Keine Beileidsbekundung

Über Oma hab ich früher immer gelacht. Wenn die Cuxhavener Zeitung gebracht wurde, stürzte sie sich darauf. Allerdings nicht auf den politischen, oder den Wirtschaftsteil. Auch nicht auf das Feuilleton. Nein, den Anzeigen mit dem schwarzen Rand galt ihr Hauptinteresse. 

Ich wusste damals noch nicht, dass das ein sicheres Zeichen für das Altern ist. Man will wissen, wie nahe die Einschläge einem kommen. Ach, guck mal, der war nur 5 Jahre älter als ich. Und die hier sogar 7 Jahre jünger - als könne man aus diesen Daten seine eigene Lebensdauer statistisch mitteln, und sich befriedigt zurücklehnen, oder auch unruhig auf seinem Sessel hin- und herrutschen.

Im Hotelfoyer liegt eine Ausgabe der WAZ. Der Lokalteil gleitet herunter, und mein Blick fällt auf die Todesanzeigen. Die meisten Damen und Herren haben sich in einem annehmbaren Alter verabschiedet. Aber was ist hier, mit diesem Jungen, von dem sogar ein kleines Foto gezeigt wird? Stefan ... geboren im Oktober 1996. 1996? Dann war er ja bloß 20! 

Das Foto zeigt einen lächelnden, freundlichen Jungen mit rötlichen, modern gestylten Haaren, ein Selfie, offenbar, mit einer Bergkulisse im Hintergrund. Bayern, vermutlich, oder Österreich. Ein Selfie, das unmittelbar nach seinem Entstehen an die Eltern, Geschwister, Freunde gepostet wurde. Facebook, WhatsApp, Instagramm, Twitter. Hey, schaut mal, ich bin hier im Urlaub, mir geht es gut. 

Ging es ihm gut? 

Ich durchforste den Text der Anzeige. Liebevoll nüchtern. Keine „kurze schwere Krankheit“, kein „tragischer Unfall“. Der Text könnte in seiner fast wortkargen, erschrockenen Schlichtheit dafür sprechen, dass der nette Junge auf dem Foto die Last seines Lebens nicht weitertragen konnte, nicht mehr aushalten wollte. 

Ich bin seltsam berührt von dieser Anzeige. Egal, was auch immer der Grund war: Hätte man sich nicht zwischen ihn und sein Schicksal werfen können, irgendwie? Oder ist, wie manche behaupten, alles genau richtig, wie es kommt? Hatte er genug gelebt? War es seine Bestimmung? Welcher Katastrophe ist er aus dem Weg gegangen? Was hat er verpasst? Welcher Traum wurde nicht erfüllt? Musste das sein?

In meinem Lateinbuch stand der Satz, „Wen die Götter lieben, den lassen sie jung sterben“. Damals hat mir dieser Satz Angst gemacht. Heute, rund 45 Jahre später, habe ich ihn verstanden. Aber mit 20? Da hat man doch noch gar nicht gelebt, oder? 

Stefan, ich würde gern mit Dir reden, Dich verstehen. Dich durch Deine Krankheit begleiten. Dich vor Unfällen beschützen. Dir einen Weg aufzeigen, den Du beschreiten kannst, um dem Geschenk Deines Lebens doch noch etwas Schönes abzuringen - wenn Du das zulassen könntest. Du hast keine Ahnung, wie traurig, und wie hilflos ich mich fühle, weil das nicht mehr möglich ist.

Morgen nehmen Verwandte, Freunde und Bekannte in Bochum Abschied von Dir. Morgen um 14 Uhr. Ich werde in Gedanken bei Dir sein. 





Eine Handvoll Leben

RUMMSSS! Ein dumpfer Ton schreckt mich aus meinen Träumen. Irgendjemand hat an die Scheibe der Balkontür geklopft - glaube ich zumindest. Aber wie ist der in den ersten Stock gelangt? Draußen: Morgengrauen. Regen. Kalt. Häßlich. Na gut. 

Ich schäle mich aus dem warmen Bett und tapse ins Wohnzimmer. An der Scheibe, die ich noch am Wochenende geputzt habe ( ja, Oma, Spiritus und Zeitungspapier, ich weiß ) ein eigenartiger Abdruck. Und auf dem Balkon ein winziger Vogel, total zerfleddert, ein Flügel klebt an den nassen Fliesen. Augen geschlossen. Er bewegt sich nicht, auch nicht, als ich ihn vorsichtig aufhebe. Eine Handvoll nasser Vogel. Ich spüre das kleine Herz wie rasend pochen. Leben. Das ist Leben!  

