Vorbemerkung: Du liegst mir am Herzen

Ich bin nicht ganz sicher, wo ich zum ersten Mal von Dir erfuhr. Kann es sein, dass irgendein Fernsehsender über Dich berichtet hat? Wohlmöglich SAT1? 

Unter normalen Bedingungen würde ich nie zugeben, dass ich diesen Sender einschalte. Ich bin da wohl zufällig 'reingezappt, mein Gott, ja, kann doch mal passieren, oder? Immerhin ging es um Medizinisches. Und um Dich.

Das Thema Transplantation und Organspende hat mich lange begleitet. Die Urologen im Klinikum Steglitz transplantierten, und die Ärzte der URO 008 betreuten die Nephrologie mit. Unsere Aufgabe war es, mit den Nieren einem Menschen Dialysefreiheit zu bescheren. Hatten wir die Nieren eines Menschen entnommen, kamen, egal zu welcher Tages- und Nachtzeit, die Patienten, die Augen voll Hoffnung, und erkundigten sich nach Blutgruppe und Gewebetypisierung, um dann zu erfahren, dass das Organ leider wieder nicht passte. Den Kummer in den Augen dieser Menschen vergesse ich nie. 

Bei Dir geht es ums Herz. Du bist 25, und das Herz, das in die schlägt, schafft die Arbeit nicht mehr. Das Wasser muss aus Deinem Körper gesogen werden, Du benötigst Sauerstoff. Jede körperliche Aktivität ist mit großer Anstrengung verbunden. Deswegen liegst Du meistens im Bett, auch wenn Du, wie jeder in Deinem Alter, so gern einmal wieder mit den Jungs rausgehen und was trinken würdest. 

Ich fühlte mich sehr angefasst durch Deine Geschichte. Und ich beschloss, den Versuch zu unternehmen, Dir zu vermitteln, dass Du mit Deinen Hoffnungen und Ängsten nicht allein bist. Wenig, ich weiß. Aber jeder, der noch einmal darüber nachdenkt und sich dann einen Deiner Organspende-Ausweise mitnimmt oder bei Dir bestellt, ist ein kleiner, wichtiger Schritt auf Deinem Weg zum Ziel. 

Wir sind inzwischen Freunde geworden, und können prima miteinander reden, wenn Du nicht, abgefüllt mit Schmerzmitteln, zu erschöpft bist. 
Ich habe mir gedacht, dass ich einen kleinen Zyklus von Geschichten zum Thema ‚Herz‘ zu schreiben versuche, um das Thema immer wieder ins Bewusstsein zu rücken. Und um Dir zu sagen, dass Du verdammt noch mal durchhalten sollst. Weil irgendwo ein volles Bierglas steht, das geleert werden will. 
Und weil da draußen viele Menschen auf Dich warten.

#SvenKrechting #MeinWegzumSpenderherz
    



Das Märchen vom Prinzen, dem jemand sein Herz schenkte

Es war einmal ein Prinz, der wohnte in einem prächtigen Schloss auf einem Berg. Gar nicht mal so weit entfernt von dem Ort, an dem Du wohnst. Der Prinz war jung und schön, wie man es von einem Knaben adligen Geschlechts erwarten konnte. Außerdem besaß er noch Humor, und war zwar nicht übermäßig klug, aber es reichte zum Überleben. ( Immerhin handelt es sich hier um ein Märchen. ) Aber, bei seiner Geburt hatte sich die böse Fee eingeschlichen, die einen Fluch aussprach, den zunächst keiner wirklich ernst genommen hatte. Er sollte nach seinem Glück auf der Suche sein, es aber nicht finden können, so lange, bis der Fluch gebrochen würde. Dazu allerdings müsste ihm jemand sein Herz schenken. 

Die Umstehenden, und unter ihnen besonders die Ritter, Grafen, Fürsten, Edelleute, hatten breit gegrinst. Na klar. Wer konnte einem schon das Herz brechen? Eine holde Prinzessin, natürlich! Das war doch nun wirklich jedem schon mal passiert. Dem Fürsten von Wetter sogar schon dreimal. Zuletzt mit Gunhilde von Greifenfels. So ein blöder Fluch, also wirklich! 

Nachdem die allgemeine Heiterkeit sich gelegt hatte, setzte jeder seine Tätigkeiten fort, als wäre nichts passiert. Was man eben so machte. Drachen füttern, Ausreiten, Hexen in den Ofen schubsen, und gelegentlich mal die Schatzkammern, das Verließ, dass seit der letzten Folterung in einem beklagenswerten Zustand war, und den Thronsaal feucht durchwischen. 

So verging die Zeit, und aus unserem knabenhaften Prinzen war nach einer sehr schwierigen Phase der Pubertät ein ansehnlicher, strammer Bursche geworden. Sein Freundeskreis bestand aus fröhlichen Rittern, Grafen und Fürsten, die gern mal Einen hoben und zu allerlei lustigen Streichen aufgelegt waren, die die Gardisten, Büttel und besonders den alten Nachtwächter zur Verzweiflung trieben. 

Die Königs saßen beim Frühstück. „Es wird Zeit, dem Jungen diese Albernheiten abzugewöhnen, findest Du nicht, geliebte Frau und Königin?“
„Du nimmst mir das Wort aus dem Mund, mein Herzensgatte und König“, erwiderte diese prompt. 
Aber während seine Eltern sämtliche Prinzessinnen der benachbarten, besonders der befreundeten Königreiche durchgingen, um die Vor- und Nachteile einer Verbindung einzuschätzen, hatte der Junge bereits ... na gut. Dazu später mehr. 

Unser Prinz erschien wieder einmal deutlich verspätet zum Frühstück. Missbilligend sah sein Vater ihn an.  
„Heiraten sollst Du!“
„Och Mensch, Dad ...“
„Euer Majestät! ...“, korrigierte der Papa ihn geduldig.
„Och Mensch, Euer Majestät! Muss das sein? Dann muss ich immer fragen, wenn ich mal mit den Jungs rauswill, auf ein oder zwei Biere, und plötzlich ist alles mit Kerzen, Decken und Vasen dekoriert! In altrosa, wohlmöglich! “

Die Königin schaltete sich ein. 
„Ja, und wenn Du dann in neun Monaten selber Papa wirst, ist sowieso Schluss mit diesen unziemlichen Sauftouren, die ich, mein lieber Sohn, nie gutgeheißen habe.“
Die Augen des jungen Mannes weiteten sich vor Entsetzen. Das klang alles höchst beunruhigend. Vor allem, weil er sich ziemlich für den Sohn des Fürsten aus dem Nachbarort zu interessieren begonnen hatte. Er beschloss, die böse Fee aufzusuchen, die in einer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung im Zauberwald wohnte. 

Er war erstaunt, das Klingelschild zu lesen. Demnach hausten in dem häßlichen Gebäude im Erdgeschoss Rotkäppchen und Rumpelstiltzchen, die 1. Etage schien der guten Fee vorbehalten zu sein, die 2. Etage teilte sich die böse Fee mit Schneewittchen. Der Königssohn betätigte den weißen Knopf neben dem Schild „Böse Fee“. Er hastete, nachdem der Summer auf sein Läuten hin ertönt war, nach oben. 
„Grüß Gott, Frau ... äähh ...“
„Nicht Frau Äähh. Fee, ist mein Name. BÖSE Fee!“
„... also, Frau Böse Fee - ich brauche dringend Ihre Unterstützung! Sie waren doch vor Kurzem so nett, mich zu verfluchen! Wenn ich darauf noch einmal zurückkommen dürfte ... “

Sie bereitete Tee  und stellte ein paar Kekse, die sie immer zum Anbieten in einer metallenen Dose aufbewahrte, falls mal unerwarteter Besuch kam, auf den Tisch. 
„Zucker?“
„Hätten Sie vielleicht Süßstoff? Wissen Sie, ich achte etwas auf mein Gewicht. Sonst passe ich irgendwann nicht mehr in die Rüstung!“
Verständnisvoll reichte ihm die reife Dame die kleinen Tabletten, die sich sprudelnd im heißen Tee auflösen. 
„Lecker, die Kekfe!“, brachte er kauend hervor. 
„Mit vollem Mund spricht man nicht“, erläuterte die Dame streng. 

Der junge Mann erklärte sein Problem. Die Fee grübelte.
„Ich verstehe ... Also, machen wir es so: Dass Flüche völliger Quatsch sind, hat sich vielleicht noch nicht herumgesprochen. Aber sie sind doch immer ganz wirkungsvoll! Ich verwende ja gern Pyrotechnik, und spreche so mit drohender, ungefähr eine Terz tieferer Stimme als sonst und rolle dabei das R ... “ 
Sie hob ihre Arme, machte ein grimmiges Gesicht und rief „Üüüüch - verrrrrfluche - Düüüüch!“ Sie lachten beide herzlich, auch wenn der Prinz zunächst ein ganz klein wenig erschrak. So verbrachten sie den Nachmittag. Fast jeder Satz begann mit den Worten:

„Wie wäre es denn, wenn wir ...?“
                                            
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„Wie wäre es denn, wenn wir eine kleine, aber feine Auswahl der infrage kommenden Kandidatinnen zu einem Ball einladen würden? Da kann er sich dann entscheiden, und wir können unverzüglich die Verlobung bekanntgeben!“ 

Der König blickte seine Gattin voll respektvoller Wertschätzung an. Den Sinn für's Praktische hatte sie in all den Jahren nicht verloren! 

Und so geschah es. Sämtliche Hausdamen, Diener, Lakaien brachten das Schloss auf Hochglanz. Die Gästezimmer für die von weit her kommenden Monarchen wurden gerichtet. Man wollte Ihnen nicht zumuten, so spät in der Nacht mit unzuverlässigen Verkehrsmitteln wie Kutschen zurückzufahren. Die Bauern der Umgebung wurden verpflichtet, Salate und Gemüse sowie etliches Getier bereitzuhalten. Die Jäger erlegten noch einen kapitalen 18-Ender. Nein, verhungern würde keiner. 

