übernahm. Und wenn dann ein Bewohner zum Pflegefall wurde, wurde er auf der dem Haus angeschlossene Pflegestation weiter versorgt.

Als Franziska das Haus zum ersten Mal betrat, empfand sie so etwas wie Beklemmung oder Unsicherheit - so lange, bis sie Herrn Gauß kennenlernte.
 
"Ihrer Stimme nach sind sie noch sehr jung, Frau ... vergeben sie bitte einem alten, sabbernden Greis, jetzt habe ich doch tatsächlich ihren Namen vergessen!" 
"Bitte sagen sie Franziska zu mir", lächelte Fränze. 
"Und was den Greis angeht, kann ich ihnen verraten, daß ich schon ältere kennengelernt habe!" 
Herr Gauß lachte laut auf. 
"Sie haben Humor, das gefällt mir! Eigentlich wollte ich sie bitten, mir vorzulesen; ihre Vorgängerin war nur zum Reproduzieren, sonst leider nicht zu mehr in der Lage. Aber mit ihnen möchte ich mich lieber unterhalten. Das Buch lasse ich mir später als Hörbuch besorgen!" 

Der alte, weißhaarige Mann war ganz aufgeregt. Er erzählte aus seinem Leben, das noch während des Weltkriegs begonnen hatte, war Lehrer für Mathematik, Physik und Chemie gewesen, verheiratet, drei Kinder, die alle studiert hatten und sich kaum um den Vater kümmerten, verwitwet, und auch seine Lebensgefährtin war gestorben. 

"Man merkt gar nicht, daß man älter wird, Fräulein Franziska. Man fühlt sich sogar mit fast 80 immer noch keinen Deut anders als mit 18, zumindest im Kopf. Aber wenn die Sehkraft nachläßt, die Gelenke schmerzen und das Herz nur noch einige Male am Tag, und das nicht nicht mal aus eigenem Antrieb, schlagen will, bemerkt man, daß das, was einem an Zeit noch bleibt, im Vergleich zu dem, was man hinter sich hat, nur ein Moment ist. Aber ich kann mich nicht beklagen. Am Ende wird alles gut." 
Er hielt inne, als dachte er noch einmal über seine Worte Nacht. Dann sagte er mit Nachdruck: "Ja. Wie es kommt, so ist es gut, und richtig. Das Leben ist gerecht. Natura non facit saltus."

Franziska streichelte seine Hand. Mit dem Handrücken wischte sie verstohlen eine Träne von ihrer Wange. Sie war sehr bewegt, auch wenn sie den lateinischen Satz nicht verstanden hatte. Herr Gauß war ein humorvoller, weiser Mann. 

Am Ende des Abends rief Ihr Gastgeber ein Taxi. 
"Sie fahren nicht mit Bus und Bahn, nicht zu so später Stunde", bestimmte er. "Hier haben sie das Fahrgeld!" 
Franziska fühlte den klein gefalteten Schein in ihrer Hand. 
"Herr Gauß, sie haben sich geirrt! Das ist ein € 500.- Schein!" 
"Ich weiß, und das war kein Irrtum." 
"Aber ... das darf ich nicht annehmen!" 

Der alte Mann war gar nicht so leicht einzuschüchtern. Bestimmt und vielleicht auch etwas oberlehrerhaft klang seine Stimme. 
"Doch, das dürfen sie. Wollen sie etwa einem armen, alten, alleinstehenden, blinden Greis einen Wunsch abschlagen? Nun seien sie doch nicht so herzlos!" 
Franziska wand sich. 
"Trotzdem, ich darf das nicht behalten. Wir sind angewiesen ..."
"Papperlapapp! Ich bestehe darauf ... Oh, es hat gehupt! Ich denke, das Taxi ist da!" 
Franziska bedankte sich verwirrt und atemlos, drückte den alten Mann herzlich und fuhr zur Agentur.

Cora war noch wach und hockte am Schreibtisch. 
"Cora, ich muß etwas beichten. Ich weiß ...." 
Cora winkte ab, als verscheuche sie eine lästige Mücke. 
"Nicht nötig. Herr Gauß ist bekannt für allzu spendable Trinkgelder. Du bist aber die erste Begleiterin, die mir davon erzählt, und das immerhin noch mit schlechtem Gewissen. Die anderen haben das Geld eingesteckt und geschwiegen. Du hast es dir verdient!"  
"Ich möchte dich nicht hintergehen, Cora. Du hast mir diese Chance hier gegeben, wofür ich dir bis ans Ende meines Lebens dankbar sein werde. Ohne dich wäre ich entweder die Sklavin eines Ehemannes oder eine unterbezahlte Krankenschwester. Ich habe übrigens gerade mit der Wohnungssuche begonnen, hab noch etwas Geduld." 
"Das Gastzimmer steht sowieso zu 95% leer. Laß dir bitte Zeit, es hat keine Eile."

Franziska wurde gebucht, und sie erwies sich, mit ihrem Charme und ihrer Klugheit, als das sprichwörtliche beste Pferd im Stall. Herr Renke nahm Sie zu Konzerten, in die Oper, auf Ausstellungen mit. Es war wunderbar, mit ihm diskutieren zu können, da er für die Kunst brannte. Sein Enthusiasmus übertrug sich auf sie, und sie lernte viel von ihm. Er nahm ihr völlig sämtliche Berührungsängste, die sie anfänglich im Bezug auf Kunst jeder Art gehabt hatte. Man konnte sich nicht durch Unwissenheit blamieren. 

"Wissen und Bildung sind relativ, Fräulein Franziska. Es gibt immer Menschen, die mehr als andere wissen. Aber: Niemand weiß alles."  

Sie nahm die Einsätze ernst und sah ihre Arbeit nicht als bequeme Möglichkeit, schnelles Geld zu verdienen, sondern bereitete sich auf ihre Kunden genau vor. Am meistens genoß sie jedoch die Besuche bei Herrn Gauß. Zwischen den beiden entstand ein Verhältnis, das so vertrauensvoll und herzlich war, als handele es sich bei den beiden um Enkelin und Großvater. Franziska hatte mit Cora vereinbart, daß Herr Gauß nicht mehr als Kunde betrachtet werden und für ihre Besuche nicht mehr bezahlen sollte. Die Besuche bei ihm machte sie nicht mehr abends, sondern nachmittags, so daß ihre Einsätze nicht gefährdet waren. 

Als der alte Herr keine Rechnung mehr bekam, erhielt Franziska - unter Protest! - jedes zweite Mal sogar zwei € 500.- Scheine von ihm. 

"Lassen sie mich doch, Fränze. Ich kann es mir leisten, und es macht mir Freude. Ich stehe am Ende meines Lebens, es ist für alles gesorgt, sogar meine Beerdigung ist bereits bezahlt. Ich brauche Geld nicht mehr, und ich möchte verhindern, daß meine undankbaren Kinder und Enkel nach meinem Tod alles an sich reißen. Für wen soll ich also sparen? Sie können vielleicht noch etwas anfangen damit! - Oh, dabei fällt mir etwas Wichtiges ein, Moment, bitte!"

Er wandte sich einer kleinen Kommode zu, die sein Zimmer in der Seniorenwohnanlage in einen Schlaf- und einen Wohnbereich teilte, kramte eine Weile darin herum, und förderte eine kleine, mit dunkelblauem Samt bezogene Schachtel mit gewölbtem Deckel zutage. 

"Da, bitte nehmen sie!" Franziska sah den alten Mann fragend an. 
"Nehmen sie schon, mein Kind. Es ist mir sehr, sehr wichtig." 
Franziska gehorchte, drückte auf einen winzigen Knopf, woraufhin eine Feder den Deckel ruckartig aufschnappen ließ, und stieß einen Laut der Verwunderung aus. 

"Das kann ich unmöglich annehmen, Herr Gauß. Geld ist vielleicht noch etwas anderes, aber das hier ..." 
"Fränze, wir haben uns doch immer so sehr vertraut. Können sie mir nicht bitte diesen Gefallen tun? Ich habe doch niemanden außer ihnen!" 
Fast flehentlich hörte sich das an, und die Stimme des Greises berührte Franziskas Herz und Seele. 
"Er hat ihrer Frau gehört, nicht wahr?" 
"Ja. Als junger Mann hatte ich beruflich lange in Afrika, an einer deutschen Schule in Namibia, zu tun, der Stein wurde mir zum Kauf angeboten, und als ich ihn hier schätzen ließ, zog es mir fast den Boden unter den Füßen fort. Rosafarbene Diamanten sind selten, und wenn sie lupenrein sind .... Ich habe ihn als Halskette fassen lassen und meiner geliebten Irmgard zur Hochzeit geschenkt. Sie war der wichtigsten Mensch in meinem Leben, und jetzt, lange nach ihrem Tod, sind sie es." 

Tränen liefen seine Wangen herunter, wobei die Runzeln seines Gesichts ihnen den Weg vorzeichneten. Franziska umarmte den alten Mann stumm. 
Endlich konnte sie wieder sprechen. 
"Ich bin überwältigt. Ich weiß nicht, was ich sagen soll." 
"Das ist auch nicht erforderlich", erwiderte Herr Gauß. 
"Es Ist doch alles gesagt."

Kai hatte den Umzug endlich hinter sich. Es war zwar etwas schwierig, weil immer noch der eine oder andere Umzugskarton mit den Aufschriften "Schlafzimmer", "Wohnzimmer" oder "Arbeitszimmer" unausgepackt herumstand und ein ständiges schlechtes Gewissen verursachte, und dazu kam, daß er gelegentlich einen Gegenstand oder Kleidungsstück vergeblich suchte. Andererseits, wenn er sich dann mal aufraffen konnte, sich nach seiner Arbeit im Geschäft an die Arbeit zu Hause zu machen, kam es ihm  vor, als träfe er einen guten Freund nach dessen langdauernder Abwesenheit endlich wieder.

Er hatte ein schlichtes Einfamilienhaus mit einem schönen Garten in der Wißmannstraße erworben, in dem zwei große Zwetschgenbäume standen, deren violette Früchte durch das grüne Laub hervorstachen. Ob Franziska das alles hier wohl gefallen würde? Der rote Backstein, die geschwungene Treppe, die zur Eingangstür hinaufführte? Die gemütliche Küche mit dem schachbrettartigen, schwarz und weiß gefliesten Fußboden? Das Badezimmer, in dessen schwarzglänzenden Kacheln man sich überall spiegeln konnte? Franziska ging ihm nicht aus dem Kopf. Bei jeder seiner Handlungen fragte er sich, ob ihr das, was er tat, gefallen würde. 
Die Begegnung mit Annika  überraschte ihn, und erfüllte ihn mit Mißtrauen. Er kannte den Grund für ihren Sinneswandel nicht, aber, ehrlich: Es ließ ihn völlig kalt. 

"Du bist sicher, daß du nicht kommen kannst, Jennifer? Ja. Nein. Ach was, das ist ja nicht deine Schuld, jeder kann mal krank werden. Ich weiß nur noch nicht, woher ich den Ersatz nehmen soll, und, ob der Kunde damit einverstanden ist, er hat ausdrücklich nach dir gefragt. Wie bitte? Zum Arzt? Ja, natürlich! Gute Besserung!" 

Cora legte auf, die Stirn in Sorgenfalten. Sie tippte auf ihrem Laptop herum, nahm dann erneut das Telefon. 

"Cora hier, guten Tag, Miriam! Du, Jenny ist krank geworden, und ich brauche Ersatz ... ach so. Nein, dann geht das natürlich nicht. Herzlichen Glückwunsch! Ich versuche es noch mal bei Sylvie!" 

In diesem Moment betrat Franziska das Büro. "Cora, Liebes, was ist dir denn über die Leber gelaufen? Du siehst ja völlig verzweifelt aus!" 
"Dich schickt der Himmel, Fränzchen! Hättest du Lust auf eine Musikgala heute Abend? Ich weiß, es ist dein erster freier Abend seit Wochen, aber ... Ein etwas ausgeflippter Kunde, eigentlich hat er Jenny angefordert, aber die ist krank, und Miris Bruder hat Geburtstag." 
"Musikgala? Welche Art von Musik?" 
"Ich fürchte, die laute Art! Nimm Ohrstöpsel mit!" 
Beide lachten. 

( Wie im wirklichen Leben. Menschen wie Herr Gauß sind ein Gewinn. Nicht  durch ihre Großzügigkeit, obwohl man durch diese lernt, wie bedeutungslos Geld und Besitz sind. Nein. Durch ihre Güte, ihre Bildung, ihre Erfahrung. Sie weisen einem den Weg. Wenn man jung ist, mag man keine Kompromisse. Und man ist sehr von sich und seinen Ansichten überzeugt. In höheren Lebensjahren wird man freundlicher, umgänglicher. Weniger radikal. 
Ich hoffe sehr, daß Kai sich nicht in seiner Gedankenwelt festbeißt. Er denkt tatsächlich, bei all seinen Handlungen, an Franziska. Ich möchte ihn schütteln und sagen, Hallo, sie ist fort, und ob sie zurückkommt, steht in den Sternen! Aber hätte das Sinn? 
Vermutlich denkt sie schon gar nicht mehr an ihn. Sie bereitet sich nämlich gerade auf den 'ausgeflippten' Kunden und laute Musik vor ... )




"Cora, ich bitte dich: Na klar helfe ich dir aus, das ist doch gar keine Frage!" 
"Du bist ein Schatz! Komm, laß dich drücken! Du hilfst mir sehr!" 
"Was trage ich?" 
"Frisur und Make-up: Irgendwas zwischen Madonna und Lady Gaga, Kleid: Betont schlicht." 
Franziska schüttelte sich. 
"Grauenhaft! Naja, ich überlebe es wohl! Es wird ja wohl nicht ansteckend sein!"

"Mein Name ist Hempe, Benedikt Hempe. Ist Jenny fertig? Ich will sie abholen!" 
"Ich bin untröstlich, Herr Hempe, Jennifer ist schwer erkrankt und kann heute Abend nicht an Ihrer Seite ..." 
"Was? Ausgerechnet heute? Wieso das denn? Scheiße! Was mache ich bloß? Ich kann da doch nicht als Single auftauchen, wie sieht denn das aus?" 
"Könnten Sie sich eventuell mit einer anderen Dame ... " 
"Kommt nicht in die Tüte, meine Freunde kennen Jenny, und .... Donnerwetter!" 

Franziska war die Treppe heruntergekommen und sah einfach atemberaubend aus. Schneeweißchen und Rosenrot hatten sie wie eine Hollywood-Diva hergerichtet, und dennoch strahlte sie eine frische, zauberhafte Lieblichkeit aus. 
"Wenn sie Franziska nicht mögen, könnte ich noch .... " 

"Nicht mögen? Die Frau ist ja der Oberhammer! 'Ne glatte Zehn!" Er hielt ihr den Arm hin. 
"Du bist der Wahnsinn! Ok, Baby, let's go! Ich bin übrigens der Bene!"

Ja, es war laut. Sehr laut, sogar. Benedikt, ihr Begleiter, war, so viel hatte sie mitbekommen, Producer oder Songwriter oder beides, sprach ständig von Gigs und Locations und Chartplatzierungen, Themen, zu denen sie nicht wirklich viel beitragen konnte, außer freundlich zu lächeln, sich sexy zu bewegen und an passender Stelle "Nein wirklich? Wie aufregend!" zu rufen. 