Ich lege ihn auf meinem mit T-Shirt bedeckten Bauch ab und betaste vorsichtig die Flügel. Nichts gebrochen, Gottseidank! Ich hatte schon überlegt, wie man bei dem kleinen Kerl eine Drahtschiene anlegt ... ihn in der rechten Hand wärmend, ordne ich vorsichtig mit der Zeigefingerspitze der linken Hand sein Gefieder. Die Augen sind jetzt geöffnet. Kleine, schwarze Augen, die mir einen Vorwurf nicht ersparen. „Schau mich bloß nicht so an“, rechtfertige ich mich. „Die Scheibe ist markiert! DU hast nicht aufgepasst!“     

Aus meinen Socken bastele ich ein Nest, in das ich ihn behutsam setze. Er schließt die Augen erneut. Na gut. Lassen wir ihn sich ausruhen. Zeit zum Frühstück. Noch während ich den Tisch decke, fällt mir auf, wie unsensibel ich bin, und räume schnell, bevor er es entdeckt, das weich gekochte Ei vom Tisch.  

Plötzlich wird er munter. Flattert vorsichtig. Dreht eine Runde durchs Zimmer, und läßt sich auf einer Schrankecke nieder. „Hör mal“, mahne ich ihn. „Du hast bestimmt eine Gehirnerschütterung! Ich verordne Dir noch 2-3 Tage Sockennestruhe!“  

Das scheint ihn zu beeindrucken. Er läßt sich greifen, vertrauensvoll, vielleicht. Nach einer Weile aber erhebt er sich wieder. Ich greife ihn erneut. Na gut. Es ist ihm nicht übel, er sieht keine Doppelbilder, die Kopfschmerzen halten sich in Grenzen. Ich trete mit ihm in der Hand auf den Balkon hinaus. Sein Ziel ist die Rotbuche gegenüber. Ich sehe ihm hinterher. Es wird langsam heller, aber regnet noch immer. Ich bleibe noch eine Weile stehen, als Angebot, gewissermaßen. Aber er kehrt nicht zurück.  

In mir bleibt das Gefühl von Erleichterung. Und zufriedene Freude. Wir waren uns einen Moment nahe, und sind uns doch fremd geblieben.  

Später entdecke ich auf meinem T-Shirt einen winzigen, nicht einmal linsengroßen Vogelschiss. Doch nicht so fremd, oder? 


Gedanken - Stau


Es ist ja nicht so, dass ich in meinem Leben nicht schon Bekanntschaft mit fragwürdigen Damen geschlossen hätte. Damit hat man sich abzufinden. Aber heute? Ich meine, ich bilde mir ein, ein verträglicher Mensch zu sein. Mit mir kann man reden. In Zimmerlautstärke. Ruhig, höflich, freundlich. 


Na gut, denke ich. Dann fahren wir mal los. Es irritiert mich etwas, dass meine Begleiterin von den Schildern, die mich darauf hinweisen, dass die A 40 um Duisburg-Rheinhausen herum wegen Brückenschäden gesperrt ist, keinerlei Notiz zu nehmen scheint. Im Gegenteil. Mit ihrem aufdringlichen, näselnden Tonfall kommandiert sie mich, geradeaus zu fahren, auch wenn etliche Schilder den Wechsel auf die A 42 Richtung Kamp-Lintfort vorschlagen. 


Vollends verscherzt sie sich meine Rest-Sympathien, als sie meint, dass ich auf einen Stau zufahre. Die kleine Schelmin. Da stehen wir nämlich schon drin! Und auf ihre reichlich überflüssige Bemerkung habe ich nur ein unfreundliches „Hätten Sie das nicht eher sagen können?“ parat. Auch ihren Vorschlag, ich solle an der nächsten Ausfahrt die A 40 verlassen, quittiere ich mit höhnischem Gelächter. Jetzt! Jetzt kommt sie mir damit! Zu spät, meine Dame, zu spät! Was kommt als nächstes? Wird sie den Rückspiegel benutzen, um den Lippenstift zu korrigieren? 


Wirklich! Frauen und Autofahren, ich sag’s ja immer! Ich weiß wohl, dass ich mich damit nicht allzu beliebt mache, aber das ist jetzt doch wirklich das Letzte! Ein Stau, und es geht nicht weiter, keinen Zentimeter! 

Lassen Sie mich bitte noch anfügen: Diese Zimtzicke ist die unfreundlichste Person, die ich je ertragen habe. Gewohnt bin ich eine eher einschmeichelnde Stimme. Passend zum Daimler. Früher war sie eher bukolisch, ländlich, einfach. Opel, eben. Aber die hat ja jetzt einen französischen Akzent. Provence, glaube ich. Mein Leihwagen ist ein Golf. Eine herrische, dominante Sprache. „Knie nieder und sage, ich war ein sehr, sehr ungezogener Junge!“, äußert die Gestrenge. Peitschenknall. Sie versteht keinen Spaß. In der Luft vibriert das Aroma von Lack und Leder. Und Neuwagengeruch-Spray. 