Der Ball war ein wirklich glanzvolles Ereignis. Aparte, liebliche, zauberhafte Prinzessinnen, soweit das Auge reichte. Aufwändige Frisuren, kostbare Geschmeide, extravagante Kreationen aus Seide, Satin, Damast und Brokat. Jede erschien in Begleitung der elterlichen Monarchen. Überall ertönen gedämpfte Stimmen, leise Musik, heiteres Lachen. Der Ballsaal und die große Halle, in der der riesige Esstisch aufgebaut und prächtig eingedeckt stand, waren geschmackvoll mit Girlanden, Kerzen und Blumen dekoriert. 

Unserem Freund, dem Prinzen, wurde heiß und kalt. Wenn er nicht gut aufpasste, war er am Ende des Tages mit einer dieser Schnecken verlobt. 
„Hast Du schon mit Prinzessin Clothilde von Cosmarck getanzt, mein Sohn?“, ertönte hinter ihm der Bass des Vaters. „Ich würde das sehr ... sagen wir mal, begrüßen! König Caesarius gehört ein nicht unerhebliches Vermögen, und er unterhält ausgezeichnete diplomatische Kontakte in die benachbarten Provinzen!“
„Und was ist mit Prinzessin Friederike von Finkenheim? Die Finkenheims sind bekannt für großen Kindersegen! Königin Franziska war im Prinzip ununterbrochen schwanger! Und ich hätte einen großen Stall voll Enkel!“, zwitscherte die Königinmutter aufgeregt in glockenhellem Sopran. 

Der Prinz allerdings wirkte lustlos und derangiert. Schweißnass, klebten die blonden Locken an seiner Stirn. Er hatte nur Augen für den Fürstensohn aus dem benachbarten Ort, der, nervös lächelnd, an einer Säule lehnte, und einen Champagnerkelch nach dem andern leerte. Nein, so ging es nicht weiter. Er musste sich seinen Eltern gegenüber erklären. 
„Mum, Dad ...“ 
„Meine hochverehrten königlichen Eltern ...“, korrigierte ihn der König geduldig. 
„Ja, genau! Ich muss Euch etwas sagen!“ 
Und das tat er dann auch. 

Der Vater erbleichte, tastete hinter sich nach dem Thron und ließ sich auf diesen fallen. „Aber - was wird denn aus meinen Enkelkindern?“, ächzte die biologisch sehr bewanderte Königin. Aber, so gut, wie sie sich in Naturwissenschaften auch auskannte - sie war auch recht abergläubisch. 
„Nein, mein Sohn, das will ich nicht. Lass das. Vielleicht könnten wir mal eine zauberkundige Fee bitten, Magie anzuw... HUCH!?“
Weiter kam sie nicht. Aufs Stichwort ertönte ein halblauter Knall, gefolgt von einem Blitz, einer violetten Rauchwolke, der die böse Fee entstieg, mit höllischem Gelächter. Und, natürlich, lauter rrrrollenden ‚R's‘. Mit einer ungefähr eine Terz tieferer Stimme als sonst erinnerte sie an den Fluch anläßlich der Geburt des Jungen. Im weiteren erläuterte sie ihren Standpunkt. Es ginge hier schließlich um das Lebensglück des Prinzen. Da dürfte man sich keinesfalls spießiger Kleinlichkeit hingeben. Und wollte man weiteren Flüchen aus dem Wege gehen, täte man gut daran, sich darüber zu freuen, dass sich jemand gefunden hätte, der bereit war, sein Herz zu verschenken. Und wenn es der Fürstensohn aus dem Nachbarort war. 

Diverse Prinzessinnen fielen in Ohnmacht und mußten mit Riechsalz in die Realität zurückgeholt werden. Zu groß war die Enttäuschung. Prinzessin Desirée von Donnersried triumphierte. „Ich hab’s euch gesagt. Ich WUSSTE es, von Anfang an. Allein die Art, wie er ... ach, egal. Auf mich hört ja sowieso keiner. Dabei war es so leicht zu merken!“
Irgendwann siegte die den Frauen eigene, praktische Vernunft. „Wann gibt's endlich was zu essen?“, erkundigte sich Prinzessin Amélie von Ammersfelden. „Ich könnte einen Happen gut vertragen!“

Es herrschte allgemeine Zustimmung, und so schritt die Festgemeinde gut gelaunt zur Tafel. Das heißt, einer schritt nicht. Der Fürstensohn hatte vor Aufregung etliche Gläser Champagner - etliche Gläser zu viel, heißt das - geleert und schwankte etwas, statt zu schreiten. Aber der Prinz stand an seiner Seite, und stützte ihn. 

Das tat er übrigens für den Rest ihres gemeinsamen Lebens. 





Ja, so ist das mit Märchen. In der Realität sind Geschichten, die das Herz betreffen, meist nicht so romantisch und heiter. Ich habe es selbst erlebt. Um es gleich vorwegzunehmen: Dee Protagonist der folgenden Geschichte ist dann, nach zweimaliger Reanimation, wieder aufgewacht. Etwas angesengt, aber er lebt noch. Sogar bis heute.

Irrtum des Herzens oder Tachyarrhythmia absoluta

Ich schrecke auf. Frühmorgens, schweißgebadet, ängstlich. Dieses Klopfen in meinem Hals! Ich glaube, dass ich davon aufgewacht bin. Draußen ist es dunkel. 3 Uhr 37! Irgendetwas sitzt auf meinem Brustkorb. Ich bekomme kaum Luft. Dabei habe ich mir schon zwei Kopfkissen ins Bett gelegt. Was soll ich denn noch tun? Sitzend schlafen? 

Obwohl ... beim Fernsehen schlafe ich regelmäßig ein. Auch sonst. Beim Lesen. Beim Musik hören. Sogar bei Beethoven und Wagner. Ich kenne das schon. Seit einem Jahr geht es mir von Tag zu Tag ein wenig schlechter. Aber ich habe so viel zu tun, in der Praxis. Ich darf nicht ausfallen. Und ich bin selbstständig. Ich kann es mir gar nicht leisten, auszufallen.

Es stimmt etwas nicht mit mir, heute. Ganz und gar nicht. So schlimm war es noch nie. Der Weg zur Arbeit wird immer länger. Noch vor einem Jahr bin ich in wenigen Minuten zum S-Bahnhof Wellingsbüttel gelaufen, Berliner Tor in die U-Bahn umgestiegen. Endstation Mümmelmannsberg. Sie haben ihr Ziel erreicht. 

Für den Fußweg muss ich jetzt schon mehr als das Doppelte an Zeit einplanen. Gut, dass ich immer so früh wach werde. Das passt. Gestern habe ich die Treppe, hoch zum Bahnsteig, doch auch geschafft! Was ist denn heute bloß los mit mir?

Nach drei Stufen muss ich innehalten. Es wird mir schwarz vor Augen, gerade noch kann ich das Geländer ergreifen. Ich kämpfe um Luft. Die Menschen hasten an mir vorbei. Na klar, sie haben es eilig. Mal wieder auf die letzte Minute, wie? Oben höre ich rumpelnd die Bahn einfahren. Zischend öffnen sich die Türen, zurückbleiben bitte, erneutes Zischen beim Schließen. 

Ich spüre die Vibration des abfahrenden Zuges. Zurückbleiben, bitte. Ja, ich bin zurückgeblieben. So viele Stufen. Unendlich. So müssen sich die Sklaven beim Bau der Pyramiden gefühlt haben. 

Nein, danke. Nicht mit mir. Keuchend bewege ich mich zur Bushaltestelle. Ich muss zum Arzt. Meine Patienten müssen es heute mal ohne mich schaffen. 

Was ist das, wenn man keine Luft mehr bekommt? Krebs, oder? Mindestens Krebs. Verdammt. Davor hatte ich immer Angst. Schon als Kind, beim Schwimmen. Wenn einer von den größeren Jungen kam, und mich untertauchte, einen schrecklichen Moment lang. Keine Luft mehr zu bekommen. Qualvoll ersticken müssen ... ah, gut. So fühlt sich also eine Panikattacke an. Dann weiß ich das auch schon mal. 

Lungenkrebs also. Bin ich bereit, diese Diagnose zu ertragen? Ich weiß es nicht. Es ist mir auch egal. Ich muss zu meinem Freund Robert Osterloh, dem besten Lungenfacharzt der Welt. Gottseidank gibt es am U-Bahnhof Billstedt Rolltreppen. Der Taxifahrer will erst protestieren, als er das Fahrziel erfährt, schweigt dann aber, als er meiner im Rückspiegel ansichtig wird. Für 5 Euro fährt er mich um die Ecke. 

Als Kollege genieße ich Sonderrechte, ohne Wartezimmer und Anmeldung. Robert stellt mich vor den Schirm, den ich fest umklammert halte, wie einen Freund, den ich schon jahrelang nicht mehr gesehen habe. 
Die Assistentin kommandiert. 
„Bitte einatmen!“ Na die ist gut! Ich würde ja, wenn ich könnte! 
Also gut, ich versuche es. 
„Und die Luft anhalten!“
Die Maschine knackt. Die Folie ist belichtet, und mir wird schon wieder schwarz vor Augen.

Robert kommt nach deren Entwicklung in sein Sprechzimmer, in das mich die Damen geführt haben. Stirn in Falten gelegt, sorgenvoller Blick. Das Licht des Kastens, an den er gerade das Bild klemmt, blendet mich. Das sind sie also, meine Lungen.
„Wo sitzt er denn, der Schatten“, frage ich so cool wie möglich. Ich kann nicht mehr sagen, ob ich vor Angst oder vor Krebs kaum noch Luft bekomme.
„Wieso - Schatten!“ Der Doktor ist irritiert.
„Na, der Krebs!“
„Hast Du nicht. Aber die Lunge ist bis obenhin voller Wasser. Einmal dringend nach Gegenüber, zu Jens Stadtmüller. Was ist mit Deinem Herzen los?“
„Kann nicht sein. Ich habe doch gar keins“, scherze ich. 
Gottseidank, kein Krebs. Kein Krebs, kein Krebs .... das Echo in meinem Kopf hallt wider, und alles könnte so schön sein, wenn ich Luft bekäme. Aber, wenn man weiß, was es ist, kann man ja auch was dagegen tun, nicht wahr. 