"Hey Bene, wer ist denn die geile Schnecke, die du da im Schlepptau hast?" 
"Eine gute Bekannte! Franziska!" 
Solche und ähnliche zweifelhaften Komplimente hörte Fränze den ganzen Abend lang, dabei schien ihr Begleiter gar nicht so verkehrt zu sein. Seine wasserblauen Augen leuchteten, er hatte Spaß, sah fantastisch aus, sein blondes, wild gelocktes Haar hatte er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Man sah ihm an, daß außer seinem Büro sein zweitliebster Aufenthaltsort vermutlich das Fitnessstudio war. 

Fränze lernte an diesem Abend sehr viel Menschen kennen, Prominente, und "wichtige Leute", also Leute mit Geld oder Beziehungen, wie sie von Benedikt lernte.  Und sie genoß es, immer wieder im Mittelpunkt zu stehen, wenn die wichtigen Leute mit ihr flirteten. 

"Kontakte zu knüpfen ist zwingend notwendig in diesem Business, und du hilfst mir dabei, Fränze! Nichts bringt einen weiter als konsequentes Networking! Und du bist ein Magnet. Du bist der Hingucker!" 
"Ich freue mich, wenn es dir nützt, Benedikt!" 
"Hey, Süße, warum so förmlich? Sag doch einfach Bene zu mir!" 
"Na gut, Bene also..." 
"Geht doch! Na also!"

In den frühen Morgenstunden brachen sie auf. 
"Glaubst Du an Zufälle?" fragte Benedikt. 
"Du hast mir heute so viel Aufträge eingebracht, daß ich mindestens ein Jahr leben kann! Danke dafür! Ich liebe dich!" 
"Ist doch gern geschehen", entgegnete Franziska warmherzig. 
"Ich bin zwar so gut wie taub, aber ich kann immerhin noch von den Lippen ablesen!" 
Sie lachten. 
"Sehen wir uns wieder?" 
"Bestimmt! Es hat mir viel Spaß gemacht!" 
Er näherte seinen Kopf dem ihren und flüsterte, als dürfe kein Außenstehender seine Worte hören. Dabei war außer den beiden niemand da. 
 
"Du warst wirklich toll, Fränze, nochmals danke. Wir waren ein super Team heute Abend. Mit dir an meiner Seite könnte ich alles erreichen!" 

Sie legte den Kopf in den Nacken, um ihn anzusehen, da berührten seine Lippen weich und zärtlich die Ihren, ganz vorsichtig, zunächst, dann leidenschaftlicher, fordernder. Sie stöhnte leise auf, ihr Herz schlug schneller, und Schmetterlinge führten in ihrem Bauch einen wilden Tanz auf. 

"Nicht hier, das geht nicht!" 
"Warum nicht?" 
"Wirklich, glaub mir einfach ... nicht hier!" 
"Nicht vor dem Tor des Klosters?" 
Er kicherte belustigt. 
"Na gut! Dann fahren wir jetzt zu mir!" 
"Bene, sei doch vernünftig!" 
"Magst du mich denn nicht, Fränze?" 
"Doch, sehr, aber das geht mir alles ein bißchen schnell!" 
Benedikt strahlte sie an. 
"Ich weiß eben, was ich will! Aber vielleicht hast du recht. Darf ich dich morgen abholen? Ganz privat?" 
"Vielleicht!" 
Franziska lächelte. 
"Wenn ich dann wieder hören kann?" 

Zunächst hatte er die Tür gar nicht öffnen wollen. Als es klingelte, lief gerade die Tagesschau, und Kai hatte sich schon seiner Kleidung entledigt und trug einen schicken dunkelgrauen Bademantel aus Waffelpique mit Kapuze. Aber der Störenfried gab nicht auf. Es klingelte immer wieder, irgendwann, beim Wetterbericht, gab er dann nach und ging lustlos zur Eingangstür. 

"Ich wußte, das du da bist. Überall Licht, dein Auto auf der Straße, der Fernseher ... " 
"Annika! Was um Gotteswillen kann ich für dich tun?" 
"Oh, du könntest mich hereinbitten, mir irgendetwas anbieten, und dich über meinen Besuch freuen!" 
Kai schaute sie mit ironischem Lächeln an. 
"Wie hast du mich überhaupt gefunden?" 
"Du meinst, die Wißmannstraße 14b? Ach, ich habe da so meine Beziehungen. Mein Vater, du weißt! Ich habe dir was Feines aus unserem Weinkeller zum Einzug gebracht, einen leckeren Rotburgunder von 2002!" 
"Ich trinke fast nie Alkohol. Was ist das für eine Show, die du hier abziehst? Du hast mich früher nie wahrgenommen, und wenn du es jetzt tust, dann nur, weil du denkst, daß du irgendeinen Nutzen davon hast. Was willst du?" 
"War ich denn wirklich so furchtbar, Kai? Ich wollte doch nur, daß alle mich mögen, und zu allen nett sein. Und jetzt kann mich keiner mehr leiden. Ich habe neulich Marten Kohfahl getroffen, mit dem ich zu Schulzeiten mal ein halbes Jahr zusammen war ... er ist nicht mal stehengeblieben, mit seiner ständig schwangeren Frau!" 
"Du hast ihn damals wegen Michael Berger fallenlassen wie eine heiße Kartoffel. Worüber wunderst du dich eigentlich?" 
"Vermutlich hast Du recht!" 
Resigniert zog Annika die Schultern hoch. 
"Alles meine Schuld. Entschuldige, ich wollte dich nicht belästigen!" 
Sie wandte sich der Tür zu, um zu gehen. 
"Annika!" 
Sie sah ihn traurig, aber hoffnungsvoll an. 
"Jetzt setz' Dich erstmal hin. Hast Du Hunger?" 
"Wahnsinnigen Hunger! Ich bin mal wieder auf Diät!" 
"Mein Kühlschrank ist so gut wie leer, aber im Tiefkühlfach habe ich Eiscreme!" 
"Low-fat?" 
"Igitt!" 
"Egal! Her damit! Und tschüß, Diät!" 
"Die hast du doch sowieso nicht nötig!" 
Annika lächelte dünn. 
"Ich nehme auch immer an den falschen Stellen ab!" 

Cora sah es nicht wirklich gern, daß Franziska und dieser Benedikt sich immer häufiger trafen. Der Mann sah brillant aus, wessen er sich auch völlig bewußt war, hatte Charme, war witzig und intelligent, aber auch ein Macho, und nur sehr schwer einzuschätzen. Und ganz offensichtlich hatte Fränze sich in ihn verliebt. 

"Hattest du nicht mal etwas gesagt von 'Nie-wieder-auf-einen-Kerl-reinfallen', Fränzchen?" wunderte sich die Agentur-Chefin. 
"Ich dachte, dein Landwirt hätte dich ein für alle Mal kuriert!" 
"Bene ist ganz anders! Er ist impulsiv, und temperamentvoll, und ich denke, er liebt mich auch! Er sagt, er habe noch nicht mal was dagegen, wenn ich hier weiterarbeite! Er läßt mir vollkommene Freiheit! " 
"Das sind die Schlimmsten", ächzte Cora. 
"Aber tu', was du nicht lassen kannst. Du bist ja erwachsen!" 

An diesem Abend wirkte Benedikt sehr zerstreut. 
"Warum reagiert der Hagemeister nicht auf meine Mails? Sein Sekretariat hat mich schon dreimal vertröstet! Dabei schien der auf der Gala so interessiert!" 
"Ist das denn bedeutungsvoll?" 
"Bedeutungsvoll? Der Mann ist im Augenblick noch einer meiner Hauptgeldgeber! Ich konnte ja einige Kontakte knüpfen, aber in dieser Branche ... Zusage gemacht, Zusage gebrochen, das geht ganz fix, wenn du keinen schriftlichen Vertrag hast! Man müßte ... ach Quatsch!" 
"Was müßte man?" 
"Vergiss es einfach, das war blöd!" 
"Nun sag schon, was müßte man?" 
"Ein Event! Ein Event wäre gut! Etwas, wo man Leute einladen kann, so wie diese Gala, weißt du?!"
Ein Einfall erhellte sein Gesicht. 
"Hey .... und wenn wir heiraten?" 
"Bitte?" 
"Ja, so eine Hochzeit, mit Blumen und Kutsche und allen Schikanen, das wäre es doch!" 
Franziska legte die Stirn in Falten. 
"Also, ich hatte mir sowohl den Antrag als auch meine Hochzeit irgendwie romantischer vorgestellt!" 
Benedikt fiel spontan auf die Knie. 
"Holde Franziska, willst du für immer den Namen Tauber ablegen und künftig eine Hempe sein? Mach mich glücklich!" 
"Du machst dich lustig über mich, das ist nicht schön von dir!" 
"Fränze, bitte, tu' es für mich! Ich brauche deine Hilfe dringend!" 
"Ich denke drüber nach, o.k.?"

Der Umzug in Benedikts Wohnung war ein Kinderspiel, zumal Fränze Hilfe ihrer Kollegen und Kolleginnen aus der Agentur hatte. Platz für ihre persönlichen Gegenstände war reichlich, denn Bene schien keine zu haben, nicht einmal ein Buch, eine Zeitung, ein Bild an der Wand oder ein Reiseandenken fanden sich, nur eine Stereoanlage mit überdimensionalen Lautsprechern, und ein riesiges Flatscreen-Fernsehen, das die kahle Mauer schmückte. 

Im Kühlschrank lagen eine Flaschen Champagner, ein Päckchen Kaffee und zwei Joghurts, die bereits abgelaufen waren, die Küche war sonst leer bis auf eine Dose Kaffeeweißer, einige lieblos ausgewählte Teller und Tassen und wenige Besteckteile. 

"Bist du sicher, daß überhaupt jemand hier wohnt?" 
Fränzes Kollegin Nina wunderte sich.
"So sieht es in einer Wohnung nach meinem Auszug aus!" 
"Das ist typisch für Bene", lachte Franziska, aber es klang etwas aufgesetzt und gekünstelt. 
"Na gut. Vielleicht kann ich ihn ja ein wenig veredeln! Es gibt viel zu tun, packen wir's an!" 
"Wenns einer schafft, dann du! Und wenn es einfach wäre, könnte es ja jeder!" 

"Soll ich dich nach Hause fahren?" Kai und Annika hatten lange miteinander gesprochen, die Uhr zeigte weit nach Mitternacht. 
"Das ist zu weit, am anderen Ende der Stadt! Du kannst nicht um diese Zeit eineinhalb Stunden durch die Gegend fahren, kommt gar nicht infrage!" 
"Ich könnte dir auch mein Bett anbieten, ich schlafe hier auf der Couch!" 
"Wenn du mich übernachten läßt, ist das sehr lieb von dir, aber das kommt nicht in die Tüte, daß du auf der Couch schläfst. Das werde ich übernehmen. Keine Widerrede!" sagte sie vorbeugend, da Kai den Mund öffnete, um zu protestieren. 
"Ich zeige dir, wo alles ist. Treppe hoch, rechts ist das Bad, links ist mein Schlafzimmer, geradeaus mein Arbeitszimmer, das Zimmer hinten rechts ist noch nicht fertig, wird aber Gästezimmer. Es hat einen kleinen Balkon!" 
Er gab ihr Laken, Kopfkissen und Bettdecke. Dann gingen sie schlafen.. 

( Was ist denn jetzt los? Hatte Franziska nicht was von "sich selbst finden" gesagt, und sie wisse nicht, was sie wolle? Und nun kommt dieser Macho daher, der nur mit dem Finger schnipst - anders, als der brave, rücksichtsvolle Kai? Was ist mit den Frauen los? Höflich, respekt- und rücksichtsvoll kommt nicht gut. Frauen mögen die bösen Buben. Naja, schon recht. Wenn die Beziehung eine Zukunft hat, warum nicht? 
Kai ist auch ein wenig langweilig. Oder? Wie sein verstorbener Vater. Hätte seine Mutter gesagt. Freundliche, zuverlässige Menschen neigen ja immer etwas dazu, farblos zu sein. Was soll man dagegen tun? Kann man einfach so aus seiner Haut? Und muß das überhaupt sein? ) 



Kai erwachte, als es an seiner Tür wiederholt und vorsichtig klopfte. Erst dachte er, es gehöre zu seinem Traum. Dann realisierte er, daß da tatsächlich jemand klopfte. 
"Ja bitte?" 
"Ich wollte dir nur sagen, Kai: Ich habe Angst bei Gewitter!" 
"Wieso? Gibt's denn Gewitter?" 
"Noch nicht, aber es könnte doch eins geben, oder?" 
Sie schlüpfte unter seine Decke. 
"Beschütze mich, bitte." 
Ihr Körper schmiegte sich an ihn. Er spürte ihre Haut. Verdammt, ihre Haare dufteten gut ... 
"Hast Du eben an meinen Haaren gerochen?"
"Nein, ich ... ich wollte ... wie kommst du nur darauf?"
"Du hast an meinen Haaren gerochen!"

Ihre Lippen berührten seinen Hals. Sie streichelte seine Brust. Langsam glitt ihre Hand tiefer ... er atmete schwer. Ein unbeholfener Versuch, sich zu wehren ... 

"Sag nicht, daß du es nicht willst", flüsterte sie. Sie dirigierte seine Hand in Richtung ihres Unterleibs ...

"Faß mich da an", stöhnte sie.

Er war erregt. Sein Schwanz pochte. Die pulsierende Spannung schmerzte etwas. Sie streichelte seine Brustwarzen, dann massierte sie sanft sein hartes Glied. Er versuchte vergeblich, einen klaren Kopf zu bewahren. Aber sehr schnell gab es für ihn kein Halten mehr. Er griff mit beiden Händen ihre Brüste, streichelte sie, saugte an den unter seinen Berührungen sich erhärtenden Warzen. 

Er wanderte mit seiner Zunge herunter, pausierte kurz an ihrem Bauchnabel, und setzte dann die Reise nach unten fort. Aufstöhnend spreizte sie ihre Schenkel. Ihr Unterleib bäumte sich ihm entgegen. Ihre Feuchtigkeit hinterließ nasse Spuren auf dem Laken. 

Kai tauchte zwischen ihren Beinen auf, brachte sich in Position und drang in sie ein. Sie stöhnte, sie schrie. Wogen der Lust durchfluteten ihre Körper. Kai war schweißnaß. Annika sog seinen Duft tief in sich ein. Sie hielt seine festen Arschbacken mit beiden Händen, als wolle sie ihn tiefer in sich hineinziehen. Er stieß zu, schneller, langsamer, wieder schneller. Dann konnte er sich nicht länger zurückhalten. Er explodierte in ihr. Im Rhythmus seines Höhepunktes stieß er tief und hart zu, um dann erschöpft auf ihr liegenzubleiben.

"Bitte entschuldigen sie, lieber Herr Gauß, daß ich sie so außerplanmäßig überfalle, aber ich bin so glücklich! Ich werde heiraten, und ich wollte sie hiermit persönlich ganz herzlich zu der Feier einladen, auch im Namen von Benedikt!" 