Wenige Schritte durch die Fußgängerzone. Nur wenige Schritte. Dahinten, die Tür, die muss ich irgendwie erreichen, im Haus ist dann ein Fahrstuhl. Los jetzt, das schaffst Du!

Schritt für Schritt. Alle drei Schritte muss ich innehalten, damit ich wieder atmen kann, und das Schwarze aus meinem Gesichtsfeld verschwindet. Ich halte mich an Mauern fest, an den Schaufensterscheiben. Jemand kommt auf mich zu, aber ich erkenne niemanden. 
„Kann ich Ihnen helfen?“ 
Sehr lieb, danke, aber ich muss das hier allein hinbekommen, und ich weiß ja noch nicht mal, ob es sie für mich überhaupt gibt, die Hilfe. 
Es gelingt mir nicht. Ich bemühe mich seit einer gefühlten Ewigkeit, und ich habe noch nicht einmal zwei Hausecken hinter mir.

Ärger. Das Gefühl von Unwillen und Zorn steigt in mir auf. So will ich das nicht haben. So nicht. Gut, schön. Wenn es dann zu Ende gehen soll, dann geht es eben zu Ende. So macht es ja keinen Spaß mehr. Entweder, jemand kommt und zieht die lockeren Schrauben fest, oder  ... dieses Schwarze vor meinen Augen ... ob das schon der Umhang vom Sensenmann ist? 

Ich habe plötzlich keine Angst mehr. Ich kämpfe nicht mehr. Alles ist gut so, wie es ist. Alles fühlt sich ganz logisch an, ganz richtig, völlig normal. Geboren werden, Sterben. Worüber rege ich mich auf? Es stimmt doch so. Irgendwann geht so eine Maschine kaputt, und dann verschrottet man sie, um Platz zu schaffen für eine Neue.

Ich weiß nicht, wie ich die kardiologische Praxis erreiche. Ich schiebe die Tür auf, mit letzter Kraft. Es wird dunkel um mich. Zusammensinkend höre ich noch den Ruf, „Oh bitte - nicht noch ein Notfall heute!“ 

Dann wird es endgültig Nacht. 



So, was haben wir? Ein Märchen, und einen Patientenbericht zum Thema Herz. Wäre jetzt nicht mal eine Liebesgeschichte dran? Immerhin verbinden wir ja dies Organ, das die Maschine als Motor antreibt, mit dem Begriff „Liebe“, oder? Vielleicht, weil es schneller schlägt, wenn man an den geliebten Menschen denkt. Weil es schmerzt, wenn die Liebe abkühlt. Aber was passiert mit dem Herzen, wenn die Liebe gänzlich abhanden kommt? 

Der freie Platz in seinem Herzen

Es war gar nicht mal das Bedürfnis nach Sex, was ihn hierher trieb. Testosterongesteuerte Gier. Geilheit. Das alles hätte er schlimmstenfalls auch noch allein in den Griff bekommen. Im Zeitalter des Internets ..  komm! Schnell so ein Filmchen gestreamt, und ... Aber das war es nicht. Na gut, ein wenig. Immerhin war er ein Kerl. Ein Junger, noch dazu. Aber es ging ihm nicht nur darum. Nur, wenn er wirklich mal seine Schüchternheit überwand, und ein Mädchen ansprach, lachten die jungen Damen ihn aus. Oder, weitaus häufiger, sie glaubten ihm nicht. 

Er war einmal verliebt gewesen. Sie war 17, er ein Jahr älter. Sie war die Welt für ihn, er allerdings diente ihr nur zur Überbrückung eines Vakuums, dass ihr voriger Freund bei ihr hinterlassen hatte. Außerdem hätte es ihre Eitelkeit nicht zugelassen, ohne männliche Begleitung irgendwo zu erscheinen. Sie hatte sich in einen 24jährigen Jungen verliebt, der ihre Avancen mit dem Hinweis auf ihr junges Alter wiederholt zurückgewiesen hatte. 

Sportlicher Ehrgeiz hatte sie gepackt, und irgendwann hatte sie den Willen des Standhaften, mit Alkohol und diversen Einblicken in ihre allerprivateste Sphäre, gebrochen. Ihr schlechtes Gewissen hielt sich in engen Grenzen, sehr, sehr engen Grenzen. Wie bei einer Löwin, die tötet, um ihre Jungen zu ernähren. Nur, dass es hier um weniger lebenserhaltende Ziele ging. Immerhin, auch sie hatte etwas genährt. Ihre persönliche Eitelkeit, nämlich.

Er hatte es herausgefunden. Und es hatte ihm das Herz gebrochen. Immerhin, sie waren erst zwei Monate zusammen gewesen. Aber sie hatten Pläne gemacht, sich durch das gemeinsame Leben geträumt. Sein Herz war voll von gestillter Sehnsucht, voll Hoffnung. Es schlug nur für sie, und den gemeinsamen Traum. Er war morgens aufgewacht, hatte sie neben sich liegen sehen und eine Weile beobachtet. Die langen, dunklen Wimpern. Das goldglänzende Haar, das ihr Gesicht mit weichen Wellen einrahmte. Die vollen, rosafarbenen Lippen, willenlos geöffnet. An der ihm zugewandten Seite blinkte ein winziges Speicheltröpfchen in der Morgensonne. Wie schön sie war! Dieses Gefühl von Glück! Das Erstaunen darüber, dass er es vollbracht hatte, dies wunderbare Geschöpf für sich einzunehmen! Diese Atemlosigkeit angesichts so unglaublicher Liebe! 

Und nun war alles zusammengebrochen. Er hätte so gern geweint. Aber in ihm war dort, wo dieses Wunderbare, Unglaubliche, Glückliche gesessen hatte, nur ein schwarzes Loch. Er war völlig leer. Stumpf, empfindungslos. Was sollte ein Gegenstand auch fühlen? Nicht wahr? Er war doch eine Sache, ein Ding, ein Etwas. Nichts Besonderes. Austauschbar. Leicht zu ersetzen. Man musste ihn weder lieben, noch respektieren. 

Dann hatte er sich wieder gefangen. Er spürte es an der plötzlichen Trauer, die von ihm Besitz ergriff, einer wuchernden Pflanze gleich. Der Schmerz über den Verlust kam unerwartet. Komischerweise war er dankbar, überhaupt etwas fühlen zu können. Tränen rännen aus seinen Augen. Hinterher fühlte er sich besser. 

Ja, und nun stand er hier. Nicht wegen sexueller Bedürfnisse, wie gesagt - also, zumindest nicht nur. Die hätte er ja, wie erwähnt, auch selbst mühelos in den Griff bekommen. 

Nein. Er sehnte sich danach, wahrgenommen zu werden. Bemerkt, mit allen Sinnen. Es gab ihn doch, nicht wahr? Er existierte. Er war kein Ding. Er war ein Mensch. Er wollte gehört und gespürt werden. Geschmeckt und eingeatmet. Geliebt? Das war wohl zu viel verlangt. Aber er konnte sich diese Illusion ja kaufen, immerhin. Die kalten, bunten Fenster, in denen es verführerisch blinkte, verkündeten Verführung, sprachen von der Erfüllung von Bedürfnissen, die man selten öffentlich erörterte. Hier huldigte man dem Laster, in diesem Tempel der verlorenen Seelen, der kalten Herzen. 

Der Hirte, in feinen, maßgeschneiderten Zwirn gehüllt, führte seine Lämmer zum Altar, in ihren lächerlichen Kunstpelzen, knappen Korsagen und übertriebenem Make-up. Opfergaben. 
„Hier, junger Mann, nimm Svetlana, frisch aus der Ukraine eingetroffen“, pries der Hirte eins seiner Lämmer an, und erläuterte die diversen Talente der jungen Frau. 
Er aber hatte sich bereits entschieden, für ein Mädchen, das etwas abseits stand, den Kopf gesenkt. 

Sie wirkte völlig deplatziert in der Gruppe der offenbar Willigen. Die aufdringliche Schminke wirkte wie eine verzerrte, verzerrende Maske, auch das Bisschen an Garderobe, das mehr zeigte, als es verhüllte, passte nicht zu ihr. Man hatte vergeblich versucht, Verletzlichkeit zu übertünchen. Es war wie mit Fettflecken an der Küchentapete. Egal, wie oft man sie mit Farbe überstrich - sie schlugen immer wieder durch. 

Statt zu sprechen, zeigte er mit dem Finger auf die junge Frau. Der Maßanzug lachte. „Aglaja? Die ist noch nicht zugeritten, wenn Sie verstehen, was ich meine!“ Er zwinkerte ihm verschwörerisch zu; ja, er hatte es verstanden, und es schauderte ihn.

„Die!“
„Der Kunde ist König“, bemerkte der maßgeschneiderte Hirte achselzuckend.
„30 Minuten 50 Euro! Und Kondome sind Pflicht! Man möchte sich ja nichts nachsagen lassen!“, rief er hinter den beiden her. 

Im Hotelprospekt hätte man, wenn es ein solches gewesen wäre, etwas von „zweckmäßig möbliert“ geschrieben. Tisch, Stuhl, Bett. Eine hässliche Messinglampe spendete gedimmtes, rötliches Licht. Das in der Luft liegende Aroma schien sich aus dem Geruch jeder nur denkbaren Ausscheidung des menschlichen Körpers zusammenzusetzen. 

Er betrachtete das Mädchen, die unmittelbar nach ihrem Eintreten begann, sich zu entkleiden. Mechanisch, sachlich, wie beim Arzt. Mit einem hastigen Schritt war er bei ihr. 
„Halt, warte!“ 
Er hielt ihre Handgelenke fest.
„Das geht alles von Deiner Zeit ab“, erläuterte die junge Frau. 