"Benedictus, der Gesegnete! Gesegnet der Mann, der sie als Braut heimführt, Franziska! Mein liebes Kind, ich habe ihre Besuche immer als Grund zur Freude angesehen, und nichts macht mich froher, als sie glücklich zu wissen, auch wenn ich zugeben muß, daß der Gedanke, sie ab jetzt teilen zu müssen, mir nicht behagt und - ich bin selbst verblüfft - mich mit einem lang vergessenen Gefühl der Eifersucht erfüllt." 
Er lachte vergnügt. 
"Nehmen sie einem alten Mann seine unbeholfenen Scherze nicht übel, Franziska, ich bitte sie!" 
"Ich könnte Ihnen niemals etwas verübeln, Herr Gauß, und die Verbindung, die wir beiden zueinander haben, bleibt. Vielleicht werde ich etwas weniger Zeit als früher haben. Aber ich würde mich sehr freuen, wenn ich sie auch weiterhin besuchen darf." 
"Aber sehr gern, Franziska. Zwischen uns ändert sich ja nichts, nicht wahr." 
"Werden sie kommen? Bitte, machen sie es doch möglich!" 
Der alte, fast blinde Mann schüttelte den Kopf. 
"Ich gäbe viel darum, sie zum Traualtar führen zu können, aber die Strapazen einer solchen Feier sind für mein schwaches Herz vermutlich zu viel. Ich fühle mich nicht belastbar genug. Ich werde aber in Gedanken bei ihnen sein, und ich wünsche ihnen alles Glück dieser Welt!"

"Willst du, Benedikt Hampe, diese hier anwesende Franziska Tauber, zur Ehefrau nehmen, sie lieben und ehren, in Glück und Unglück, Reichtum und Armut, Gesundheit und Krankheit, bis das der Tod euch scheidet, so antworte mit 'Ja'!" 
Die geforderte Antwort kam, wie aus der Pistole geschossen, hörte sich aber mehr wie: "Na klar!" an, und auch Franziska erklärte sich auf die Frage von Pastor Peleikis hin einverstanden. 

Die anwesenden Gäste waren größtenteils Benes 'wichtige Leute', aber auch Cora und Alexander, Daniela und Ann-Kathrin, genannt Schneeweißchen und Rosenrot, die die strahlende Braut für den Anlaß hergerichtet hatten. Und ein paar von Franziskas Kolleginnen. Jennifer war nicht in der Petri-Kirche erschienen. Sie beharrte darauf, daß Fränze sich ihren 'dicken Fisch' vor der Nase weggeschnappt habe und war noch immer beleidigt.  
Cora umarmte Franziska und drückte sie heftig. 
"Meine Tür steht immer offen für dich, Fränzchen!" 
Auch Alexander von Kostka, der in einem weißen Anzug und gelbgrundigem Plastron hinreißend aussah, wirkte traurig. 
"Ich hoffe, der Kerl macht dich glücklich, Franziska, sonst kommst du schnell wieder zu uns, hörst du?" 

"Wo ist eigentlich der Bräutigam", fragte Raffaela, die als beste Freundin die Rolle der Trauzeugin erfüllt hatte. 
"Der hat sich mit diesem Hagemeister zurückgezogen ... dringende Geschäfte, angeblich!" 
"Das ist komisch, findest du nicht?" 
Fränze gab sich den Anschein, als sei die Abwesenheit des Bräutigams ohne Belang.
"Warum? Bene kümmern diese gesellschaftlichen Regeln überhaupt nicht." 
"Na ja gut, aber das hier ist eure Hochzeit und kein Diskobesuch." 

Aus der Kirche war die Hochzeitsgesellschaft in das Grand Hotel umgezogen, in dessen großem Ballsaal bereits weitere Gäste an den aufgestellten Tischen mit der üppigen Tischdekoration saßen. Der Schmuck bestand aus großen Glastellern mit kunstvoll arrangierten Birnen, Äpfeln und Trauben sowie zartrosa Rosenblüten, um die man Efeurispen gerankt hatte, die offenbar planlos, keinem Muster folgend, über den Tisch zu wuchern schienen. 

"Ich wollte, meine Eltern hätten diesen Tag noch erleben können", sinnierte Franziska. 
"Wo sind Bene's Eltern?" erkundigte sich Raffaela. 
"Die leben in Florida, außerdem hat er nicht das beste Verhältnis zu ihnen." 
"Trotzdem: Wenn mein Sohn heiratet, würde ich doch meine Schwiegertochter kennenlernen wollen, und natürlich umgekehrt ... auch die Schwiegereltern!"
Die Freundin sprach streng.
"Ja, du hast schon recht, aber das ist nicht mehr zu ändern." 
"Kai hast du nicht eingeladen?" 
"Nein, ich glaube, es hätte ihm zu weh getan. Er hat sich wohl irgendwie Chancen bei mir ausgerechnet, aber nun ist ja alles anders gekommen, nicht?" 

Alexander von Kostka näherte sich. Die kleine Combo hatte mit der Musik begonnen, im Hintergrund wurde das Buffet von den Hotelbediensteten aufgebaut. 
"Darf ich bitten?" 
Alex verneigte sich tief vor Franziska. 
"Es ist ja wohl völlig unmöglich, daß die Braut nicht den Tanz auf ihrer eigenen Hochzeit eröffnet. Wo ist denn der Bräutigam?" 
"Dringende Geschäfte, Alex! Irgendwelche unerläßlichen Verhandlungen über lebenswichtige Produktionen!" 
"Was kann den bedeutender sein, als mit der strahlenden Braut zu tanzen?"
"Bene ist eben unkonventionell!" 
"Aha." 
"Sag nicht 'aha' mit dieser hochgezogenen rechten Augenbraue!" 
"Soll ich die Linke hochziehen? Das geht auch!" 
"Alex, Du bist albern. Komm, laß uns das Tanzbein schwingen!" 

"Darf ich abklatschen?" 

Der kleine, dicke Pastor Peleikis schwitzte zwar jetzt schon, und sein hochroter Kopf sah aus, als könne er jeden Moment explodieren. 
"Immerhin steht geschrieben: Vergeßt nicht, Gutes zu tun und mit den anderen zu teilen, denn über solche Opfer freut sich Gott. Hebräer 13, Vers 16!" 
Er förderte aus seiner Hosentasche ein schneeweißes Stofftaschentuch zu Tage und betupfte sich die Stirn.
Für seine Körperfülle zeigte er sich erstaunlich geschmeidig und behände, und er schwenkte die schöne Braut im Kreise herum. 
"Wo ist eigentlich der Bräutigam?" wollte er von seiner Tanzpartnerin wissen. "In der Hotelhalle, glaube ich, mit diesem Herrn Hagemeister. Geschäftliche Besprechung. Mein Gatte ist unglaublich fleißig!"
"Im Ernst? Welcher frischgebackene Ehemann zieht denn, bei allem Eifer, Geschäfte einer so schönen Frau vor?" 
"Aber Herr Pastor, so ein Kompliment von ihnen!" 
"Warum denn nicht?" 
"Naja, als Mann der Kirche ..." 
"Nun, wie heißt es bei Sirach 36, Vers 27? Die Schönheit einer Frau bringt das Gesicht des Mannes zum Strahlen; für seine Augen gibt es keinen schöneren Anblick. Immerhin, liebe Franziska, ich bin auch nur ein Mann, und ich habe Augen im Kopf, auch wenn ich inzwischen die Hilfe einer Gleitsichtbrille benötige..." 
Sie lachten beide.

Cora war Franziska gefolgt, als sie auf den Balkon herausgetreten war, um sich etwas Abkühlung zu verschaffen. 
"Du wirkst leicht gestreßt, meine Süße! Wo ist denn ..." 
"... HALT! Sag bitte nichts! Wenn ich noch einmal gefragt werde, wo Bene ist, werde ich wahnsinnig! Ich habe ihn zuletzt vor dem Altar gesehen, und dann ist er mit diesem Hagemeister abgezogen. Ja, ich finde es auch komisch. Und nein, ich weiß auch nicht, warum." 
"Entschuldige, Fränzchen, ich wollte Dich nicht traurig machen." 
"Cora, ich will hier weg. Bitte, rette mich und hilf mir, hier herauszukommen!" 
"Du trittst die feige Flucht an? Na gut, Alex und ich bringen dich nach Hause." 

Nachdem Franziska Cora und Alex versichert hatte, daß sie nunmehr allein klar käme, kickte sie unmittelbar nach dem Zufällen der Wohnungstür die wundervollen weißen, lackledernen, aber dennoch unbequemen Pumps von den Füßen. Sie nickte ihrem Abbild im Flurspiegel mit einem "Guten Abend, Frau Hempe!" zu. Dann entstieg sie dem Brautkleid, das sie einfach zu Boden sinken ließ,  und ließ sich rücklings aufs Bett fallen. 

Man konnte nicht wirklich behaupten, daß sie guter Laune war. Sicher hatten alle bemerkt, daß der Ehemann an seiner Angetrauten keinerlei Interesse zeigte. Nun ja. Mehr als ein "Event" hatte es ja auch nicht sein sollen. Aber er liebte sie doch, das hatte er zumindest immer wieder gesagt! Sah das so bei ihm aus? War das seine Definition von Liebe? 

Kai zog, als er erwachte, vorsichtig Annikas Kopf haltend, seinen Arm unter diesem hervor und knickte das Kissen in der Absicht, die so entstandene Lücke auszugleichen, damit sie bequem weiterschlafen konnte. Aber vergeblich. Sie blinzelte, sah einen Moment lang überrascht aus, schien sich plötzlich zu erinnern, lächelte und murmelte "Guten Morgen!" 
"Guten Morgen, Anni", lächelte Kai. "Gut geschlafen? Hinterher, meine ich?" 
"Wie eine Tote!"
"Lust auf Frühstück?" 
"Ja, aber erst Zähneputzen. Verflixt, ich habe gar nichts zum Wechseln dabei! Wenn ich geahnt hätte, daß eine Übernachtung mit Sex daraus wird ..." 
"Bediene dich gerne bei meinen Sachen. Nur mit einem Büstenhalter kann ich naturgemäß nicht aushelfen!" 
"Ach, die halten auch von allein! Sind ja eh nicht besonders groß!" 
Kai lachte anzüglich. 
"Wieso? Genau richtig! Zwei Hände voll!" 
Sie grinste frech. 
"Ich finde, es könnte mehr sein. Aber keine Angst, ich leide nicht darunter!"

Als Annika sich in der Küche an den Frühstückstisch setzte, hielt Kai den Atem an. Warum eigentlich sah sein kobaltblau-schwarz kariertes Flanellhemd an ihr so viel besser aus? Dazu trug sie ihre Jeans und schwarze, hochhackige Peeptoes.
"Jetzt weiß ich wieder, warum ich Dich damals so toll fand", sagte er, seinen Gast mit zusammengekniffenen Augen musternd. 
"Nicht nur ich ...", korrigierte er lächelnd. "Tee?" 
"Ja bitte!" 
Sie warf zwei Süßstofftabletten in die Tasse. Schweigend tranken sie den Tee und aßen die Croissants, die er rasch vom Bäcker geholt hatte. 
"Die Erdbeermarmelade habe ich selbst gekocht!" 
"Wirklich? Die ist superlecker! Was Du alles kannst!" 
Erneutes Schweigen. 
"Sag mal ... du nimmst doch die Pille, oder?!" 
"Ja, na klar. Und ich bin immer sehr korrekt mit Tabletten. Ich hab eine Zahnbehandlung, und muß regelmäßig Penicillin nehmen!"
"Könntest du dir eigentlich vorstellen, mit mir ... "
"Nein, auf keinen Fall, Anni. Es war wunderschön, gestern Nacht, aber ..."

Hastig erhob sie sich. 

"Danke für alles. Deine Sachen schicke ich dir, ja?" 
"Warte doch, Anni! Geh nicht so. Laß uns wenigstens Freunde bleiben, ja?" 
Annika lachte bitter. 
"Wenn du wüßtest, wie oft ich diesen Satz schon gehört habe! Von allen Sätzen auf der Welt ist dieser der grausamste!" 
"Nicht, wenn er so gemeint ist, wie ich es gesagt habe. Ich bin dein Freund. Verlaß dich auf mich." 
Er nahm sie in den Arm und küßte sie auf die Stirn. 
"Du bist verliebt, oder?" 
Ohne zu zögern, nickte Kai. Sie ergriff seine Hand, drückte sie an ihre Wange, dann verließ sie Kais Haus. 

Daß ihr die Tränen übers Gesicht liefen, konnte er nicht mehr sehen.


( Männer sind nicht besonders schwer zu verführen, oder? Vermutlich ist das ein Urinstinkt, Erhaltung der Gattung, und hat was mit Atavismus in Kombination mit chemischen Reaktionen zu tun. Alles biologische Notwendigkeit, sagen sie? Das ist sicher richtig. Und Kai wäre nicht der erste, der ein Opfer seiner Hormone wurde. Ein Druck auf den richtigen Knopf, und der Verstand geht in Pension. 
War die Hochzeit ein Fehler? Ein starkes Stück, bei der eigenen Feier durch Abwesenheit zu glänzen! Und Franziska in Erklärungsnot zu bringen. Da ist der Begriff 'unkonventionell' ein Euphemismus. Ich finde, er ist ein Arsch.
Hoffentlich denkt Annika daran, die Penicillin-Tablette rechtzeitig einzunehmen ... obwohl ... gab es da nicht einen Zusammenhang zwischen Pille und Antibiotika?



"Wir haben geheiratet, schon vergessen?" 

"Ich weiß, Franzi, ich weiß, aber du warst plötzlich verschwunden!" 

Benedikt sah sie vorwurfsvoll an. Sie schnappte nach Luft.

"Plötzlich verschwunden? So ziemlich jeder kam auf mich zu und fragte mich, warum der Bräutigam sich nicht an der Seite seiner Frau befände. Irgendwann hatte ich keine Lust mehr, zu antworten, und auch nicht, allein auf meiner eigenen Hochzeit herumzusitzen!" 
"Schatz, das tut mir so leid, wirklich! Ich mache das alles wieder gut, o.k.? Hier, mein Hochzeitsgeschenk für dich!" 

Er warf einen Umschlag auf den Tisch. Sie nahm ihn an sich und öffnete ihn. "Das sind Tickets für die MS Amneris!" 
"Das hast du ganz richtig erkannt! Wir zwei machen eine hinreißende Kreuzfahrt in die Karibik!" 

Ach, er war doch ein Schatz! Alles vergeben und vergessen! 