Sie saßen nebeneinander auf dem übelriechenden Lager, und erzählten sich 100 Euro lang ihre Geschichten. Von Verrat, von Schmerz. Von Einsamkeit. Sie war schwanger geworden, der Erzeuger des Kindes hatte sich verabschiedet. Sie hatte Geld verdienen müssen, und es seien nur Arbeitszeiten in Frage gekommen, in denen das Kind schlief, bei ihrer Mutter. 
„Wenn er aus der Schule nach Hause kommt, wartet das Essen auf ihn. Dann muss ich ihm bei den Hausaufgaben helfen.“

Die Nachbarn waren sehr unwillig, weil sich beim besten Willen nichts über die beiden jungen Leute, die im ersten Stock eingezogen waren, in Erfahrung bringen ließ. Am Briefkasten und am Klingelschild standen zwei Namen, aber das war ja heutzutage nichts Besonderes. Das Kind jedenfalls sagte „Papa“ zu dem jungen Mann. 

Es handelte sich um ein hübsches Paar, das von irgendwoher, man wußte nicht genau, woher, in die Stadt gezogen war. Sie grüßten höflich, und schienen gemeinsam ein Ziel zu verfolgen. 
Hätten die Leute doch nur sehen können, wie glücklich sie waren! Aber dazu hätten sie morgens in das Schlafzimmer gehen müssen, wenn er erwachte und sie neben sich liegen sah und eine Weile beobachtete. Die langen, dunklen Wimpern. Das dunkle  Haar, das ihr Gesicht mit weichen Wellen einrahmte. Die vollen, rosafarbenen Lippen, willenlos geöffnet. Vielleicht hätten diese Nachbarn sogar an der ihm zugewandten Seite ein winziges Speicheltröpfchen in der Morgensonne blinken sehen.

Und das Glück empfunden, sein Glück, und das Ihre, das bereits verloren schien, und dort auf beide gewartet hatte, wo sie es nie vermutet hätten. 


Mein Gott, so spät schon? Es ist doch mal wieder Zeit für eine Herz-Geschichte, oder? Ihr erinnert Euch: An meinen Freund Sven Krechting, dem es weiter besser geht. Märchen, Patientenbericht, Liebesgeschichte ... Mystery? Ist es wirklich so mysteriös, dass, wenn man Hilfe am nötigsten braucht, diese auch findet, eventuell sogar vielschichtiger, als man es vermutet? Manchmal benötigt man nur einen Anstoß ... 

Krankes Herz

„Faites vos jeux! - Bitte das Spiel zu machen!“ 

Der weißhaarige, sehr soignierte Croupier hatte die kleine weiße Kugel aus dem Fach der 33 geschnipst und den ruhenden Kessel in Rotation versetzt. Hastig platzierten die eleganten Damen und Herren, die am Spieltisch saßen, und auch die, die hinter diesen standen, die bunten Jetons auf einzelne Zahlen oder Zahlenkombinationen. Ein kleiner,  dicker Mann keuchte heran, schweißbedeckt, 5 Plastikstücke in der Hand. „Zerospiel! Zerospiel mit der 19!“, stieß er keuchend hervor. Der Croupier, der dem mit der Kugel gegenübersaß, nahm die Jetons entgegen und warf sie mit elegantem Schwung auf die entsprechenden Positionen auf dem grünen Filz. 

Das Setzen war in vollem Gange, der Schwung des Kessels wurde noch einmal verstärkt, die Kugel gegen seinen Lauf eingeworfen. 

„Rien ne va plus - nichts geht mehr!“

Damit war das Setzen beendet. Voll atemloser Spannung lauschten die Casino-Gäste auf das gleichmäßige Schnurren der auf dem Holzrahmen rollenden Kugel, das sich jetzt in ein holperiges, einen Moment andauerndes Staccato wandelte. Dann kehrte Stille ein.

„14, rot, gerade, manque, Orphelins!“, verkündete der weißhaarige Croupier mit nüchterner Stimme. 

Die Jetons wurden mit Plastikrechen fortgeharkt. Nur die korrekt Gesetzten überstanden diese Bereinigung, und verblieben als Einsätze für das nächste Spiel. Gewinne wurden ausbezahlt, und erneut war Tim nicht dabei. Seine letzten beiden Stücke hatte er für die 9 mit ihren beiden Nachbarn, die 22 und die 31, ausgegeben. Das Limit seiner Kreditkarte war erreicht, das Bargeld in seiner Tasche ging zur Neige. Das Serotonin, das seine Sinne verwirrt hatte, wich dem Adrenalin und dem damit verbundenen Ärger, über das Casino, sich selbst, seine offensichtliche Unfähigkeit, diszipliniert zu spielen. 

Deprimiert trat er vor das prachtvolle, glänzende, schimmernde Gebäude, das er, wie er voll bitterer Ironie feststellte, zu einem nicht unerheblichen Teil mitfinanziert hatte. Die Dunkelheit war bereits hereingebrochen und hatte das Versprechen auf Glück, das der Tag ihm gegeben hatte, nicht eingelöst. 
Er wusste, dass es keinen Sinn hatte, Energie an Gedanken wie „Ab jetzt spiele ich nicht mehr“ zu verschwenden. Es war seine Leidenschaft, es war seine Sucht. Er war dem Geräusch der rollenden Kugel, dem Rasseln der Jetons, dem Glücksgefühl, wenn er einmal gewann, hilflos ausgeliefert. Er zündete sich nachdenklich eine Zigarette an und sog nervös an ihr.

Es regnete. Natürlich regnete es. Das passte einfach zu gut. Ein lauer, freundlicher Sommerabend, mit zirpenden Grillen und funkelnden Sternen, hätte sich nicht richtig angefühlt. Stattdessen regnete es, und es war kalt. Das Licht der Parkplatz-Laternen wurde vom nassen Kopfsteinpflaster silbrig reflektiert. Der Betrag, den er verspielt hatte, war so hoch, dass die Illusion jedes Spielers, ihn mit dem nächsten, genialen Coup zurückgewinnen zu können, wie eine Seifenblase zerplatzt war. 

Tim hatte das Leben immer wie ein großes Spiel aufgefasst. Wann und wo immer man ihn sah, jonglierte er, balancierte er, baute Türmchen aus Bierdeckeln, ließ Münzen wie Kreisel rotieren. Die Neigung zum Spiel hatte sich bis in sein persönliches Leben hineingearbeitet. Die einzige Herzdame, die er zu lieben glaubte, hatte es irgendwann satt, wie eine Schachfigur hin- und hergeschoben zu werden. „Pech in der Liebe, Glück im Spiel!“, hatten Freunde gehöhnt. 

Herzdame .... er begab sich wieder hinein, in die trügerisch-bunte Welt, und tauschte an der Kasse seine letzten Barreserven gegen drei 50-Euro-Jetons ein, und nahm an einem der Black-Jack-Tische Platz. Der Dealer teilte aus. Er verlor. Der akute Schmerz, der gürtelförmig seinen Brustkorb umschnürte, strahlte bis in die Fingerspitzen der linken Hand hinein. Diese Übelkeit ... Was hatte er Falsches gegessen? Ihm wurde schwarz vor Augen, der Schweiß, der sich auf der Stirn gebildet hatte, traf beim Herunterrinnen seine Augen und brannte höllisch.

„Ist etwas nicht in Ordnung, Monsieur?“ 

Die Frage des Dealers war das Letzte, was er klar wahrnahm, bevor er zusammenbrach. Er glitt vom Stuhl auf den Fußboden des Casinos, dessen Teppichboden lauter Glückssymbole zeigte. 

„Ist ein Arzt im Saal?“ Geistesgegenwärtig, wenn auch panisch, hatte der Bedienstete der Spielbank laut gerufen. Eine junger Mann näherte sich. „Ich bin Krankenpfleger. Was ...? Oh!“
Sein Blick war auf den am Boden liegenden Tim gefallen. Er kniete sich neben ihn, fühlte den Puls, legte ihre Hand auf seine Stirn, kontrollierte seine Atmung. 

„Gibt es einen Notfallkoffer?“ 
„Wir haben sogar einen Defibrillator“, erklärte stolz der Saal-Chef. 
„Worauf warten Sie? Schnell! Holen Sie ihn! Und rufen Sie Notarzt und Krankenwagen!“

Die junge Mann hatte Tim's Kragen geöffnet und sich an Beatmung und Herzmassage gemacht. Endlich brachte jemand den metallenen Koffer, dem er den Beatmungsbeutel und Maske entnahm. Intubieren konnte er nicht. Zufrieden beobachtete er, wie sich der Brustkorb hob und senkte. Noch bevor er den Defibrillator einsetzen konnte, traf der Notarzt mit den Rettungssanitätern ein. Eine Infusion wurde gelegt, diverse Medikamente in die Vene injiziert. Der Patient wurde auf die Trage gelegt und mit dieser zum Ausgang gerollt. 

„Stehen Sie momentan unter stärkerer Anspannung? Verstehen Sie mich? Eine Belastung? Streit in der Partnerschaft? Berufliche oder finanzielle Probleme?“ 
Wie durch einen Nebel, wie durch Watte hindurch vernahm Tim die Worte, ohne zuordnen zu können, wer sie zu ihm gesagt hatte. Er konnte noch nicht einmal einordnen, ob es die Stimme eines Mannes oder einer Frau war. Ja, er stand unter erheblicher Anspannung. Er war dabei, seine Existenz zu gefährden. Sich aufzugeben. Sich zu vernichten. Sein Herz schmerzte mit jedem Schlag, als zöge es sich über einem scharfen Messer zusammen. Kurz, bevor er das Bewusstsein verlor, wurde es still um ihn, die Wolke aus Stimmen, die ihn eingehüllt hatte, verzog sich, und er nahm einen ganz unwirklichen, unerklärlichen hellen Glanz wahr, den er sich nicht erklären konnte. Er lag doch auf dem Boden, vor dem Black-Jack-Tisch des Casinos. Und dennoch ...