"Bene, wie wunderbar! Ich freue mich so! Entspannung, Ausflüge, und faulenzen den ganzen Tag!" 
Benedikt sah auf den Boden. 
"Naja, faulenzen ... Holthusen wird auch an Bord sein, deswegen habe ich uns kurzfristig ..." 
Er brach ab, weil Franziskas Gesichtsausdruck nichts Gutes verhieß. 
"Bitte wiederhole das noch einmal. Unsere Hochzeitsreise wird also genauso ein ... 'Event' ... wie unsere Hochzeit? Wer ist noch an Bord?" 
"Niemand sonst, wirklich ... naja, noch Lühmann, und vielleicht Viehbrock. Franzi, bitte ... " 
Er sprach in so flehentlichem Ton, daß, trotz ihrem Ärger, ihr Mitleid geweckt wurde. 
"Ach Bene", sagte sie leise, mit einem Unterton, der ihre Enttäuschung verriet. 
"Bitte, sei mir nicht böse, Liebes. Ich weiß, daß es für dich eine ziemliche Zumutung bedeutet. Aber ... es geht mir nicht wirklich gut, finanziell, aber die Hochzeit war auch nicht ganz billig, und ich kann auf Hagemeister und Lühmann einfach nicht verzichten. Es geht um alles, meine ganze Existenz hängt davon ab!" 
"In guten wie in schlechten Zeiten .... ich hatte nicht damit gerechnet, daß unsere Ehe gleich mit den schlechten Zeiten beginnt! Aber wenn es denn so ist, müssen wir da eben durch. Wir schaffen das schon. Zwei gegen den Rest der Welt!" 
Bene sah zu Boden. 
"Franzi, ich .... ich hätte da eine Bitte an dich. Der Hagemeister steht irgendwie auf dich, und er hat mich gefragt, ob er dich nicht einmal groß ausführen darf!"
"Benedikt! Ausgerechnet Hagemeister! Dieser Schmierlappen!" 
"Ich ... ich ... habe ihm eigentlich schon zugesagt. Du hast doch im Escort-Gewerbe gearbeitet und bist an derlei gewöhnt, oder?" 
In Franziskas Kopf wirbelten die Gedanken herum, wie ein Hurrikan. Was sollte sie tun, welche Entscheidung war richtig? In guten wie in schlechten Zeiten ... Konnte sie verantworten, durch ihre Weigerung Benes und damit ja letztlich auch ihre gemeinsame Existenz aufs Spiel zu setzen? Sie hatte immerhin geschworen, an seiner Seite zu stehen, was auch immer passierte. Andererseits: Hagemeister? Konnte er allen Ernstes das von ihr einfordern? 
Mit Schaudern erinnerte sie sich daran, wie sie diesen Mann erstmals auf der Musikgala kennenlernte, die anzüglichen Blicke und schlüpfrigen Bemerkungen! Aber, mußte man nicht auch Opfer bringen, wenn es um alles ging?  
"Ja, richtig. Aber ich konnte mir aussuchen, wen ich begleitete. Gut, Bene. Ich mach's. Aber nur für dich, und nur dies eine Mal!" 
"Du bist eine Heilige, Franzi!" 
Sie zuckte die Schultern. 
"Ich kann mich nur an wenig Heilige erinnern, die Leuten wie Hagemeister zu Willen waren!" 

Bist du verliebt, hatte Annika gefragt. Sofort war Fränzes Bild in seinen Gedanken aufgetaucht. Ja, Kai war verliebt, und er wollte sie wiedersehen. Dieser Wunsch schien aber nicht auf Gegenseitigkeit zu beruhen. Sang- und klanglos war sie aus der Stadt verschwunden, sie hatte sich melden wollen, es dann aber doch nicht getan. Es ging ihr doch wohl gut, oder? Warum bloß meldete sie sich nicht? Sie waren nicht im Bösen auseinandergegangen, aber egal wie: Es sah ihr einfach nicht ähnlich, sich einfach so in Luft aufzulösen. Nun gut, wenn Sie sich nicht meldete, dann mußte er sie eben suchen. 
Zwei Abende verbrachte er vor seinem Laptop mit der Internet-Recherche, aber der Name Franziska Tauber oder Fränze erschien nirgendwo. Wie hieß ihre Freundin? Raffaela. Ela, hatte sie sie genannt. Ach ja, und Bankangestellte war sie. 
Er mußte in die Stadt fahren. 
In allen Banken, in denen er nachfragte, begegnete man ihm teilweise mit Mißtrauen, teilweise mit professioneller, kalter, aufgesetzter Freundlichkeit, mit der Kreditinstitute vortäuschen, den Kunden ein Dienstleister zu sein. Nein, man bedauere, eine Raffaela arbeite hier nicht, außerdem ... der Datenschutz, nein, dieses Ansinnen sei völlig unmöglich. Da könnte ja jeder ... .

Er betrat die Sparkasse und wunderte sich über die großen Plakate, die verkündeten, daß man auf Reisen, neue Autos oder eine schicke neue Wohnungseinrichtung nicht lange warten müsse - mit einem Kredit dieses Instituts. Und wo war eure Unterstützung, als mein Vater euch so dringend brauchte? Der Vorstand habe leider den Kredit abgelehnt, man bäte um sein Verständnis. Mangelnde Sicherheiten, fragliche Förderungswürdigkeit ... Ob er denn keine Möglichkeit habe, von privat Geld aufzunehmen? Nein? Wie schade. Alles Gute. 

Er trat an einen der Schalter heran - und traute seinen Augen kaum. Da saß Raffaela mit einem Telefonhörer in der linken Hand, während sie mit einem Bleistift in der rechten Hand auf den Tasten ihres Keyboards herumtippte. 

Nach Beendigung des Anrufs erhob sie sich und trat auf Kai zu. 
"Guten Tag, was kann ich für sie tun?" 
"Raffaela, erinnern sie sich noch an mich? Kai? Kai Kleinert? Der Bekannte ihrer Freundin Franziska? Der aus der Bahn?" 
"Richtig! Der sie damals zu ihrem Beinahe-Ehemann fuhr und dann mit ihr floh, nicht wahr? Wie haben sie mich gefunden? Und warum überhaupt haben sie mich gesucht?  Was kann ich für sie tun?" 
"Ich bin auf der Suche nach Franziska, Raffaela. Ich habe versucht, sie zu finden, aber obwohl sie versprochen hatte, sich zu melden, hat sie genau das nicht getan. Jetzt brauche ich Ihre Hilfe. Ich bin durch die halbe City gewandert und Bank für Bank abgeklappert. Daß sie hier saßen, ist ein wunderbarer Zufall! Fast hätte ich aufgegeben! Wissen sie, wo Fränze ist, und wie ich sie erreichen kann?" 
Raffaela schwieg betreten. 

"Ich denke, wir sprechen in Ruhe darüber, Kai. Ich habe heute um 17 Uhr Dienstschluß, und wenn sie mögen, holen sie mich ab. Vielleicht können wir uns auf eine Latte zusammensetzen."

Das Café, das sie ansteuerten, lag in einer Einkaufspassage in der Nähe des Rathauses. Kai hatte einen Ceylontee gewählt, Raffaela bestellte eine Vanilla Latte. 

"Ich weiß gar nicht, Kai, wie ich anfangen soll. Verstehen sie mich nicht falsch, aber ich muß davon ausgehen, daß Fränze nicht wünscht, daß sie sie finden, denn sonst hätte sie ja schon längst mit Ihnen Kontakt aufgenommen. Das, was ich ihnen sagen kann, ist, daß sie auf eigenen Beinen steht. Und daß sie, wie ich glaube, mit ihrem Leben glücklich ist, oder doch zumindest zurechtkommt." 
"Haben sie Kontakt zu ihr?" 
"Nicht so viel, wie ich gerne hätte. Sie hat ja zunächst eine Zeit bei mir gewohnt, bis sie dann zu dieser Cora Welk gezogen ..." 
Sie erschrak. "Ich plappere zuviel!" 
"Wer ist Cora Welk?" 
"Eine Geschäftsfrau, niemand Wichtiges." 
"Und was ist dann passiert?" 
"Kai, bitte. Ich habe schon genug geschwatzt. Sagen sie mir lieber, wie es ihnen so geht!" 

Das Internetcafé war bis auf den letzten Platz besetzt, aber zu Kais Glück wurde nach kurzer Wartezeit ein PC frei. Wie hieß die Frau, zu der Fränze gezogen war? Cora Welk? Wie schrieb man das? Cora oder Kora? Welk oder Welck? Er probierte es aus. Aha, ein Treffer. Die Suchmaschine fragte: Meinten Sie Cora Welk? 
"Nun los schon", knirschte Kai mit den Zähnen. Was er da auf dem Monitor las, konnte er kaum glauben. 
"Angelus Escort Service, Inh. Cora Welk." 
Ein Escort-Service? Franziska arbeitete als .... Er wollte das Wort nicht einmal denken. Das konnte doch nicht wahr sein! Er ging auf die Homepage dieser ominösen Firma. Na gut, die sah ja ganz seriös aus. Aber was sah im Internet nicht alles seriös aus, und war dann eine üble Falle! Vermutlich eine Art Callgirl-Ring. 
Wo lag die Agentur? Eichenallee 9-11. Es gab keine Zeit zu verlieren.

Die Gegend war gut, zu seiner Überraschung. Ein gediegenes Villenviertel. Auch die Hausnummer 9-11 war ein hübsches Haus, das ihn an die Gebäude in Italien erinnerte. Er zahlte das Taxi und betrat durch die Pforte den Weg, der durch den Vorgarten zur Eingangstür führte. 

Auf sein Klingeln hin ertönte der Summer, die Tür sprang auf. "Bitte, treten sie doch näher!" 
Coras freundliche, volle Stimme lenkte ihn in ihr Büro zur Linken, das er nunmehr betrat. Kai grüßte höflich. 
"Wissen sie, ich bin nur dies Wochenende hier, ich bin verheiratet, aber, naja, seit Jahren die gleiche Frau, das nutzt sich ab, nicht wahr?" 
Er lachte gekünstelt. 
"Also, ich habe mir gedacht, ich miete mir mal so eine Klassefrau, was essen, trinken, und danach ... Ihre Damen machen doch Hotelbesuche, oder?" 
Coras Lächeln war zwar höflich, ihre Körperhaltung wurde jedoch auffällig starr und aufrecht. 
"Ich bitte um Entschuldigung, aber für diese Art von Dienstleistung müssen sie sich ins Rotlicht-Viertel begeben. Unsere Damen und Herren begleiten sie gern zu Veranstaltungen und stehen als Gesprächspartner zur Verfügung, aber das ist auch schon alles." 
Das Telefon klingelte. 
"Sie entschuldigen ..." Cora meldete sich. 
"Guten Abend, Herr Gauß! Wen? Nein, Frau Franziska arbeitet nicht mehr für uns! Moment, bitte!" 
Sie drückte einige Tasten auf dem Keyboard. 
"Darf ich Ihnen eine andere ... Nein?" 
Kai beobachtete Cora. Nein, diese Frau war eine Dame. Er hatte sich geirrt. 
"Aber gern, Herr Gauß. Wenn ich sie sehe, bitte ich sie, mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Aber ich bin ganz sicher, daß sie das auch von sich aus täte. Zwischen ihnen beiden besteht doch ein ganz besonderes Verhältnis, nicht wahr? Aber sicher! Für sie auch alles Gute! Auf Wiederhören!" 
"Diese Franziska, die sie da eben erwähnt haben ... heißt die mit Nachnamen zufällig Tauber?" 
Cora sah Kai überrascht an. 
"Entschuldigen sie, aber ..." 
"Liebe Frau Welk, ich bin derjenige, der sich entschuldigen muß. Mein Name ist Kai Kleinert, und ich bin ein Freund von Fränze. Wir haben uns aus den Augen verloren, aber ich muß sie unbedingt wiedersehen. Ich habe herausgefunden, daß sie für sie gearbeitet hat und war erst erschrocken, deswegen wollte ich testen, ob das hier so ein ... naja, eben so ein ... " 
" ... Bordell ist?" ergänzte Cora lächelnd. 
"Ja, aber ich weiß längst, daß ich mich getäuscht habe. Können sie mir nicht irgendwie weiterhelfen?" 
"Herr Kleinert, bitte haben sie Verständnis, aber wir können unmöglich private Daten oder Informationen unserer ehemaligen und derzeitigen Mitarbeiter einfach so herausgeben. Aber, wenn sie mögen, habe ich einen Vorschlag. Sie lassen mir ihre Daten hier, und wenn ich Franziska sehe, erzähle ich ihr, daß sie sie suchen und sie sich bei ihnen melden soll. Einverstanden?" 
"Das ist mehr, als ich erwarten konnte, Frau Welk, vielen Dank!" 
Kai zog eine Visitenkarte aus seiner Brieftasche und legte sie auf den Schreibtisch. 
"Hier steht alles drauf: Telefon, Mobil, Fax, Mail, Homepage." 
"Ich werde dafür sorgen, daß diese Karte in die richtigen Hände kommt." 


( Ist nicht wahr, oder? Da verkauft Herr Hempe Franziska eine Reise, die er vermutlich sogar steuerlich als Geschäftsreise geltend machen kann, als romantische Hochzeitsreise? Franziska, auf wen hast du dich da bloß eingelassen? Der Typ hat ja einen gewissen Charme, aber er benutzt die Menschen, wieder sie braucht. Das macht ihn mir nicht wirklich sympathisch. Warte ab: Zu Weihnachten schenkt er dir einen Pürierstab. 
Da kann man nur hoffen, daß Kai dich findet, bevor dir Schlimmeres passiert. Das kenne ich auch aus persönlicher Anschauung. Eine Bekannte von mir war verliebt, bis über beide Ohren. Der Kerl hat sie ausgenutzt. Nach Strich und Faden, wie man so sagt. Ihre Freunde, die noch zu ihr hielten - auch ich - haben sie gewarnt. Aber Liebe macht blind. 
Egal. Hauptsache, man hat Freunde, die einen auffangen, wenns einem schlecht geht ... )



Auf Kais Bitte hin rief Cora ein Taxis herbei. Sie begleitete ihn zur Tür. 
"Na so etwas", rief er aus, "jetzt habe ich Dussel doch meine Brieftasche in Ihrem Büro liegen lassen! Moment, bitte!" 
Er lief ins Büro zurück und erschien Sekunden später, die Börse in der Hand haltend. Cora verabschiedete ihn. Er bestieg das Taxi. Im Büro würde sie später entdecken, das jemand den Monitor ihres PC herumgedreht hatte.

Melchior Gauß, Seniorenwohnanlage Am Lindenbach. Kai wiederholte die Adresse in Gedanken wieder und wieder aus Angst, er könne sie wohlmöglich vergessen. Er hatte Namen und Adresse mit seinem kleinen Trick aus Coras PC ergattert. 
"Wohin soll's denn gehen?" fragte der Taxifahrer. 
"Seniorenwohnanlage am Lindenbach, bitte!"

Hochgeschlossen, ohne Frage. Ich werde das Hochgeschlossene nehmen, dachte Franziska, als sie sich für den Abend mit dem Geschäftspartner ihres Mannes, Holger Hagemeister, vorbereitete. Nur diesen Kerl nicht auf dumme Gedanken bringen. 
Das Kleid war lang, weinrot aus fließendem Stoff, mit einem kleinen Stehkragen. Auf Schmuck - außer dem Ehering, einem klassischen Reif aus Weißgold - verzichtete sie völlig. Bei den Schuhen wählte sie farblich passende Stilettos, ja, mit den hohen Absätzen würde sie Hagemeister mit ihren 180 cm vermutlich um Haupteslänge überragen. Hoffentlich würde er sich so klein und mies fühlen, wie er war. 