Tim hätte, so sagte er später, schwören können, dass eine junge Frau sich neben ihn gekniet hatte, in einem grünen Kleid mit rotem Schal, oder Umhang. Sie hätte eine auffällige Halskette getragen, mit blauen, tropfenförmigen Anhängern. Ihr dunkelblondes Haar, in dem Blüten steckten, war an den Seiten gelockt. Und in der Hand hätte sie eine rote Rose gehalten ... Ganz wie die Herzdame im Kartenspiel. 

Er hatte ihre Hand ergriffen, und sich vom Boden erhoben. Ganz leicht war ihm zumute, erlöst von der Schwerkraft, von allem, was ihn zu Boden zog. Es gab nur noch sie und ihn. Er spürte dankbar die Berührung ihrer Hand, von federleichter Zartheit, und dabei so verlässlich, voll von Gewissheit und Kraft, nein, diese Hand würde ihn nicht loslassen. 

„Guten Morgen!“, lächelte die junge Frau ihn an, als es die Augen aufschlug. Sie hatte sein Handgelenk umfasst, um seine Herzfrequenz zu ertasten. Sie trug die auf der Intensivstation übliche Kleidung aus grünem Leinen, eine geblümte Haube zähmte die dunkelblonden, lockigen Haare. Um den Hals trug sie einen blauen Mundschutz, wie eine Kette. 

„Achtzig pro Minute, das wird ja immer besser!“, strahlte sie. Sie trug den Wert in den kleinen, rotummantelten Tablet-Computer ein. 
„Wo bin ich?“
Tim versuchte, sich zurechtzufinden. Was war bloß passiert?
„Auf der Intensivstation des Städtischen Krankenhauses. Sie hatten einen schweren Herzinfarkt.“
Keinen Pfifferling hatten die Ärzte für sein Leben gegeben, dachte sie. Aber er erholte sich zusehends. Ein hübscher Junge, eigentlich. 
„Und wie geht es mir?“

Sie lachte. 
„Sie werden es schaffen. Sie werden es bestimmt schaffen.“


So, dies wird die vor-vorletzte Herzgeschichte. Es sollen noch eine Romanze, und ein kleiner Krimi folgen. Dies hier ist eigentlich nicht wirklich eine Geschichte. Eher ein Tagebuch. Aber ... nur, wenn Ihr nichts Besseres vorhabt! 

Herzenswünsche - der Versuch eines Protokolls

Manchmal ereignen sich Dinge, von denen ich denke, Donnerwetter, das hat Ewigkeitswert. Schreib's auf, von Anfang an. Das erspart Dir hinterher stundenlanges Grübeln. Aber dann kommt es anders, als man denkt. Und da ich ja ohnehin über „Herzensangelegenheiten“ schreibe, Sie erinnern sich an meinen Freund Sven Krechting, dem es ( auf Holz klopf ) wunderbar geht, dachte ich, dass das passen könnte. 

Das Ganze begann vor ein paar Wochen. Ich bewegte mich so durch die Nachrichten des Tages - also: Ich scrollte mich durch den newsfeed auf meiner timeline, sagt man ja heute auf Neudeutsch - und entdeckte eine Einlassung von einer Freundin, die mich erschreckte. „Olgahospital Klinikum Stuttgart - zur Untersuchung mit ( nennen wir ihn mal Tobias ) Tobias!“ 

Ich habe zwar mit meiner medizinischen Vergangenheit abgeschlossen, aber bin immer noch so viel Arzt, dass bestimmte Aussagen mich mit Sorge erfüllen. Ich habe Tobias' Profil angesehen und nachgerechnet. 17? Olga ist die Neurologieabteilung in Stuttgart! Was, um Himmels Willen, ist da los?

Bitte nicht falsch verstehen. Ich bin nicht einfach nur neugierig. Also … ja, doch, ich bin auch neugierig. Aber ich fühle mich immer verantwortlich. Ich leide nicht an einem Helfersyndrom. Dazu bin ich zu faul. Aber wenn es um Freunde, Bekannte, Verwandte geht … 

Ich habe nachgefragt, und erfuhr so einiges, zusätzlich zu dem, was ich bereits wusste … alleinerziehende Mutter dreier Kinder, „Allein-“ wegen häuslicher Gewalt. Der Älteste bei ihr Lebende, tatsächlich 16, an Herzrhythmusstörungen, Fructose-Intoleranz und Erschöpfung und anderen Auffälligkeiten leidend. Viel Unterrichtsversäumnis. Dem Jungen wird Schwänzen unterstellt, er fliegt von der Schule. Kein Verhältnis zum Vater, der sich auch nicht nennenswert bemüht. Kaum Geld. Kürzlich habe er sie gefragt, woran man erkennt, dass man Depressionen hat. Und, dass er sich nicht leiden könne. Weswegen sie ihn in einer psychiatrischen Tagesklinik angemeldet hat. 

Kein Vater? Mutter und Vater getrennt? Herzrhythmusstörungen? Depressionen? Sich nicht mögen? Das Konzept kommt mir verdammt bekannt vor. Ich kenne es gut, weil ich es selbst durchlebt habe. Ob man dem Jungen irgendwie helfen kann? Immerhin: Alleinerziehend, drei kleine Kinder …

Wenn Du magst, und vor allem, wenn er mag, rede ich mal mit ihm, biete ich an. Ob sie ihm meine Nummer geben dürfe, fragt sie. Na klar. Anders geht's ja nicht. Und sie schickt mir schon mal seine. 

Manchmal entdeckt man die Unmöglichkeit einer Situation rechtzeitig. Zum Beispiel, wenn man ein wenig darüber nachdenkt. Wo führt das hin? Ein dicker, hässlicher alter Mann, ein netter, hübscher, etwas angeschlagener 16jähriger, mitten in der Pubertät … Ich meine, Vater - fein! Aber dazu müsste ich gut 20 Jahre jünger sein. Großvater? Grauenhaft! Furchtbar! Wer will denn sowas? 

Egal. Also. Da gibt es diesen Jungen. Und ich habe es leider schon oft erlebt, dass mir viel zu viel unangemessener Respekt entgegengebracht wird. Wird er sich trauen? Kann ich ihm vielleicht eine Tür öffnen? 

Ich beschließe, einen Türöffner zu schreiben.

Mensch Tobi, 

Bitte entschuldige, dass ich mich Dir so aufdränge. Das Gute ist ja, dass das nur auf dem Papier (?) geschieht, und Du kannst es einfach wegschmeißen. Aber ich hab gestern den Post von Deiner Mama entdeckt, und weil ich auf Facebook mit ihr befreundet bin, hab ich mir Sorgen gemacht. Das tun Freunde ja üblicherweise. Dann hab ich auf Dein Profil geschaut und festgestellt, dass Du maximal 17 sein kannst. Und da ich unter anderem auch Arzt bin, hat mich interessiert, was Dir fehlt. 

Mama und ich haben über Dich gesprochen. Und an zwei Stellen war ich voll be- und ge-troffen: Einmal Herzrhythmusstörungen ( die hab ich nämlich auch ), und dann das mit Deinem Vater ( meiner hat sich von meiner Mama scheiden lassen, als ich ein Jahr alt war. Kennengelernt hab ich ihn mit 23 ... ).

Wir haben also zwei wichtige Dinge gemeinsam. 

Ich kann für Dich kein „Freund“ im Sinne von „Kumpel“ sein. Leider. Ey, aus Deiner Perspektive bin ich uralt! „Vater“? Det möchtste wohl! „Großvater“, schon eher. Oder einfach jemand, der mit diesen Dingen, die Dich vermutlich traurig machen ( also, mich haben sie traurig gemacht ), schon eine ganze Zeit gelebt hat. Und nicht mehr traurig ist. Vielleicht kann ich ein wenig neben Dir hergehen, auf Deinem Weg. Und Du kannst mir ein Ohr abkauen, oder Löcher in den Bauch fragen. 

Aber nur, wenn Du magst. 

Den Zeitpunkt bestimmst Du. Mama hat meine Nummer, und weiß, wie man mich erreicht. Du störst nicht.

Liebe Grüße,

Peik

Das ist er, der Brief. Die Mail. Die WhatsApp. Und kaum hatte ich sie losgeschickt, ertönte dieser blöde Signalton, der mir sagt, da ist eine Nachricht für Dich angekommen. Ich erschrecke jedesmal, wenn der Ton erklingt, und nehme mir vor, ihn alsbald zu ändern. Und vergesse es dann.

„Du musst der Arzt sein, von dem meine Mutter geredet hat. Ich bin ihr Sohn Tobias. Hallöchen.“

Gibt es eigentlich eine Sammlung ‚erster Worte‘? Letzte Worte, von Bismarck, Hindenburg, Aristoteles sind überliefert, und wenn als Legende. Erste Worte? Also, eine Marktlücke. Mir ist da nichts bekannt. 

Den Brief, den ich ihm geschrieben habe, findet er ‚voll süß‘. Depressionen und Sich-selbst-nicht-mögen? Wo sollst Du es hernehmen, wenn eine wichtige Bezugs- und Identifikationsfigur, der eigene Vater, nämlich, sich verweigert? Inzwischen will Tobias auch nicht mehr. Darüber müssen wir noch reden. Ich finde es wichtig, seinen Vater zu kennen. Und sei es auch nur, um mit ihm abschließen zu können. 

Die Tagesklinik ist schön. Da wird man so akzeptiert, wie man ist. Das findet er ‚nice‘. 
Ich verstehe nicht. Welche Gründe gibt es denn, ihn nicht zu akzeptieren, so, wieder ist? Keine Markenklamotten. Na klar. Die Sneakers nicht von Nike, die Jeans nicht von Diesel, oder Jack Jones. Und eben das mit der Gesundheit. Dort aber interessiert keinen, was er trägt. Wie lernt man, sich selbst zu mögen, wenn einen kaum einer mag?