Andererseits: sie hatte Bene versprochen, ihr Bestes zu geben, um seinen Geschäftspartner positiv zu beeinflussen. Verabredet hatten sie sich in dem Hotel, in dem Hagemeister wohnte, wenn er in der Stadt war. Na gut. Essen im Restaurant, ein Absacker an der Bar ... und gut. Das würde sie schon überstehen. 

"Du bist mal wieder der Hit, mein Schatz", rief Bene aus, als er Franziska sah. 
"Die Haare hat du ein wenig streng, aber das Kleid ist der Burner!" 
In der Tat. Franziska hatte ihr glänzendes, blondes Haar straff aus der Stirn zurückgekämmt und zu einem festen Knoten gewunden. 
"Ich wollte, es wäre schon vorbei! Ach Bene, der Typ ist so ekelhaft! Der hat so eine widerwärtige Art, einen mit seinen Blicken auszuziehen ... schrecklich!" 
"Du hast es ja bald hinter dir, Franzi. Denk immer daran: der Mann hat das Geld, das ich - nein, das wir brauchen." 
"Glaube mir, Bene: Wäre er Coras Klient gewesen, hätte ich ihn abgelehnt, Geld hin oder her. Mal ganz davon abgesehen, daß Cora immer darauf geachtet hat, solche Klienten nach Möglichkeit herauszukomplimentieren."

Das Hotel hatte immerhin fünf Sterne. Franziska schritt durch die Halle auf die Rezeption zu. Ein sehr würdig wirkender Portier begrüßte Sie und fragte nach Ihren Wünschen. 

"Mein Name ist Franziska Hempe, ich bin mit Herrn Hagemeister verabredet. Könnten Sie ihm bitte mitteilen, daß ich da bin?" 
Der Portier musterte Franziska ausgiebig, die Mundwinkel zu einem leicht spöttischen, dünnen Lächeln verzogen. 
"Der Besuch für Herrn Hagemeister!" stellte er eine Spur zu betont fest, woraufhin die beiden Rezeptionistinnen Franziska ebenfalls in Augenschein nahmen, die eine mit Stirnrunzeln, während die andere kicherte und sich abwandte. 

"Sind sie jetzt bitte so freundlich?" 
Franziskas Ton war um eine Nuance härter geworden. 
"Aber selbstverständlich, Gnädige Frau, sofort!" 

Er tippte viermal auf das Tastenfeld des vor ihm stehenden Telefons. 
"Hindermann, Rezeption, guten Abend, Herr Hagemeister! Hier ist eine ... Dame" - Seitenblick auf Franziska - "die nach ihnen fragt! Wie bitte? Sie kommen herunter? In zehn Minuten? Sehr wohl!" 
Er legte den Hörer auf die Gabel zurück. 
"Herr Hagemeister bemüht sich in Kürze herunter! Darf ich ihnen in der Zwischenzeit etwas zu trinken anbieten? Das ginge aufs Haus!" 

Franziska lehnte dankend ab und begab sich zu einer der Sitzgruppen, um dort zu warten. Daß sie weiter aus Richtung der Rezeption beobachtet wurde, bemerkte sie natürlich, zumal da, wenn Sie in diese Richtung sah, der Portier und seine beiden Kolleginnen sofort ihre Köpfe wegdrehten oder senkten.

"Pling!" 
Ein heller Glockenton erklang, die Fahrstuhltür glitt mit einem leisen Schleifgeräusch zur Seite, und Holger Hagemeister trat heraus. Der ca. 171 cm große, untersetzte Mann mit dem schütteren, blonden Haar und der fettigen Gesichtshaut, die um die Nasenwinkel herum gereizt und gerötet war, blickte unruhig mit seinen blaßblauen, wäßrigen Augen in der Hotelhalle herum. 
Diese vollen Lippen über seinem fliehenden Kinn sehen aus wie die eines Karpfens, dachte Franziska. Sie erhob sich aus dem bequemen Sessel. 

"Ach, da sind sie ja, liebste Franziska, verzeihen sie mir, daß Ich sie warten ließ!" 
Er versuchte, ihre Hand zu küssen, die sie aber schnell zurückzog.  
"Gehen wir ins Restaurant?" 
"Nein, wir speisen in meiner Suite! Da haben wir doch viel mehr Ruhe für unsere geschäftliche Besprechungen, und viel gemütlicher ist es auch! Bitte sehr, Ladies first!" 
Mit einer einladenden Geste bedeutete er Franziska, den Fahrstuhl als erste zu betreten. Nachdem die Tür sich geschlossen hatte, bemerkte der Portier zu seinen Kolleginnen: "Die Macht des Geldes! Wenn ein Kerl Geld hat, bekommt er jede Frau, völlig gleichgültig, wessen Geistes Kind er ist." 
Zwar protestierten die beiden, aber Herr Hindermann lachte sie aus.

In der Suite auf der 4. Etage stand auf einem Wohnzimmertisch ein Sektkühler. In diesem lehnte schräg eine grüne Champagnerflasche, über dieser eine Serviette aus Damast. Zwei Sektkelche komplettierten das Bild. Der Gastgeber drehte zunächst den Draht und entfernte die Metallhalterung, dann drückte er, mit beiden Händen den Flaschenhals umfassend, mit den Daumen gegen den Korken, der mit einem kleinen Knall gegen die Zimmerdecke flog, die gelbliche, schaumige Flüssigkeit sprudelte heraus und tropfte auf den Teppich. 

"Hoppla!" lachte Herr Hagemeister. 
"Macht nichts: Champagner macht keine Rotweinflecken, hahaha! Jetzt trinken wir erstmal ein wenig zum Vorglühen, da wird man doch gleich viel lockerer!" 

Franziska, die Alkohol verabscheute, versuchte, gute Miene zu machen, und nippte vorsichtig an ihrem Glas. 
"Mein Mann hält viel von ihrer Geschäftstüchtigkeit, Herr Hagemeister", versuchte sie sich in Konversation. 
"Sag doch 'Holger' zu mir ... Franziska, nicht wahr? - Tja, der gute Benedikt ... vom Geschäft versteht er wirklich nicht allzu viel! Immer kurz vor der Pleite, der arme Junge!" 
Er stieß ein häßliches, zynisches Lachen hervor. 
"Mein Mann hat aber schon viele Talente entdeckt und gefördert!" 
"Ja, das gebe ich zu, er hat ein Händchen für den Publikumsgeschmack! Ich bitte dich, diesen Lärm, den schlecht frisierte und schlecht angezogene Deppen veranstalten, kann man doch nicht wirklich schön finden! Bene weiß, was die Kids wollen ... Aber was nützt ihm das, wenn er kein Geld hat? Nein, geschäftlich ist der Mann ein Flop!" 
"Herr Hagemeister ..." 
"... Holger!" 
"... Holger, bitte reden sie in meiner Gegenwart nicht so über meinen Mann!" 

Sein Kopf wurde rot, seine wäßrigen Augen verengten sich zu Schlitzen. 
"Dein Mann, dein Mann! Dein Mann ist ein Volltrottel, der sich ohne Lühmann und mich schon von einem Dach gestürzt hätte, wenn wir ihn nicht immer aus der Scheiße gezogen hätten! Aber nun ist Schluß, endgültig! Dein verehrter 'Mann', Franziska, muß endlich lernen, auf eigenen Beinen zu stehen, und nicht immer nur die Hand aufzuhalten." 

Franziska war totenbleich geworden. 
"Herr Hagem... Holger, bitte. Ich bitte sie ... Ich bitte dich inständig ..." 
"Liebe Franziska", entgegnete der Angesprochene kalt und betrachtete sie mit Haifischaugen, "ich bin Geschäftsmann und kein philanthropisches Institut. Ich gebe nur etwas, wenn ich auch etwas dafür bekomme. Und? Wie steht es damit?" 

Franziska sah ihn unsicher an. "Ich besitze nicht viel, ich habe etwas Bargeld auf dem Konto, das habe ich Bene schon angeboten, aber das reicht nicht. Sonst besitze ich nicht viel ... " 
Hagemeister lächelte. Es war ein gemeines, böses Lächeln. 
"Ich hätte da eine Idee", raunte er leise, während er seinen Mund Franziskas linkem Ohr näherte. "Eine gute Idee, sogar!"

"Ja bitte?" 
Er roch nach teurem Eau de Toilette und altem Schweiß. 


Die Stimme des Bewohners der Seniorenwohnanlage ertönte auf Kais Klingeln hin etwas quäkig aus der Wechselsprechanlage. 
"Mein Name ist Kleinert, Kai Kleinert. Ich bin ein alter Freund von Frau Franziska Tauber. Sind Sie Herr Gauß?" 
"Was ist mit Franziska? Ihr ist doch nichts zugestoßen?" 
Die Stimme klang aufgeregt. 
"Ich denke nicht, aber wir haben uns aus den Augen verloren, und ich muß sie unbedingt finden!" 
"Und wie haben Sie die Verbindung zu mir herstellen können?" 
"Ich habe Ihren Namen bei meiner Suche zufällig in einer Agentur gehört, die Begleiter oder Begleiterinnen vermittelt." 
"Bitte kommen Sie herauf! Sie müssen, wenn der Summton kommt, kräftig gegen die Tür drücken, sie klemmt etwas!"

Kai erzählte dem alten Mann die ganze Geschichte, von der Begegnung im Zug, der Fahrt zum Bauernhof, der Flucht, und seiner Suche. 
"Ja, darin erkenne ich Franziska wieder", schmunzelte Herr Gauß. 
"Sie ist ein wundervoller, treuer und warmherziger Mensch, aber sie ist auch stark, und ein Freigeist! Ich habe sie hier als eine Art Vorleserin kennengelernt, aber inzwischen bedeutet sie mir mehr als meine eigenen Kinder und Enkel, die sich immer nur an meine Existenz erinnern, wenn es darum geht, an mein Geld zu kommen. Ich glaube, ich bin nur noch am Leben, um zu verhindern, daß sie mich beerben!" 

Auch er berichtete nun von seiner ersten Begegnung mit Franziska, von ihren gemeinsamen Gesprächen, von dem wunderbaren Vertrauensverhältnis. 

"Schade, daß ich hinsichtlich meiner Belastbarkeit nicht mehr in der Lage war, an ihrer Hochzeit teilzunehmen ..." 
Kai erschrak. 
"Herr Kleinert, was ist denn mit ihnen? Ist etwas nicht in Ordnung?" 
"Nein nein, schon recht..." 
"Wußten Sie denn nicht von der Hochzeit?" 
Kai schwieg. Diese Nachricht hatte ihm den Boden unter den Füßen weggezogen. Er atmete schwer, und er hatte das Gefühl, demnächst das Bewußtsein zu verlieren. 

"Ich bin ein alter Narr, bitte vergeben sie mir, Herr Kleinert, wenn ich mit meinem Geschwätz zum Anlaß für Ihre Verstimmung geworden bin."
"Das ist nicht Ihre Schuld, Herr Gauß, sicherlich nicht ... es trifft mich nur so unvorbereitet. Wissen Sie, wer der Mann ist?" 
"Sein Vorname ist Benedikt, mehr kann ich nicht sagen. Eigentlich müßte ihnen die Leiterin der Agentur, Frau Welk, da weiterhelfen können!" 
"Lieber Herr Gauß, ich lasse ihnen meine Handy-Nummer da. Wären sie so freundlich, mich anzurufen, wenn sie etwas hören?"

( Auf der einen Seite können wir uns freuen, daß Kai erfolgreich Franziskas Spuren folgen konnte, allerdings muß es ein ziemlicher Schock für ihn sein, daß sie nicht mehr frei ist. Jeder andere, ja, auch ich, hätte an diesem Punkt aufgegeben. Gekränkte Eitelkeit? Was heißt denn hier, gekränkte Eitelkeit?! Hatte Franziska nicht versprochen, daß sie sich melden würde? 
Na gut, sie hat 'vielleicht' gesagt, aber nach allem, was Kai für sie getan hat, und angesichts der rasanten Entwicklung ihrer Beziehung hätte ich erwartet ... Aber so ist das eben mit Erwartungen. Gelegentlich muß man hinnehmen, daß sie nicht erfüllt werden. Schade. Ist aber so! 
Komisch. Von diesem Hagemeister habe ich ein ganz präzises Bild im Kopf. Er erinnert mich an einen zauberhaften Mitarbeiter der Hamburger Sparkasse, dem ich schlaflose Nächte verdankte. Ein reizender ... fast hätte ich 'Mensch' geschrieben, ich Schussel! Dem Kerl habe ich jede Schlechtigkeit zugetraut ... genau wie diesem Hagemeister. Nimm dich in Acht, Franziska! )




Franziska war so weit wie möglich zurückgewichen. Hagemeister hatte, während er ihr seine ungeheuerlichen Vorschläge ins Ohr flüsterte, die Hand auf ihre Schulter gelegt und ließ diese an ihrem Rücken herunterwandern. Sie versuchte, sich von dieser Berührung zu lösen, aber er hielt sie fest, und sie spürte seinen Atem leise keuchend an ihrem Ohr und Hals. 
"Bitte ..." stieß sie mit ekelverzerrtem Gesicht hervor. 
"Nun hab' dich bloß nicht so", zischte er ärgerlich, "und mach hier nicht einen auf feine Dame. Ich weiß doch, was du getan hast, bevor du ehrbare Gattin wurdest!" 
Und, spöttisch, fügte er hinzu, "ESCORT- Service!" 
"Nicht so eine Art von Escort!" 
"Hure oder Edelhure, ist mir egal, Schätzchen! Das macht keinen Unterschied!" 
Er machte sich an ihrem Reißverschluß zu schaffen. Er hielt sie fest umklammert wie ein Schraubstock, verzweifelt versuchte sie, sich zu wehren. 
"Ich mag es, wenn du dich wehrst", höhnte er. 
"Aber wehr' dich lieber nicht zu sehr, sonst ist es Essig mit der Kohle für deinen Versager!" 
Ihr Kleid rutschte herunter auf die Erde. Beim Versuch, seinen Zudringlichkeiten zu entkommen, verhedderte sie sich darin, verlor das Gleichgewicht und fiel zu Boden. Er warf sich auf sie. Ihr Widerstand zerbrach, Tränen liefen aus ihren Augen. Sie versuchte, stillzuhalten. Bene, was tust du mir an? Sie versuchte, an etwas anderes zu denken, als an den ekelhaften, schwitzenden, keuchenden Mann, dessen Gewicht ihr den Atem nahm. 

Als es endlich vorüber war, grunzte Hagemeister mißbilligend. 
"Wie ein Brett! Als ob es dir keinen Spaß gemacht hätte! Hoffentlich bist du zu Hause nicht auch so langweilig, sonst geht dein Mann bald fremd!" 
Er lachte hämisch. 
"Ach so, übrigens: Wenn du glaubst, daß die Nummer das Geld für Bene wert war, muß ich dich enttäuschen. Du hast morgen noch eine Chance. Ich warte hier auf dich zur gleichen Zeit, und ich hoffe, du gibst dir dann etwas mehr Mühe! Ich bezahle nur nach Leistung, hahaha! So. Wie sieht's denn aus? Hungrig?"