Das sind existenziell wichtige Fragen. Ich wünsche mir brennend, darauf eine Antwort zu finden. Theoretisch und praktisch. 

„Wenn Du Dir was wünschen könntest“, frage ich ihn, „was wäre das?“
Wie aus der Pistole geschossen kommt die Antwort.
„Einen Schrank voller Pullover!“

Er sei eben so eine Frostbeule, fügt er erklärend hinzu. Er fröre immer. Deswegen.
Welche Art Pullover? So mit Kapuze. Ja, ein Hoodie. Größe M. Ohne Aufdruck, nur schwarz. Schwarz steht ihm ‚brutal‘ gut, Du glaubst das nicht. Oder grau, oder von mir aus auch weiß. Hauptsache, kein Aufdruck.“

( Verwandte von mir sind gerade in Virginia, bei meiner Schwägerin, die in einem Laden für Bekleidung arbeitet. Ich verschicke eine WhatsApp, dass ich ein Hoodie für einen 16jährigen, Größe M, schwarz, ohne Aufdruck, brauche … )

Es geht ihm schlecht. Seine Mama hat eine Nachricht geschickt, dass er die ganze Nacht gekotzt hat. Genau wie seine kleinen Schwestern. Vermutlich ein Virus-Infekt. Ich bin für einen Arztbesuch. Er bekommt einen Notfall-Termin … und verpennt ihn. 
Ich bin unzufrieden. Ich erkläre ihm, dass vermutlich jemand anders weggeschickt wurde, weil er den Termin bekommen hat - und dann hält er ihn nicht ein. Ich bin überrascht, dass ich ihm das ganz ruhig erklären kann. Er scheint es zu begreifen. In der folgenden Nacht bekommt er sogar Fieber. Diesen Arztbesuch hält er ein. Na also. Bis Donnerstag krank, Freitag wieder in die Tagesklinik. 

Ich will in die Niederlande, ein wenig einkaufen, und habe in Dortmund ein Hotel gebucht.  Als ich ihm das erzähle, klingt er plötzlich seltsam, sehnsüchtig-enttäuscht. Er war noch nie im Ausland. Noch nie. Er wohnt dicht an der Schweiz und Frankreich, aber noch nicht mal das hat er geschafft. Ich beschließe, ihn bald einmal mitzunehmen. Irgendwann, wenn es passt. Ihm was zu zeigen. Ich wäre dann der erste, mit dem er Deutschland verlässt. Komisch, oder? 

Ach Peik, da hast Du Dich gerade übernommen, oder? Willst Du den Armen denn zu Tode langweilen? Was weißt Du denn von den Bedürfnissen eines so jungen Menschen? Willst Du ihn an die Hand nehmen, ihm vorschreiben, wie der Tag läuft? 

Moment mal: Der Junge ist 16. SECHZEHN! Was interessiert einen mit 16? Die Baudenkmäler der Industriekultur? Ein Konzert im Aalto-Theater, oder die aktuelle Ausstellung im Folkwang-Museum? Die Villa Hügel?

Ich ertappe mich dabei, wie ich ununterbrochen meinen Weg dahingehend abklopfe, ob Tobias daran Spaß hätte. Essen in der Coca Cola Oase im Centro in Oberhausen. Da gibt es auch so eine Spielstation in Form einer fliegenden Untertasse - er zockt gern, hat er gesagt. ( Seine Mama findet die Idee nicht so doll. Zocken täte er schon daheim ausgiebig! ) Kino in Essen. Das Cinemaxx, besonders das Kino 13, wird ihn beeindrucken, da bin ich sicher. 

Auf meine Frage, was er sich sonst noch vorstellen kann, meint er, dass er gern klettere. Das geht in Oberhausen, am Gasometer neben dem Centro. Und vielleicht noch Sea-Life? Haie und Seeschildkröten?  

Freitag ist irgendwas los in der Tagesklinik. Polizei, Blaulicht, sogar ein Hubschrauber. Seine Mama schickt ein Foto. Was, um Gottes Willen, ist das passiert? Er wundert sich. Hatte nichts mit ihm zu tun. Warum? 
Ich erkläre ihm, dass, wenn man jemanden lieb hat, man sich Sorgen um diesen jemand macht. Das sei nun mal so üblich. Er schreibt „Naarw - Du bist süß!“ 

Eines Tages werde ich herausfinden, was „naarw“ bedeutet. 

Ich fühle mich ... komisch. Irgendwie diffus unwohl. Er hat sich drei Tage nicht gemeldet. Erinnert er sich überhaupt …. Ach, Blödsinn. Alles meine Schuld. Ich habe diese ‚Beziehung‘, die ja auch noch gar nicht bestehen kann, vermutlich hoffnungslos überfrachtet. Zu hohe Erwartungen. Ich Blödmann. Ich bin zu überhastet. Einer meiner Charakterfehler seit immer schon. Geduld ist nicht wirklich meine Stärke. 

Er ist ein wahnsinnig lieber Junge. Ich höre gern seine Stimme auf den WhatsApp - Sprachnachrichten. Eine helle, feste, klare Diktion, ein schwäbischer Akzent. Aber ich bekomme ihn nur dann zu hören, wenn ich mich als Erster bei ihm melde. Er meldet sich nicht bei mir. Schade. Aber egal. Vielleicht kommt das noch. Er hat ja auch viel zu tun mit der Tagesklinik. Geduld, mein Herz, Geduld! 

Hey! Unvermittelt, heute Morgen: „Guten Morgen Peiki!“, und ein Bussi-Emoji dahinter. Mir geht es gut, ab da. Ihm auch. 

Der Hoodie ist angekommen. Schon die Vorankündigung hat bei Tobias' Mama zu einem Zwischending zwischen Panik, Ungläubigkeit und Abwehr geführt. Das wäre doch nicht nötig gewesen! Nein, natürlich nicht. Aber ich wollte ihm etwas Schönes schenken. Eine Freude machen. Ich wollte, dass er ein Designer-Marken-Label-Dingens besitzt. Das Teil ist von Nike. Anthrazit, ohne Aufdruck. Wenn er mein Sohn wäre, bekäme er unablässig irgendeine kleine Überraschung. Verwöhnen würde ich ihn. 

Ich sei so toll, behauptet Tobias. Er muss es ja wissen. Er schickt mir ein Foto, den Hoodie tragend. Das Ding passt. Das war meine größte Sorge. Man stelle sich vor: Du bekommst etwas, und dann sitzt es nicht. Wie blöd! Da ist die Enttäuschung hinterher groß, und tötet die Erinnerung an die Vorfreude. Er freut sich wirklich. Auf den Sprachnachrichten kiekst seine Stimme ein winziges bisschen. Und er ringt nach Worten. Sehr süß. 

Ich habe ihm mein Buch dazugelegt. Er schreibt: „Ich schwör, ich les alle 372 Seiten durch!“ Manches verstünde er nicht, meint er. Frag mich einfach, halte ich dagegen. Am anderen Ende Deines Smartphones sitzt der, der es geschrieben hat! 

Ich muss mit seiner Mama, nennen wir sie mal Dorothee, über seine Zukunft reden. Ich habe keine Vorstellung davon, wieviel Probleme es geben wird, wegen der Schule, die er ja nur unregelmäßig besucht hat. Ich habe darüber auch noch nicht mit ihm gesprochen. Nur über seine Vorstellung von seiner Zukunft. „Frau, und Kinder.“, hat er gesagt. Das ist ja ehrenwert. Aber das reicht eben nicht. Ich möchte für ihn „etwas Besseres“. Studium? Fachhochschule? Handwerk? Wo wird es ihn hinziehen? Was ich verhindern möchte, ist, dass er, weil es an den finanziellen Mitteln scheitert, einen Beruf ergreift, der gerade verfügbar ist, der erste Beste, sozusagen. Nur irgendwie schnell Geld verdienen. Aber was wird er selber wollen? Für viele erscheint es ja verlockend. Selbstständig, Kohle im Portemonnaie, Mama nicht mehr auf der Tasche liegen. Aber da bleibt man dann die nächsten 50 Jahre. Man steckt fest. Kaum Chancen auf Aufstieg. Und die Leute, mit denen man sein Leben verbringt? 

Meine Mutter hat zu mir immer gesagt, pass auf, dass, wenn Du mit Menschen in einem Raum stehst, Du der Dümmste bist. Dann können die anderen Dich auf ihr Niveau erheben. Aber wenn es umgekehrt käme, für Tobias? 

Das kommt ja überhaupt nicht infrage. Irgendwie muss es mir gelingen, in ihm Wissensdurst und Tatendrang zu wecken. Wie bekomme ich jemanden, der rund um die Uhr am PC spielt, dazu, ein Buch in die Hand zu nehmen? Hoffentlich gefällt ihm meins. Er sei schon auf Seite 24, hat er mir gesagt. Und dann hat er es blöderweise in der Tagesklinik vergessen, über’s Wochenende. Naja, Montag bekommt er es wieder.

Nicht, dass ich besonders wertvolle Literatur produziere. Aber es ist ein Anfang, oder? Vielleicht finde ich etwas Packendes, Spannendes, Wertvolles. Krüss. Kästner. Kurzgeschichten. Meine persönliche Bibel, „Der kleine Prinz“. 

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Eine ganze Zeit ist inzwischen vergangen. Kaum erinnere ich mich selbst, warum ich den Kram hier aufschreibe. Da war es Mitte September. Tobias schrieb, das er mir eine Tasse machen wollte, und wir hatten uns auf Grün geeinigt. 

Ja, und dann war es plötzlich der 7. Oktober. Höfliche Erkundigung, wie es mir den ginge. Es war sofort klar, dass das nur eine Art Einleitung war. Das eigentliche Anliegen ließ nicht lange auf sich warten. Sein Mobiltelefon ist kaputt, „Display total im Arsch“,und er braucht ein Neues. 

Ob meine Reaktion ein Fehler war, kann ich nicht sagen. Ich überweise auf das Konto seiner Mutter Dorothee mit dem Hinweis auf seinen Geburtstag am 5.11. € 150.-. Dafür gäbe es, so bin ich informiert, schon sehr gute, gebrauchte Smartphones. Umrahmt von sehr viel „Ach neee, lass mal“ und „Aber das wäre doch nicht nötig gewesen“ kommt der Dank von Mutter und Sohn, nicht ganz so enthusiastisch, wie bei dem Hoodie, aber wozu auch. Gern geschehen. 

Am 1.11. meldete sich dann Dorothee. Sie traue sich gar nicht, zu fragen. Fragte dann aber doch. Eine offene Rechnung, nur € 111.63. 

Ich hatte mal angefangen, dies hier zu schreiben, weil ich eine emotionale Erfolgsgeschichte witterte. Diese Fantasien verdanke ich meiner endlosen Harmoniesucht und meinem harmoniebedürftigen Kindergehirn. Wie hätte es laufen sollen? Sohn einer Freundin, vaterlos. Verloren. Psychische Ausfälle. Ich spiele den Ersatz(Groß)vater. Kümmere mich. Sicher auch mal mit dem einen oder anderen Geschenk. Ich stelle mir vor, ihn auf Reisen mitzunehmen, ihm zu zeigen, was ich mag, und wo ich mich gern aufhalte. Kind blüht auf, glänzt in der Schule, studiert, und entdeckt außerirdisches Leben auf anderen Planeten. Oder eine verschollene Komposition von Ludwig van Beethoven. Oder Atlantis.

Was ist daraus geworden? Was ist aus mir geworden? Und wo, bitte, ist meine grüne Tasse? 

Ich bin eben dämlich. Liebenswert, freundlich - aber dämlich. Ich habe einen falschen Eindruck vermittelt. Den Eindruck des reichen Onkels aus Amerika, der, wenn es mal eng wird, die Geldklammer mit den Dollarscheinen hervorzieht und einen Stapel davon herüberwachsen lässt. Wenn man ihn nicht braucht, ist er aus dem Sinn. Erst, wenn es irgendwo hakt, fällt er einem ein. Wie wäre es, wenn wir uns mal an den netten älteren Herrn wenden ...

„Warum versprachst Du mir den schönsten Tag, und hast mich ohne Mantel ziehen lassen?“ Ach, William, halt einfach mal Dein Maul. Mein Gott, der Junge ist noch ein Kind! Ein gewisses Maß an Selbstsucht ist für ihn überlebensnotwendig! Und die Mutter in einer permanenten Zwangslage! Sie verhält sich einfach nur folgerichtig. Nein, schlechte Gefühle habe ich nicht. 

Leider habe ich gar keine Gefühle. Völlig leer. Das habe ich heute gemerkt, am Geburtstag des Jungen. Ich habe eine Stunde lang eine weiße Seite angesehen, auf die ich einen lustigen, warmherzigen, intelligenten Geburtstagsgruß schreiben wollte. Was kam dabei heraus? „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Tobias.“ 
Der perfekte Text, oder?
Seine Antwort: „Dankeschön, Peik. Tut mir leid, dass wir so lange nicht schreiben konnten.“

Ja, mir auch. Ich hätte auf diesen Satz gern etwas erwidert. Aber meine Gemütslage verbietet es mir. Weder das schlicht-bissige „Und mir erstmal!“ wäre passend gewesen, noch das ironische „Mir nicht. So kostet es mich nicht so viel.“ Und schon gar nicht das zynische „Wieso? Wenn Du alles hast und gerade nichts brauchst - wozu dann schreiben?“ 

Andere Variationen über eine Antwort habe ich in mir nicht entdecken können. Leider. Wie gern hätte ich ein „Aber das macht doch nichts, Großer. Alles in Ordnung. Ich freue mich, wenn es Dir gut geht. Ich habe keinen Anspruch darauf, eine Rolle in Deinem Leben zu spielen, auch wenn ich noch so sehr versuche, mich einzukaufen. Außerdem kann - und, unter uns gesagt, WILL - ich mir das so nicht leisten. Ich freue mich, wenn Du Dich über die zwei kleinen Geschenke gefreut hast. 
Ein Drittes wird es nicht geben. 
Und weißt Du, warum? Weil ich Dich nicht kaufen werde. Das ist unwürdig. So wohlfeil mache ich mich nicht. Und so billig bist Du hoffentlich auch nicht zu haben. Aber, solltest Du mich je brauchen, zu etwas anderem, als Rechnungen zu bezahlen oder Geschenke zu machen, werde ich für Dich da sein.“

Ja, das hätte ich gern so geschrieben. Was sagen Sie da, höhnisch lachend? Was ich erwartet hätte? Liebe? Ich sei zu leberwurstig beleidigt, finden Sie? Gekränkt? Eingeschnappt? Jetzt hören Sie schon mit Ihrem Gelächter auf! 

Ja, das stimmt wohl. Dabei nehme ich es dem Jungen gar nicht übel. Er ist und bleibt ein lieber Junge. Nein. Ich bin ärgerlich über mich selbst. Was hatte ich mir denn vorgestellt? Ich öffne Herz und Portemonnaie, und umgehend stellen sich Sympathie, Vertrauen, Liebe ein? Etwas, was sich über Jahre hin entwickelt, etwas, was Zeit und ganz viel Arbeit braucht, entsteht nach Überweisung eines Geldbetrages auf ein Konto sozusagen wie von Zauberhand? Ich hatte mir gewünscht, Begleiter zu sein, Vertrauter, Ansprechpartner. Als solcher allerdings wurde ich nicht gebraucht. Immerhin, ich habe es rechtzeitig erkannt.

Dieser Text geht hier zu Ende. Er sollte lang werden, eine Novelle, ein kleiner Roman. Und jetzt sind nur 3000 Wörter zustande gekommen. Trotzdem spannend, oder? Und vielleicht auch lehrreich. Sogar für mich selbst. Und endlich mal, für mich ganz untypisch, kein Happyend. 
Denn:
Niemand schuldet mir etwas. 
Niemand hat mir den schönsten Tag versprochen. 
Nur eine grüne Tasse.


Hier ist die romantische Herzgeschichte. Die Letzte in diesem kleinen Reigen. Sven selbst braucht sie nicht mehr. Es geht ihm gut. Aber vielleicht nützt sie irgendjemandem, der, wie er bis zum 3.10., verzweifelt auf ein Spenderorgan wartet. Ich wünsche ein wenig Lesevergnügen bei

Herz aus Gold

Es hatte bestimmt am Verschluss gelegen. Die winzige Feder, die die kleine Schließe der feinen, goldenen Kette versperrte, war ausgeleiert, dem Alter des Schmuckstücks geschuldet. Die Kette hatte einem filigranen, herzförmigen Medaillon aus Gold als Sicherung gedient. Es war fein gearbeitet, mit floralen Jugendstil-Ornamenten versehen. Für die roten Blüten hatte der Goldschmied Rubine eingelassen.

Das Medaillon war verschwunden. Bente hatte es erst bemerkt, als das Kettchen sich beim Vorbeugen elegant von ihrem Hals schlängelte und mit leisem Rasseln zu Boden glitt. Aufgeregt tastete sie sich ab. Mit etwas Glück befand es sich noch irgendwo in ihrer Kleidung - nein, alles umsonst. Es blieb verschwunden. 

Gut, dass Oma Aaltje das nicht mehr miterleben musste. Sie hatte ihr das Erbstück, das ein Bild der Urgroßeltern umhüllte, anvertraut, und sie hatte es nur zu bestimmten Gelegenheiten, wie jetzt zum 50. Geburtstag ihres Vaters, angelegt. 

Aufgeregt lief sie den Weg, den sie von Zuhause bis zum Restaurant genommen hatte, zurück, den Blick fest auf den Boden gerichtet. Aber alles, was sie entdeckte, war ein Cent-Stück, das ihr kupfern-blank im Sonnenlicht zuzwinkerte. 

Ihre Großmutter hatte das Herz aus Gold selten abgelegt, als ob diesem ein besonderer Zauber innewohnte, wie bei einem Amulett, einem Talisman. Und immer, wenn sie es getragen hatte, hatte sie sich mit der alten Dame verbunden gefühlt. Wie hatte Oma Aaltje gesagt? 

„Dies Herz bedeutet die Liebe unserer Familie. Gib gut darauf acht.“

Sie hatte nicht gut darauf aufgepasst. Großmutter wäre enttäuscht gewesen. Sie hätte es sich nicht anmerken lassen. Sie hätte gelächelt, und sie gütig durch ihre funkelnden Brillengläser angesehen. Die besondere Verbindung zwischen ihr und ihrer Enkelin hatte Bente bis in den Traum verfolgt. „Das Herz unserer Familie. Sorge Dich nicht. Liebe geht nicht verloren.“

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Einmal mehr zweifelte Claas, ob das Medizinstudium für ihn das Richtige war. Schauspieler hätte er werden wollen. Aber seine Mutter hatte ihm mit sanfter Gewalt die akademische Laufbahn nahegelegt. Für brotlose Künste könne er von ihr nicht mir Unterstützung rechnen. Das wäre ja wohl noch schöner. Außerdem, Medizin sei ein krisenfester Beruf, krank würden die Leute immer. 

Und so quälte er sich denn durch die Basisfächer, die ihn weder interessierten noch seiner Begabung entsprachen. Er konnte gut mit Menschen. Aber physikalische oder chemische Gesetzmäßigkeiten ließen ihn kalt. 

Apropos kalt: Es war, nach Sonnenuntergang, sehr kühl geworden. Er hatte seine kleine Wohnung bei schönstem Sonnenschein verlassen, ohne Jacke, jetzt fror er. Er hatte seine Arbeitsgruppe hinter sich gebracht. Alle waren so klug, beherrschten sämtliche Rechenarten und Formeln, er konnte nur deprimiert zuhören. Der einzige Dumme unter lauter Begabten. Zudem ließ ihn sein Kontostand nicht ruhen. Die Bank hatte angerufen und ihn auf den überzogenen Betrag hingewiesen, den er zügig auszugleichen hätte. 