Franziska zitterte so sehr, daß sie beinahe nicht in der Lage war, die Wohnungstür aufzuschließen. Benedikt saß im Wohnzimmer vor dem Fernseher und sah eine Casting-Show. 

"Da bist du ja endlich, Schatz! Du, der Junge, der eben gesungen hat, war echt begabt! Wenn man den etwas umstylt, könnte man den echt aufbauen! Was ist denn mit dir? Du siehst ja furchtbar aus? Was ist denn mit deinen Haaren passiert? Und die Flecken auf deinem Kleid? Du bist doch wohl nicht so bei Hagemeister gewesen? Was hat er denn gesagt, wegen des Geldes? Hat er zugestimmt?" 

Franziska sah ihn ungläubig an. 

"Er hat mich vergewaltigt. Er hat mir wehgetan. Er hat mich benutzt. Und er hat gesagt, das Geld bekommst du nur, wenn ich morgen noch einmal zu ihm komme,  um mit ihm ..." Sie konnte es nicht aussprechen. 

"Morgen Abend? Ja, das paßt doch! Oder?" 

"Benedikt! Hast du nicht verstanden, was ich eben gesagt habe?" 

"Ja, schon. Kann es nicht sein, daß das alles ein Mißverständnis ist? Er ist vielleicht etwas grob gewesen, weil du dich so sehr gewehrt hast. Bitte, Franzi, geh' doch morgen noch einmal hin! Wir brauchen das Geld dringend, das weißt du doch!" 

"WIr brauchen das Geld? Du brauchst das Geld, Bene!" 
"Sei doch nicht so egoistisch, Franzi", flehte Bene. Du hast doch selbst gesagt: wir zwei gegen den Rest der Welt! Gilt das plötzlich nicht mehr?" 
Franziska sah verwirrt aus. 
"Bene, du warst nicht dabei! Dieser Kerl war so brutal, so eklig ... er hat mich vergewaltig! Das muß dir doch etwas ausmachen!" 

Bene umarmte sie. 
"Franzi, das lag doch nur daran, daß du dich so heftig gewehrt hast! Deswegen kam es dir so vor! Bitte, bitte, du kannst mich jetzt nicht im Stich lassen!" 

Franziska saß wie betäubt da. Konnte sie die Schuld tragen, daß ihr Ehemann dem sicheren geschäftlichen Ruin entgegensteuerte? Sie hatte es in der Hand, eben dies zu verhindern. In guten wie in schlechten Tagen ... Gab es keine andere Hilfe? Aber wen konnte man schon um so hohe Geldbeträge angehen? Jede Bank würde die Finanzierung mangels Sicherheiten ablehnen, und da man nicht wußte, ob das Geld überhaupt zurückgezahlt werden konnte, war es undenkbar, Freunde oder Bekannte zu fragen. Die Situation war ausweglos. Sie würde sich opfern müssen. Für Bene, für ihre kleine Familie. Konnte er überhaupt verstehen, was sie da für ihn tat?

"Ich werde morgen zu Hagemeister gehen, Bene", sagte sie ernst. "Bei dem Gedanken allein wird mir übel, aber ich tue es für dich." 
"Ach Franzi, du bist so lieb! Danke, danke, danke! So ein Glück, das Jenny krank war!" 
"Wieso?" 
"Na, sonst hätte ich dich doch niemals kennengelernt!" 
Er strahlte sie an und küßte sie auf die Stirn. Franziska erhob sich schwankend. 
"Ich bin völlig fertig, ich muß duschen und lege mich dann hin." 
"Na klar, Liebes, ruh' dich aus. Ach, wenn du schon stehst: Kannst du mir aus der Küche die Chips bringen?"

Kai hatte sich ein zweites Mal aufgemacht, um Cora Welk in ihrer Agentur zu besuchen. Sie öffnete, und als sie Kai erkannte, versuchte sie, die Tür wieder zu schließen. 

"Bitte, Frau Welk, hören sie mich doch an!" 
"Wie können sie es wagen, in vertraulichen Unterlagen herumzuschnüffeln? Glauben sie im Ernst, daß ich sie je wieder unbewacht in diese Räume lasse? Anzeigen sollte ich sie!" 

Kai sah schuldbewußt zu Boden. 

"Sie haben ja recht, Frau Welk, aber versetzen sie sich doch bitte in meine Lage! Was sollte ich denn tun? Es war schwierig genug, den Weg bis zu ihnen zu finden, und von Herrn Gauß, der Fränze sehr gern hat, erfuhr ich, daß sie inzwischen geheiratet hat und deshalb vermutlich nicht mehr Franziska Tauber heißt. Wissen Sie den Nachnamen des Ehemanns?  Sein Vorname lautet Benedikt, so viel wußte Herr Gauß. Kennen sie den Mann? Ist er ein guter Mensch? Ist Fränze glücklich?" 
"Nun kommen sie schon herein, Herr Kleinert", sagte Cora nachsichtig. "Aber benehmen sie sich anständig, haben sie mich verstanden? Ich denke, wir trinken mal einen Kaffee zusammen." 

Sie ergriff, nachdem Kai zum zweiten Mal ihr Büro betreten hatte, die schwarze, etwas plump wirkende Thermoskanne, die auf der Kaffeemaschine stand. 
"Blond und süß?" 
"Wie bitte?" fragte Kai erschrocken. 
Cora lachte. "Nehmen Sie Milch und Zucker?" 
"Ach so, ja, beides! Eigentlich lieber schwarz, aber ich glaube, etwas Energie kann mir jetzt nicht schaden!" 

Cora erzählte Kai alles, wie sie sich kennengelernt hatten, welchen Erfolg Fränzes liebenswürdige Art bei ihren Klienten hatte, wie sie Benedikt Hampe kennengelernt, sich offenkundig verliebt und ihn geheiratet hatte. Sie war erfahren genug, um zu bemerken, daß Kai besonders den letzten Punkt nur schwer ertragen konnte. 
"Wären sie gern an Benedikts Stelle gewesen, Kai? Ich meine, als Ehemann?" 
Kai errötete. "Merkt man das?" 
"Sie sind ein Mann", erwiderte Cora lachend. "Für erfahrene, gestandene Weiber wie mich sind Männer offene Bücher ... und, wenn es gestattet ist, das festzustellen: Nicht einmal besonders anspruchs- oder geheimnisvolle Bücher!" 

Kai hatte die Unterlippe vorgeschoben, die Stirn gekraust und wirkte ein wenig wie ein ungezogener kleiner Junge, dem die Mutter gerade das Surfen im Internet zugunsten seiner Hausaufgaben untersagt hatte. Dann aber mußte er doch lachen. 
"Ja, Cora, sie haben recht. Und, ganz ehrlich: Ich freue mich, daß Fränze hier auf sie gestoßen ist. Eine bessere Freundin kann man wohl nicht haben!" 
"Haben sie es nicht ein bißchen dicker? Wenn Männer schmeicheln, steckt doch da meist eine finstere Absicht dahinter!" 
"Gar nicht so finster, Cora. Bitte, sagen sie mir doch, wo ich Franziska finden kann." 
Cora schrieb die Adresse auf einen kleinen Zettel. "So, Sie Quälgeist, nun geben sie aber endlich Ruhe! Noch Kaffee?"

Franziska stand vor dem Badezimmerspiegel und erschrak. Die Frau, die dort reflektiert wurde, war Lichtjahre von der frischen, jungen Krankenschwester aus der Kleinstadt entfernt. Dieser dunkle Ausdruck in ihren Augen, die bleiche Haut, die glanzlosen, blonden Haare, auf deren goldenen Schimmer sie immer so stolz gewesen war! Ihre Körperhaltung drückte durch die hängenden Schultern und die Beugung nach vorn Hoffnungslosigkeit und Apathie aus. 
'Ich bin kein bißchen besser als eine gewöhnliche, billige Hure', dachte sie. 'Aber es ist für Bene. Es ist für meinen Mann!' 
Die Frage, ob sie nicht tatsächlich Ehebruch beging, wollte sie sich nicht stellen, das hätte sie nicht ertragen. 

Na gut! Wenn sie schon zu etwas gemacht wurde, was sie nicht war, dann wollte sie auch entsprechend aussehen. Sie begann mit einem aufdringlich blauen Lidschatten und tuschte sich dann die Wimpern. Das übertriebene Rouge, das sie auf die dicke Schicht von Make-up legte, wirkte billig, der hellrote Lippenstift ordinär. Zur Abrundung des Bildes schnitt sie von einer Jeans die Beine ab, zog ein bei der Wäsche eingelaufenes, weißes T-Shirt und eine kurze, glattlederne Jacke von Bene dazu an, an den Füßen schwarze Highheels. 

Sie betrachtete sich eingehend im Spiegel, wie eine Schauspielerin, die noch einmal das Kostüm prüft, bevor sie vor die Kamera tritt. Sie fuhr mit den Fingern einige Male durch die Haare. Ja. So. Billig, ordinär, leicht zu haben. Das war nur eine Rolle, die sie zu spielen hatte. Danach würde sie alles verbrennen und sich den Schmutz herunterduschen. Und Bene würde sie dankbar und glücklich in seine Arme nehmen....

Bene saß vor dem Fernseher, als sie aufbrach. "Bene, ich gehe dann mal, das Taxi ist da!" 
Ihr Gatte sah nicht mal auf. 
"Ja, fein, Schatz, viel Spaß!" 

Auf der Fahrt zum Hotel musterte der Taxifahrer Franziska immer wieder im Rückspiegel. 
"Es ist grün, warum fahren Sie denn nicht!" 
Der Fahrer trat aufs Gaspedal. 
"Sie sollten lieber mehr auf den Verkehr als auf mich achten." 
Er murmelte einige Worte der Entschuldigung.  

Als Franziska die Hotelhalle betrat, bemerkte sie, daß Herr Hindermann, der Chefportier, seine Kolleginnen auf ihr Erscheinen aufmerksam machte, alle drei grinsten anzüglich. 
"Sie wünschen, gnädige Frau?" fragte Herr Hindermann mit spitzen Lippen und besonders salbungsvoller Betonung der letzten beiden Wörter. Daraufhin preßte die eine der Rezeptionistinnen sich die Hand vor den Mund und verschwand prustend vor unterdrücktem Lachen durch eine Tür in den hinteren Bereich. 
"Herr Hagemeister erwartet mich." 
"Ach ja richtig, Herr ... Hagemeister! Ein Stammkunde?" 
"Wären sie dann bitte so freundlich!" 
Fränzes Ton war deutlich schärfer geworden. Der Portier griff zum Telefonhörer. 
"Sie sollen hochkommen, sie wüßten ja, wo es ist." 

Der Aufzug benötigte, so kam es Franziska vor, eine halbe Ewigkeit, bis er die vierte Etage erreicht hatte. Der helle Glockenton kündigte das Ende der Fahrt an, und schon stand sie erneut vor der Tür, hinter der sich gestern Ungeheuerliches ereignet hatte. 


( Ha! Ich höre schon, wie sie sagen, also jetzt wird es unrealistisch. Das würde doch keine Frau mit sich machen lassen. Zum Mond schießen würde sie der Kerl, und den dicken Hagemeister gleich mit! 
Weit gefehlt, Damen und Herren Leser! Bevor ich dies, life und in Farbe, sozusagen, selbst erlebte, hätte ich genauso gedacht. Aber so etwas gibt es wirklich. Genau wie Frauen, die sich verprügeln lassen, und in der Klinik darauf drängen, entlassen zu werden, weil sie sich um den brutalen Schläger kümmern und ihm die Hemden bügeln müssen. 
So oft habe ich mit diesen Frauen gesprochen. So oft habe ich gesagt, "Schmeißen sie ihn raus, nehmen sie sich was Junges!" Hätte ich mir sparen können. 
Schlimm. Verstehen kann ich es nicht. Und sollte eine Betroffene jemals zufällig dies hier lesen, sage ich zu ihr: Mädel, sei nicht bescheuert! Ab ins Frauenhaus! Unverzüglich! 
Was? Das geht noch weiter ...? )



Hagemeister öffnete. "Sie wünschen?" 
"Herr Hagemeister, sie hatten selbst um meinen Besuch geb..." 
"Du bist es? Hätte ich fast nicht erkannt!" 
Er musterte sie von oben bis unten. 
"Dreh dich mal! Hey, du siehst ja wie eine Professionelle aus ... äh, na ja, bist du ja auch, nicht?" 
Er lachte bellend. 
"Jetzt komm' schon rein, ich habe nicht den ganzen Abend Zeit!" 
Er packte sie am Arm und zog sie in die Suite. Franziska stand etwas verloren im Raum. 
"Wo das Bad ist, weißt du ja wohl noch. Wenn du dich erst etwas frischmachen willst...?" 

Franziska schloß die Badezimmertür und drehte den Wasserhahn auf. Im Film würde sie jetzt eine Pistole aus der Handtasche ziehen und den Kerl erschießen. aber das war kein Film, es ging um Geld, viel Geld, das ihr Mann so dringend benötigte. Augen zu, und durch!

Tiemann, Schoor, Engling, Hempe ... da war es ja. Kai drückte auf den Knopf neben dem Schild mit Fränzes neuem Nachnamen. Es knackte, dann ertönte, verrauscht, Benedikts Stimme: "Ja?" 
"Kleinert, mein Name, Kai Kleinert! Ich hätte gern mit Frau Franziska Hempe gesprochen!" 
"Die ist nicht da!" 
"Ach, schade! Wann erwarten sie sie denn zurück?" 
"Was geht sie das an? Ich kenne sie nicht, verschwinden sie!" 

Es knackte erneut, dann war wieder Stille. 

Mit dem war Franziska verheiratet? Na prima! Gut erzogen, charmant und höflich ... Das konnte doch nicht angehen! Gegenüber war ein Kiosk, daneben stand eine große Metallkiste, in die die Zulieferer die eng geschnürten Packen mit Zeitungen und Illustrierten legten. So. Er würde sich auf diese Kiste setzen und warten .... Irgendwann mußte Fränze ja kommen.

Hagemeister lag in T-Shirt und Unterhose auf dem Bett. 
"Was machst du denn so lange? Warst du vorher noch woanders anschaffen?" 
Franziska antwortete nicht und setzte sich auf die Bettkante. Er roch nach seinem Rasierwasser, Alkohol und Schweiß. Sie kämpfte mit Übelkeit. 
"Nun los!" 
Er ließ seine Hand unter ihr Top gleiten. 
"Aber eins sage ich dir: Wenn du wieder so stocksteif wie ein Brett daliegst, kann dein Mann sich die Kohle von der Backe putzen!" 
Franziska schlug zu mit aller Kraft. 
"Aua, du verrückte Schlampe, was fällt dir denn ein! Ich ... ich blute!" 

Ungläubig und mit Stöhnen berührte er vorsichtig mit dem rechten Zeigefinger seine Oberlippe, die nun massiv anschwoll. Franziska wich vor ihm zurück. 
"Ich brauche einen Arzt!" 
Weinerlich und jammernd lag Hagemeister da. 
"Hau bloß ab, du Miststück! Das hat Konsequenzen, das sage ich dir. Dein Mann wird nicht froh sein! Dabei hat er mir dich angeboten!" 
Franziska traute ihren Ohren kaum. 
"Er hat was?" 
"Das war der Deal. Ich bekomme dich, er bekommt das Geld!" 
"Das ist nicht wahr!" 
"Tja, Süße, frag ihn doch! Dein Mann ist dein Zuhälter! Das wußtest du nicht?" 
Er lachte laut und böse! 
"So, und jetzt mach dich vom Acker! Los, hau ab! Verschwinde!" 

Als das Taxi Franziska vor ihrer Haustür ausspuckte, sah sie nicht, daß auf der gegenüberliegenden Straßenseite Kai saß, der tief und fest eingeschlafen war. In der Wohnung wartete Benedikt auf sie. Gottseidank. Er würde sie in den Arm nehmen, und alles wäre gut. 

Den Schmerz der Ohrfeige, die ihr Gesicht traf, nahm sie kaum wahr, es war eher die ruckartige Bewegung, in die ihr Kopf versetzt wurde. 

"Du dumme Schlampe, was hast du angerichtet?" 
"Benedikt, ich ...." 
"Benedikt, Benedikt!" äffte er ihren Tonfall nach. 
"Weißt du, was du da angerichtet hast? Mann, so bescheuert kann man doch gar nicht sein!" 
"Aber ..." 
"Nichts aber! Hagemeister hat mich angerufen. Der Deal ist geplatzt!" 
"Stimmt das, Bene? Hast du ihm ... mich versprochen?" 
"Ach komm', nun mach hier doch nicht auf ehrbare Hausfrau! Du bist doch gewohnt, mit Männern auszugehen, für Geld, da habe ich gedacht ... und er war seit der Gala scharf auf dich! Ich habe ihm versprochen, wenn ich dich 'rumkriege, kann er mal ein paar schöne Stunden mit dir verbringen, wenn er mit der Kohle 'rüberkommt..." 

Franziska kannte Benedikt gar nicht mehr wieder. Der attraktive, charmante, etwas oberflächlich wirkende Mann sah sie mit blutunterlaufenen Augen und vor Wut fratzenartig verzerrtem Gesicht an.  

"Deine Abreibung bekommst du noch, glaub' mir! Das war erst der Vorgeschmack!" 
Er ging auf sie zu. So schnell sie konnte, rannte sie aus der Wohnung und die Treppe hinunter, so daß sie nicht einmal bemerkte, daß er es nicht der Mühe wert fand, ihr zu folgen.

"Hey, Meister! Beweg' deinen Hintern!" 
Kai wurde unsanft an der Schulter gepackt und geschüttelt. 
"Was ist denn", nuschelte er schlaftrunken. 
"Ich muß arbeiten! Zeitungen 'rein, Remittenden 'raus! Also: Darf ich bitten?" 
Kai sah auf die Uhr. Es war 3:30 Uhr. Er hatte mindestens fünf Stunden geschlafen, vielleicht länger, sein Rücken tat weh, besonders sein Genick. 
"Ja, 'tschuldigung", quetschte er hervor. Er mußte es später noch einmal versuchen. Hier zu sitzen, war wohl doch nicht so klug gewesen, wie er gedacht hatte.

"Franziska, Kind, was ist denn los?" 

Herr Gauß war besorgt. Er konnte zwar nicht mehr sehen, aber er hatte ein sehr feines Gespür für die Schwingungen von Angst, Enttäuschung und Kummer, die von Franziska ausgingen. Franziska erzählte alles. Von dem schmutzigen Handel zwischen Benedikt und Hagemeister. Der Vergewaltigung. Davon, daß Benedikt sie gebeten hatte, sich trotzdem noch einmal auf ihren Peiniger einzulassen. Ihrem Fausthieb. Schließlich von Benedikts Gewalttätigkeit in Wort und Tat. 

Dem alten Mann rannen die Tränen über die Wangen. 

"Ach, Franziska, hätte ich dies doch nur verhindern können! Aber wer konnte das denn ahnen! Sie waren so verliebt, als sie mir von der Hochzeit erzählten! Um wieviel Geld ging es denn?" 
Als Franziska den sechsstelligen Betrag nannte, lächelte er. 
"Der rosafarbene Diamant ist um ein Vielfaches mehr wert!" 
"Ich habe nicht eine Sekunde lang daran gedacht, diesen einzusetzen", antwortete Franziska. 
"Ich kenne die Geschichte dieses Steines, und ihn leichtfertig zu schnödem Geld zu machen, wäre mir im Traum nicht eingefallen!" 
"Deswegen, mein Kind, habe ich ihn Ihnen ja auch gegeben." 
Melchior Gauß lächelte, dann wurde er ernst. 
"Sie müssen zur Polizei und die beiden Spitzbuben anzeigen, Franziska. Die dürfen mit ihren Machenschaften nicht so davonkommen, und keine weitere junge Frau ins Unglück stürzen. Versprechen sie das! Zudem müssen sie zu einem Anwalt, um diese unselige Ehe, die ja ohnehin nur als sinnentleerte Feier stattfand, wenn ich das richtig verstanden habe, annullieren zu lassen. Sonst müssen sie wohlmöglich noch für ihren ehemaligen Gatten Unterhalt zahlen!" 
Franziska versprach es. 
"Darf ich sie um etwas bitten, Herr Gauß?" 
"Um alles, Franziska!" 
"Könnten sie mich bitte einmal in den Arm nehmen?" 

Statt einer Antwort schritt der alte Mann zur Tat. Dankbar schmiegte sich Franziska an ihn. Sie weinte herzzerreißend, aber auch befreit. Herr Gauß hatte sanft ihr Haar gestreichelt und Laute der Beruhigung von sich gegeben.  
Endlich löste sie sich vorsichtig aus der Umarmung. Unter Tränen lachend, wischte sie an ihm herum. 
"Ich haben sie ganz schmutzig gemacht, überall haben sie Lidschatten, Wimperntusche und Lippenstift!" 

"Wenn sie mögen, können sie mein Bad benutzen, Franziska. Die Handtücher in dem Schränkchen unter dem Waschbecken sind frisch!" 
Sie nahm das Angebot gerne an. 
"Sie müssen noch ein Telefonat führen." 
"Nein, danke, ich gehe persönlich zur Polizei. Ich will nur bei Cora vorbeifahren, ich brauche dringend etwas anderes zum Anziehen!" 
"Das meine ich nicht. Ich erhielt unlängst von einem jungen Mann eine Rufnummer ..." 
Er kramte ein Kärtchen hervor und überreichte es. Kai Kleinert ... Wie ein kleiner Schrei kam es aus Franziska heraus. 
"Das war ein Freudenschrei, hoffe ich?" 
Statt einer Antwort küsste sie die Wangen des alten Mannes und begann, zu wählen... 

"Du kommst sicher vom Kostümfest, nicht wahr?" 
Cora sah Franziska mit Verwunderung an. 
"Und bitte erzähl mir nicht, als was du dich kostümiert hast. Ich glaube, wenn ich von dieser eigenartigen, selbstgebastelten Hot Pants rückschließen soll, möchte ich es nicht wirklich wissen!" 
"Cora, ich brauche deine Hilfe!" 

Und, wie das eben so ist, wenn man echte Freunde hat: Nach einer ausgiebigen Dusche und knapp einer Stunde sah Franziska wieder so aus, wie man sie kannte. Zwar hatte sie von der heftigen Ohrfeige, die sie Benedikt verdankte, ein rötliches Mal im Gesicht, aber Dani, Schneeweißchen, überschminkte die Stelle geschickt, "das ist Camouflage Make-up, das ist sogar kußecht", und Ann-Kathrin sorgte für ein schickes, modernes, aber gediegenes Outfit mit Hose und Blazer. 

"Kleinert!" 
"Kai?" 
"Franziska! Endlich! Was machst du, wo bist du? Können wir uns sehen, ich bin in der Stadt auf der Suche nach dir!" 
"Ja, ich ... ich weiß, Herr Gauß hat mir deine Karte ... ich mußte nur noch Vergangenheit hinter mir lassen, und etwas Dreck abspülen!" 
"Und wo steckst Du jetzt?"


"Aller guten Dinge sind drei!" 
Mit deutlich ironischem, aber heiteren Unterton öffnete Cora Kai die Haustür. 
"Guten Tag, Frau Welk, ich ..." 
Kai war im höchsten Maß nervös, was ihm aber eine Art Lausbuben-Charme verlieh und ihn noch sympathischer machte. 
"Nun kommen sie schon herein. Franziska wartet schon viel zu lange auf sie!" 

Fränze saß auf einem Sessel am Fenster des gemütlichen Wohnzimmers, in das Kai nun von der Hausherrin persönlich geführt wurde. Das Fenster gab den Blick auf den herrlichen Garten mit den wunderbaren alten, knorrigen Bäumen frei. 

"Fränze!" 
"Sitze ich wieder auf einem von dir reservierten Platz? Ich weiß, du magst Fensterplätze!" 
Kai lachte. "Gott, mir kommt das so vor, als wäre das eine halbe Ewigkeit her!" 
"Es IST eine halbe Ewigkeit her, Kai." 

Sie erzählten sich, war passiert war, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten. Kai die Geschichte seines unglaublichen geschäftlichen Erfolges. Die  Episode mit Annika Eilers verschwieg er. Fränze berichtete von ihrem Einstieg in Coras Firma, der schicksalhaften Begegnung mit Benedikt Hampe und ihrer unseligen Hochzeit. Mit stockender Stimme schilderte sie dann die Begegnungen mit Hagemeister und Benedikts jeweilige Reaktionen darauf. 

"Diese Schweine haben dich benutzt, Fränze! Ich gehe hin und prügele ..." 
"Nein, Kai, laß dich nicht auf ihr Niveau herunterziehen! Ich zeige heute beide an. Begleitest du mich zur Polizei?" 
"Na klar! Ich kann dich fahren, ich habe einen Mietwagen! Einen feuerroten Opel Corsa, übrigens! Erinnerst du dich!" 
"Ja, na klar! Mit Schaudern! Oh ja, anschließend möchte ich noch zum Anwalt, wegen der Annullierung dieser unüberlegten Ehe ... mein Gott, wie blöde ich war!" 

"Ihnen ist klar, was es bedeutet, einen Mann wegen angeblicher Vergewaltigung anzuzeigen, Frau ... eeeeh .... Hempe? Zumal, da Sie ja bei einem Begleitservice gearbeitet haben?" 
"Ach! Und wenn man bei einem Begleitservice arbeitet, heißt das, daß man automatisch zum Freiwild für jeden dahergelaufenen Strolch wird?" 
"Das sicher nicht, Frau Hempe, aber der Beschuldigte wird behaupten, mit Ihrem Einverständnis gehandelt zu haben." 
"ES WAR NICHT MIT MEINEM EINVERSTÄNDNIS!" 
"Schon gut, schon gut! Regen Sie sich nicht gleich so auf! Ich hab's ja nur gut gemeint!" 
Polizeiobermeister Lamprecht dachte für sich: Warum habe ich eigentlich immer Dienst, wenn so was kommt. Ein aufgebrochenes Auto, eine gestohlene Handtasche, das wär's doch! Aber stattdessen: Hysterische Ziegen, die ihn anschrieen. Schweigend tippte er Franziskas Aussage, die Tastatur seines PC mit beiden Zeigefingern traktierend.

( Das war ja wohl das schwärzeste Kapitel in Franziskas Leben! Da hat sie einen Dr. Jekyll geheiratet, der sich als Mr Hyde entpuppte. 
Das mit dem Heiraten ist ohnehin eine schwierige Sache. Sogar, wenn man sich gut kennt, kann es schiefgehen. Obzwar ich manchmal glaube, daß die beiden Betroffenen ruhig härter an der Beziehung hätten arbeiten können. Natürlich nicht Franziska und Benedikt. Das war ja auch keine Ehe, das war ein Show-Event. Aber man rennt heute viel zu unbesorgt auseinander, oder? Der eigene Narzißmus behindert das sich auf den anderen Einlassen, und Kompromisse. 
In anderen Kulturkreisen suchen die Eltern die jeweiligen Partner aus. Daß das besser ist, habe ich nicht feststellen können. Es sieht nur vom Resultat her besser aus, weil die Struktur der Partnerschaften dieser Kulturkreise hierarchisch ist; einer hat sich eben unterzuordnen.
Egal. Man ist ja erwachsen. Schlimm wird es, wenn Kinder leiden. Einmal, weil die Eltern sich nicht scheiden lassen, und dann, wenn sie sich scheiden lassen. Ich weiß, wovon ich rede. Das bleibt. )



"Nach den Paragraphen 1313 und 1314 BGB liegt ein guter Grund für die sofortige Aufhebung der Ehe vor, Frau Hempe ... oder darf ich schon wieder sagen, Frau Tauber ... wenn nämlich die Schließung der Ehe aufgrund arglistiger Täuschung zustandekam. Wir haben gute Aussichten auf Erfolg! Ich bitte sie nur noch, hier diese Vollmacht zu unterschreiben, den Rest halte ich für eine Formsache. Ich habe ihre Einlassung zu Protokoll genommen. Eine Kopie meines Schriftsatzes schicke ich wohin?" 

"Eichenallee 9-11, zu Händen Frau Cora Welk, bitte! Von ihr stammt auch die Empfehlung, mich an sie zu wenden." 
"Cora Welk, ja! Eine wirklich wunderbare, charaktervolle Frau! Bitte grüßen sie sie besonders herzlich von mir!" 
Franziska versprachs, und Herr Rechtsanwalt Bolte begleitete Kai und Fränze noch bis zur Tür.

"Ich bin so froh, daß es endlich vorüber ist!" 
Franziska umarmte Kai aus einem spontanen Glücksgefühl heraus. 
"Was wirst du jetzt machen?" fragte dieser. 
"Ich bin nicht sicher. Das Beste wird sein, ich frage Cora. Vielleicht kann ich noch einmal in meinen Job zurück! Allerdings: So etwas wie Benedikt passiert mir nie wieder!" 
Kai betrachtete eingehend ein kleines Grasbüschel auf dem Boden, das zwischen zwei Gehwegplatten hervorlugte, und druckste herum. 

"Könntest du dir vorstellen ... ich meine, ich weiß, du wirst das vielleicht langweilig finden, aber ... andererseits, ich könnte ... ich meine, ich würde ...." Franziska lachte vergnügt. 
"Ich könnte, ich meine, ich würde? Kai, nun komm' auf den Punkt!" 

Kai wurde krebsrot. 

"Das ist, theoretisch gesprochen, gar nicht so einfach, bei dem, was ich zu sagen habe. Nach der schlechten Erfahrung, die du gerade gemacht hast, einfach so zu fragen, ob du dir vorstellen kannst, dich doch noch mal auf einen Mann einzulassen, meine ich. Auf dich zuzukommen, als wäre nichts geschehen. Dir das Angebot zuzumuten, mit einem Mann zusammenzuleben. Sogar, wenn dieser Mann gemerkt hat, daß er dich liebt und ohne dich nicht mehr leben kann. Nein, Fränze, das ist gar nicht so einfach. Das ist sogar ausgesprochen schwierig. Man kann nicht einfach so eine Frau, die im Begriff ist, eine unglückliche Ehe auflösen zu lassen, fragen, ob sie bereit wäre, erneut eine Verbindung einzugehen!" 