Sehr viel Geld war für die Anschaffung der anatomischen Atlanten draufgegangen. Was sollte er machen? Seine Eltern taten ihr Bestes, er selbst hatte einen Job in der Gastronomie, im laufenden Monat allerdings nicht viel verdient. Wie er das Geld für die Bank aufbringen sollte, war ihm völlig schleierhaft. 

Mit hängendem Kopf und Schultern ließ er sich auf eine Bank fallen, die bedrohlich unter seinem Gewicht ächzte. Nachdenklich musterte er seine Umgebung. Was die Leute so alles achtlos auf die Straße warfen! Papiertaschentücher, leere Zigarettenschachteln. Im Licht der Straßenlaterne blitzte etwas auf dem Pflaster. Vermutlich ein Kronkorken. Oder ein Stück Folie. Er erhob sich, und stieß mit der Schuhspitze gegen das goldglänzende Ding. Das war keine Folie! Das war ein Anhänger! Ein goldenes Herz! Ob das was wert war? 

„Und ob das was wert ist“, stellte Derik, der Pfandleiher, fest. Er hatte den Säuretest durchgeführt und inspizierte das Schmuckstück durch seine Lupe. „999er Gold. Etwas über 20 g. Sehr schön gearbeitet. Ende 19. Jahrhundert.“ 
„Wieviel würden Sie mir geben?“
Derik tippte auf seinem Taschenrechner den aktuellen Goldpreis ein. 
„Inklusive der kleinen Rubine - 850 Euro!“

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Sie war die tollste Frau, der Eddo je begegnet war. Ihm war die Luft weggeblieben, als sie auf der Abschiedsparty seines Kollegen den Raum betrat. Wunderschön, kupferrotes Haar, ein enges, langes Kleid aus grüner Seide. Ein hinreißender Duft umgab sie. Ihre Art, sich zu bewegen, jemanden zu begrüßen, das Champagnerglas zu halten - atemberaubend. Und das Überraschende: Sie nahm ihn wahr. Sie sprach mit ihm. Sie lachte über seine Scherze. Und, er konnte sein Glück nicht fassen, sie hatte eingewilligt, sich am folgenden Wochende zum Essen ausführen zu lassen. 

Sie hatten geheiratet, eineinhalb Jahre später. Und nach vierjähriger Ehe hatte Eddo sie betrogen, auf einer Geschäftsreise. Die Frau hatte nichts bedeutet. Eine Barbekanntschaft. Leidlich attraktiv. Nichts Besonderes. Aber es war eben passiert. Und Femke hatte es herausgefunden. Ein Zettel mit einer Telefonnummer in seiner Jacketttasche. Sie hatte dort angerufen.

Ob sie ihm je würde verzeihen können? Ein Geschenk musste her. Ein außergewöhnliches Geschenk. Etwas, das ihr sagen würde, ich bereue. Ich kann nichts Ungeschehen machen, aber Du bist mir das Wichtigste im Leben.

‚Heute Auktion!‘, war im Fenster des Antiquitätenhändlers zu lesen. Die Auktion war bereits in vollem Gange. Auf einem roten Samtkissen hing ein goldenes, herzförmiges Medaillon an einer feinen Kette. Die Gebote lagen bereits bei 1150 Euro. 

„Höre ich 1200? Immerhin, meine Damen und Herren, 999 Gold! Das ist ein Reinheitsgrad, den sie heute nirgendwo mehr finden. Was ist? 1200?“ 
Ein Herr in der zweiten Reihe hob die Hand.
„1200, mein Herr, vielen Dank! Höre ich 1250? Sehen Sie die wundervolle Goldschmiedearbeit? Die Edelsteine?“

„1250!“
Eddo war von seinem Sitz aufgesprungen. 
„1250, mein Herr, herzlichen Dank! Höre ich 1300?“

Gemurmel im Saal.
„1250, zum Ersten, zum Zweiten -“
„1300!“
Eine Dame, die ihr Gesicht hinter einer Sonnenbrille verborgen hatte, stellte sich als Konkurrentin heraus.
„1400!“
Eddo klang entschlossen. Er würde sich das Medaillon nicht nehmen lassen. 

„1400, merci, Monsieur! Höre ich 1500? 1500? Nein? Dann also: Verkauft für 1400 Euro an den Herrn im dunkelblauen Mantel. Ich beglückwünsche Sie zu Ihrem neuen Herzen aus reinem Gold!“

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Diese Idioten, dachte Geerd. Aber gut, dass es so viel Leichtsinn gab, das machte seine Arbeit unkompliziert. Er schlüpfte durch das offene Kellerfenster und stieg die Treppe hinauf. Alles dunkel. Die Vögel schienen ausgeflogen zu sein. Er hielt sich nicht lange auf. Im Wäscheschrank wurde er fündig. Zwischen den Laken ein braunes Kuvert mit einigen 500-Euro-Scheinen. Hinter den Handtüchern ein Kasten aus dunklem, lackierten Holz, in dem sich einiges an Schmuck befand. Er grinste breit. Natürlich, Wäscheschrank. Immer der Wäscheschrank! 

Die Beute reichte. Schnell raus hier. Den Umschlag mit dem Geld steckte er in seine Tasche. Den Kasten würde er Hindrick bringen. Der Hehler konnte die Sore verticken, und er bekam die Kohle bar auf die Kralle. 

„Immer dieser Kleinkram“, murrte Hindrick. Geerd ließ sich davon nicht beeindrucken. Er kannte die Taktik der Hehler, den Wert der Beute herunterzureden, um nicht so viel berappen zu müssen. „Das kannst Du wenigstens gut verkaufen!“ 
Hindrick lachte höhnisch auf. 
„Verkaufen? Modeschmuck? Halbedelsteine? Für'n Arsch, Meister! Dafür kriegst Du auf‘m Flohmarkt 'n paar Kröten, maximal. Hier! Guck Dir den Scheiß an! Das sollen Perlen sein?“

Mit einer Gabel zerdrückte er mühelos einige Perlen der Kette. 
Geerd protestierte.
„Und das andere Zeugs? Komm! Das muss doch was wert sein!“
„Ich schlag Dir was vor, wegen unserer Freundschaft. Ich nehm das als Kommissionsware. Ein ... “ - er räusperte sich - „... Mitarbeiter meiner Firma nimmt das Zeug am Wochenende mit zum Flohmarkt. Halbe-Halbe. Einverstanden?“

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Der Parkplatz des örtlichen Supermarktes war belebt und bunt wie nie. Kleine Zelte, Kisten aus Pappe, Holz und Plastik, Kleiderständer überall. Und, unvermeidlich, Tapeziertische, auf denen die Verkäufer Gegenstände ausgelegt hatten, die sie nicht länger benötigten, oder die, wie es auf einem Schild stand, „umständehalber“ preiswert abzugeben waren. 

Bente schlenderte ziellos über den Platz. Sie benötigte ein Geschenk für eine Freundin, die gerade von Zuhause ausgezogen war. Vielleicht Gläser? Ein Besteck? Geschirr? 
Auf einem der Tische stand ein asiatisch anmutender dunkler Holzkasten mit farbig schimmernden Perlmutt-Einlagen. 
„Na, junge Frau? Interesse?“ 
Bente sah in Ivars Gesicht. Unsympathisch. Unruhiger Blick, der dem Ihren immer wieder auswich. Ungepflegte Haut, fettige, wirre Haare.
„Was soll das gute Stück denn kosten?“, erkundigte sich die junge Frau möglichst gelangweilt, um nicht durch zu intensives Interesse den Preis unnötig in die Höhe zu treiben. 
„Mit Inhalt, oder ohne?“
Ivar öffnete die Schatulle, die, wie sich jetzt herausstellte, mit rotem Samt ausgekleidet war. 
„Nein, an dem Schmuck habe ich kein Interesse. Was kostet der Kasten leer?“ 
Der Verkäufer musterte Bente neugierig. „50 Euro?“

Bente sah ihn eine Sekunde lang an, lachte, schüttelte den Kopf. „So viel hab ich gar nicht mehr. Wie wäre es mit 25 Euro?“
Sie handelten und feilschten verbissen, bis sie sich auf einen Verkaufspreis von 32 Euro geeinigt hatten. 

Der Kasten war wirklich schön. Der Lack mit den Intarsien war an einigen Stellen etwas glanzlos und musste noch etwas poliert, der rote Samt von Staub und Krümeln befreit werden, dann war er so gut wie neu. Fast zu schade zum Verschenken. Vielleicht sollte sie ihn behalten, und für Jantje eine hübsche Zimmerpflanze - immerhin, so nahe standen sie sich nun auch wieder nicht. 

Der Verschluss klapperte, das merkte sie beim Gehen. Vorsichtig schüttelte Sie den Behälter. Nein. Vom Schloss stammte das Geräusch nicht, eher vom Boden. Auch durch einen Blick in das Innere erschloss sich das Geheimnis nicht. 
Sie begann, das hölzerne Behältnis zu polieren. Da, an der Seite, gab es eine winzige Schnitzerei, die reichlich abgegriffen aussah. Als sie mit dem weichen Tuch die Politur auftragen wollte, rastete klickend ein Mechanismus ein, der das Hervorschnellen einer Art Schublade zur Folge hatte. Bente traute ihren Augen nicht. Da lag das Medaillon. Irgendjemand hatte ihm offenbar eine neue Kette spendiert. Es war gereinigt worden, und unbeschädigt. Sogar die vergilbten Fotografien der Urgroßeltern hatte, wer auch immer, sorgfältig an ihren Platz gesteckt. 

Das Herz der Familie, die Liebe der Familie. 
Oma Aaltje hatte recht behalten. 
Die Liebe war nicht verloren gegangen. 
Liebe geht nie verloren.