Er hatte sich jetzt richtig in Fahrt geredet. Franziska sah ihn aus großen, ungläubigen Augen erstaunt an. 

"Könnte sich denn ein Mann, theoretisch gesprochen, überhaupt für eine Frau interessieren, die eine solche Geschichte erlebt hat? Würde er nicht vielleicht feststellen, daß diese Frau unmöglich eine anständige Frau sein kann? Eine Frau, mit der man besser keine Verbindung eingehen sollte?"  

Kai sah von dem Grasbüschel auf und Franziska direkt in die Augen. 

"Wenn diese Frau, wirklich nur theoretisch gesprochen, jemals wieder einem Mann vertrauen kann, ja, dann würde er sich für diese Frau interessieren. Denn ... er liebt diese Frau. Vom ersten Moment an. Er hat es bloß damals noch nicht gewußt, weil er wegen der schlechten Ehe seiner Eltern an Liebe nicht mehr glaubte. Sonst hätte er sie nicht mehr gehen lassen, nachdem sie ihm das Leben gerettet hatte." 
"Oh, hat sie das?" 
"Ja, das hat sie. Und damit hat sie mir die Kraft gegeben, weiterzumachen und dahin zu kommen, wo ich heute bin." 

Beide schwiegen. Nach einer Weile flüsterte Fränze: "Und warum fragt dieser Mann diese Frau nicht endlich, ob sie ihn heiraten möchte ... sobald das wieder geht?" 

"Würde diese Frau denn diesen Antrag annehmen?" 
Franziska lachte. 
"Von ganzem Herzen, ja. Ja, ja, ja! Und das nicht nur theoretisch, sondern ganz praktisch!"

Pastor Peleikis war doch recht überrascht, als Franziska erneut vor ihm stand, um über die Trauung zu sprechen. 
"Entschuldigung, aber ... hatten wir nicht unlängst das Vergnügen?" 

Sie erklärte ihm, wie es dazu kommen konnte. 

"1. Buch Samuel, 16/7: 'Ein Mensch sieht, was vor Augen ist; der Herr aber sieht das Herz an.' Man kann doch wirklich niemals wissen, was in einem Menschen vorgeht. Aber die Wege des Herrn! Ich sage immer: Die Wege des Herrn! Wie sagt doch Psalm 25, Vers 8-10: 'Der HERR ist gut und gerecht; darum weist er Sündern den Weg. Er leitet die Elenden recht und lehrt die Elenden seinen Weg. Die Wege des HERRN sind lauter Güte und Treue für alle, die seinen Bund und seine Gebote halten!' 

"Natürlich heiratet Ihr in unserer bescheidenen Villa, das wäre ja wohl noch schöner!" 
Coras energische Stimme ließ keinen Widerspruch zu. Kai freute sich. 
"Das ist sehr lieb von ihnen, Frau Welk ..." 
"... wollten wir nicht endlich Kai und Cora sagen?" 
"... also Cora, das ist sehr lieb von dir! Ja, deine Räumlichkeiten dürften knapp ausreichen!" 
"Was haltet ihr davon? In der Halle bauen wir eine Champagnerpyramide auf, im Büro das Buffet. Getanzt werden kann in der Halle, im Wohnzimmer und in der Bibliothek, wenn wir die große Schiebetür öffnen. Und als Clou lassen wir auf der Empore die Band spielen. Was hättet ihr gern als Tanz?" 
"Ganz klar: Die 'Scorpions', "We will rise again". 
Wie aus der Pistole geschossen nannte Fränze den sehr rockigen Walzer. 
"Das trifft, soweit ich informiert bin, auf euch beiden zu", meinte Cora. 
"Ihr seid ganz wunderbare Menschen, und ich finde es großartig, daß ihr endlich zueinander gefunden habt. Ihr müßt mir etwas erlauben." 

"Alles, was du willst, Cora. Du hast uns so viel geholfen, und letzten Endes ist dein PC schuld daran, daß ich Fränze wiedergefunden habe." 
"Hhrrrmm!" 
Cora räusperte sich ausdrucksvoll und sah Kai streng, aber doch mit einem schalkhaften Augenzwinkern an. 

"Na gut. Dann müßt ihr mir erlauben, die Ringe für euch auszusuchen." 
"Cora, das kommt überhaupt nicht infrage. Für deinen persönlichen Einsatz können wir dir niemals genug danken, und du hast schon so viel Unkosten. Daß du das alles übernimmst, ist so lieb von dir, aber die Ringe, nein, wirklich!" 
"Alles, was du willst, Cora", imitierte die Hausherrin Kais Tonfall. 
"Also - Ende der Debatte, beschlossen und verkündet!" 

Die kleine Petri-Kirche war bis auf den letzten Platz besetzt. Kai hatte einige Freunde und Bekannte eingeladen, auch Annika hatte er gebeten zu kommen, und, zu seiner Überraschung, sie war tatsächlich erschienen. Fränze freute sich über Raffaelas Zusage, und erwartete die Kollegen ihrer alten Arbeitsstelle im Stadtkrankenhaus sowie, ganz selbstverständlich, die Kolleginnen und Kollegen der Agentur. 
"Lauter unwichtige, liebe Leute, Gottseidank!" dachte sie erleichtert. In der ersten Reihe, neben Coras, Alexander von Kostkas, der dem Bräutigam als Trauzeuge zur Seite stand, Danielas und Ann-Kathrins Sitzen, war ein Platz frei geblieben. 

"Seid nicht so neugierig", schmetterte Cora die Nachfragen ab, "wir erwarten einen Ehrengast."  

Fränze, die sich - damit Kai sie nicht vorher sehen konnte - in der Sakristei, von der man ganz gut in das Kirchenschiff spähen konnte, verschanzt hatte, verrenkte sich den Hals, aber Coras Planung nach sollte der Gast die Rolle des Brautführers übernehmen, und wartete geduldig in Coras Wagen auf dem Parkplatz vor dem Küsterhaus, das im rechten Winkel zum Kirchturm stand. 

Franziska hatte sich von Ann-Kathrin ein zauberhaftes, cremefarbenes Kleid im Vera-Wang-Stil, schulterfrei, aus Metern von Taft, Seide und Tüll auf den schlanken Leib schneidern lassen. Kai sah in einem klassischen Smoking fabelhaft aus. Er stand mit Alex neben Pastor Peleikis. 
Als die Orgel einsetzte, öffnete sich die Tür der Kirche, und durch die offene Tür schritt, am Arm von Herrn Gauß, die atemberaubende, strahlende Braut, gefolgt von Cora. Diese hatte es übernommen, den fast blinden alten Herren nach Erledigung seiner Aufgabe zu seinem Platz zu geleiten. 

Franziska hatte, als der alte Mann so unerwartet vor ihr stand, laut aufgeschluchzt und war ihm um den Hals gefallen. 
"Macht nix", meinte Daniela gelassen. 
" Ich hab wasserfestes Mascara benutzt!" 
Auf dem gold-glänzenden Haar war ein Schleier verankert, und Dani hatte sich mit dem glamourösen Make-up selbst übertroffen. Um den Hals trug die Braut einen kostbaren Schmuck: einen in Gold gefaßten, riesigen, pinkfarbenen Diamanten.

Pastor Peleikis sprach von den Irrungen und Wirrungen, die Kai und Fränze überstanden, den Umwegen, die sie genommen, den Schwierigkeiten, die sie überwunden hatten.  

"Ihr wart für einander von Anfang an bestimmt, aber das Schicksal hat euch geprüft. Nun endlich habt ihr euch gefunden, und wollt eure Verbindung vor dem Angesicht Gottes segnen lassen." 
Beim Tausch der Ringe öffnete Kai das kleine Kästchen, das ihm im letzten Moment von Alex zugesteckt worden war. Die Ringe hatte Cora individuell anfertigen lassen, asymmetrisch verflochtene und verwobene Bänder aus Platin, Gelb- und Rotgold, als Symbol für die verschlungenen Wege, die die beiden genommen hatten; Coras Ring war an einer Stelle mit einem kleinen Sternenhimmel aus winzigen Diamanten, verziert. 

Im Anschluß an die Trauung fuhr ein laut hupender, fröhlicher Corso unterschiedlicher, blumengeschmückter Wagen zur Eichenallee. Herr Gauß hatte es sich nicht nehmen lassen, diesmal ebenfalls Gast zu sein. 

"Ich weiß nicht, ob ich es überstehe, mein liebes Kind", sagte er fröhlich zu Franziska, "aber dein großer Tag ist mir so wichtig, daß ich meine geringe Belastbarkeit hintenan stelle. Und wenn dieser Tag mein letzter sein sollte, dann würde ich diese Welt überglücklich verlassen in dem Wissen, daß du, Franziska, gut aufgehoben und beschützt bist. Aber versprich mir, daß es deine letzte Hochzeit ist!" 

Fränze war überwältigt. 

"Ich weiß nicht, womit ich so viel Liebe verdient habe, aber ich bin gerade der glücklichste Mensch der Welt. Ich habe einen wunderbaren Mann, einen väterlichen Freund ..." 
"... na ja, eher großväterlichen Freund", wandte Herr Gauß bescheiden ein - "... Dich, Cora, Alex, Euch, Schneeweißchen und Rosenrot, Raffaela ... alle Menschen, die ich liebe, sind heute hier!" 

Die Feier nahm ihren Verlauf, man bestaunte die aus Sektkelchen gebaute Pyramide, in die nunmehr der Champagner gegossen wurde. Das Buffet enthielt erlesene Spezialitäten aus aller Welt, Cora hatte an nichts gespart. 

Fränze sorgte als erstes dafür, daß Herr Gauß, in einem bequemen, weich gepolsterten Ohrensessel sitzend, einen Teller mit allerlei Leckereien vor sich stehen hatte. Die kleine Band spielte als dezente, moderne Tafelmusik Songs von Cole Porter, dann wurde ausgelassen getanzt. 

Gegen halb Elf schickte sich Herr Gauß an, das fröhliche Fest zu verlassen. Er hatte jede Sekunde genossen, aber sein hohes Alter forderte seinen Tribut. 

"Du hast alles richtig gemacht, Franziska. Ich fühle es. Ich kann es nicht sehen, aber ich spüre, das so alles richtig und gut ist. Ich habe es einmal zu Dir gesagt: Am Ende wird alles gut. Gottes Segen, mein liebes Kind!"

Es war gegen drei Uhr in der Frühe, als zum Ende der Veranstaltung, Fränze auf die Empore trat, um den Brautstrauß zu werfen. Hastige Bewegungen, ein kleiner Aufschrei, ein Lachen ... und der Strauß, der übrigens in der Hauptsache aus weißen, duftenden Rosen mit dem Namen 'Brautzauber' bestand, war in den Händen von Annika Eilers gelandet, die sich den Abend über mit einem von Franziskas Kollegen offenbar sehr gut amüsiert hatte. Sie lächelte ihn an. 

"Wo werdet ihr euch eigentlich häuslich niederlassen?" fragte Cora. Kai wurde ernst. 
"Ich denke, es ist das Beste, wenn wir in unsere Heimatstadt zurückgehen! Ich kann den Laden meines Vaters nicht allein lassen!" 
Jetzt sahen alle bestürzt aus. 

"Ja", äußerte Fränze nach längerer Überlegung, "das verstehe ich natürlich." 
Kai hielt die Grabesmiene, die er aufgesetzt hatte, nicht lange durch. Sein Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. 
"Fränze, habe ich dir eigentlich schon mein Hochzeitsgeschenk gegeben?" 

Sie schüttelte, immer noch nachdenklich und etwas niedergeschlagen, den Kopf. Kai zog ein Schlüsselbund aus der Tasche und überreichte es mit einer kleinen, artigen Verbeugung. 

"Bitte sehr, Frau Kleinert!" 
"Was ist das?" 
"Fränze! Bitte sage mir nicht, daß du einen Schlüssel nicht erkennst!" 
"Ja, natürlich erkenne ich einen Schlüssel, aber ... welche Tür öffnet er?" 
Statt einer Antwort zeigte Kai auf die Villa auf der gegenüberliegenden Straßenseite. 

"Ich verstehe nicht ..." 

"Ich glaube, es wird Zeit, daß wir die Hochzeitsreise antreten", grinste Kai. 
"Du bist ja völlig fertig. Erinnerst du dich nicht, daß das Häuschen gegenüber leerstand? Nun, ich habe mein Anwesen verkauft, für den Laden habe ich jemand angestellt, und für den Internethandel brauche ich nur eine Steckdose und einen Telefonanschluß, egal wo. Ganz leer steht das Haus übrigens nicht mehr. Im Flur wirst du einige Tüten finden, die ich seit Monaten mit mir herumschleppe. Du erinnerst dich an deinen Einkaufsbummel mit Raffaela? Und du hast nichts vermißt, oder? Damit habe ich bewiesen, daß diese ganze Einkauferei völlig überflüssig ist!" 

Er lachte. 

"Aber im Ernst: Ich kann dich doch unmöglich deinen neuen Freunden, die inzwischen ja auch meine Freunde geworden sind, wegnehmen, oder? Schon gar nicht diesem wunderbaren Herrn Gauß!" 

Der Jubel war groß, Fränze fiel Kai um den Hals. 

"Pfui, Kai, wie kannst du mich nur so reinlegen? Mach das ja nicht wieder, sonst rede ich mindestens ... zehn Minuten kein Wort mehr mit dir! Was hast du denn für die Hochzeitsreise geplant?", fragte sie neugierig. 
"Eine Zugreise, ganz klar", lachte er. 
"Aber diesmal habe ich beide Fensterplätze reserviert!"



( Ich mag Happy Ends. Also, zumindest sieht es ja nach einem Happy End aus, oder? Ich verrate Ihnen was. Es ist nur deswegen eins, weil ich hier mit dem Erzählen aufhöre. 
Im wahren Leben ist manches etwas schwieriger. Wie war das noch? Die Pille und Antibiotika? Genau! Die wirkt dann nicht mehr zuverlässig ... 
kurz nach Franziskas und Kais Hochzeit bemerkte Annika, daß sie schwanger war. Natürlich informierte sie den Kindsvater, der lange überlegte, ob er mit dieser Neuigkeit sein privates Glück gefähren sollte. Er tat das einzig richtige. Er erzählte Franziska von dieser Nacht. 
Franziska nahm die Geschichte besser auf, als gedacht. Alles andere wäre ja auch ungerecht gewesen. Sie hatte sich ja von ihm entfernt, sogar geheiratet. 
Kai erkannte die Vaterschaft an. Sie einigten sich gütlich über Unterhalt, Sorge- und Aufenthaltsbestimmungsrecht. Annika heiratete den netten Jungen, den sie auf der Hochzeit kennengelernt hatte, womit die kleine Sydonie vier Eltern hatte und vergnügt vor sich hin gedieh.

Also letztlich doch ein Happy End. Das mag ich. 
Wie sagte Herr Gauß? Am Ende wird alles gut. )