 „An der nächsten Ausfahrt rechts halten, und gleich rechts abbiegen! Hier rechts! RECHTS!“ 


Ja doch! Ich habe es gleich beim ersten Mal verstanden. Unnötig, das noch zwei Mal zu wiederholen, und mir damit Teile der Nachrichtensendung zuzuquatschen!


Ob sie wohl in einer Partnerschaft lebt? Ich stelle mir vor, wie sie sich, voll sinnlicher Begierde, hingibt, das blonde, volle Haar offen, die Brüste beben, eine samtige Haut, wie Milch und Honig, duftend nach orientalischen Essenzen! Sie räkelt sich lasziv, scheinbar willenlos auf dem Laken. Sie erzittert unter liebkosenden Händen, stöhnt sinnlich, bäumt sich lustvoll auf - und man hört „rechts abbiegen! Hier rechts! RECHTS, hab ich gesagt, verdammt noch mal!“


Gibt es Navis mit Männerstimmen? Sowas will ich. Eine Stimme, die einem auf die Schulter klopft,  der man anmerkt, dass sie auf Deiner Seite steht, im Zweifelsfall, ohne das ganze Gedöns mit Stöhnen und Aufbäumen, oder Liebkosen. Eine Stimme, die verständnisvoll sagt, ey Kumpel, mach Dein Ding. Mit der man nach der Tour noch was Trinken geht, friedlich abhängt und viel zu spät, übelriechend nach Bier und Fluppen, nach Hause kommt.


Na endlich. Die Wagen vor mir setzen sich langsam in Bewegung. Die Bremslichter erlöschen. Es geht weiter. Wie war das? An der nächsten Ausfahrt rechts halten ….




Edeka 

Erstaunlich, wie teuer alles geworden ist. Wir lieben Lebensmittel, lautet der Slogan dieser Kette. Im Fernsehen sieht man immer diese netten, coolen Mitarbeiter, die Kochrezepte parat haben, fröhlich mit der Kundschaft scherzen, und die Herkunft der ausgelegten Avocado vom Kern bis in den Markt hinein rezitieren können, wie Schulkinder den Satz des Pythagoras oder die Mendelschen Gesetze. 

So. An welcher Kasse ist die Schlange am kürzesten? Welcher Kunde hat am wenigsten im Einkaufswagen? Und vor allem: An welcher Kasse wartet eine halbwegs freundliche Kassiererin? 

Die Fachkräfte fürs Abkassieren verwandeln den Kassenbereich in eine Art Kammer des Schreckens. Oder, für die humanistisch Gebildeten: In die Meerenge zwischen Scylla und Charybdis. Wer soll jetzt mein Herzblatt sein? Jetzt muss ich mich entscheiden! 
Die Dame mit der dunkelbraunen Kunsthaarperücke und den schmalen Lippen, deren Bestreben zu sein scheint, so langsam zu kassieren, dass die erworbenen Tiefkühlprodukte schon vor dem Erreichen des Kofferraums geschmolzen sind?
Der übergewichtige Herr, der offensichtlich gerade von seinem Lebensabschnittspartner verlassen wurde und seine schlechte Laune durch besonders herablassende Blicke auf die Einkäufe seiner Kunden zum Ausdruck bringt? 
Die Dame mit den grauen Haaren, die - ja ist das denn die Möglichkeit? - heiter zu grinsen scheint ... was? Da ist jemand gut gelaunt? Na prima! Glück gehabt! Vermutlich bin ich heute dem letzten Exemplar einer aussterbenden Art gesehen, dem Dinosaurier des Einzelhandels, sozusagen: Der freundlichen Kassiererin! 

Im Verlauf bemerke ich, dass sie offenbar nur versucht hat, den Kern einer Himbeere, der zwischen zwei Zähnen steckengeblieben ist, herauszuzuzeln. Was irrtümlich von mir als Lächeln fehlgedeutet wurde. Bereits das junge Paar vor mir würdigt sie keines Blicks. Und auch mir, der ich bereits zu einem charmanten Lächeln angesetzt habe, und einem beschwingten „Grüß Gott!“, schenkt sie keinerlei Beachtung. Dabei versuche ich, um ihre Gunst zu buhlen. Sorgfältig schichte ich die Waren am inneren Rand des Laufbands auf, damit sie sich nicht so weit herüberlehnen muss. Ihn ihrem Gesicht jedoch regt sich kein Muskel. Verbittert, versteinert, verhärmt. Ich versuche, ihren Blick zu erhaschen, jedoch finde keine Beachtung. Sie zieht mechanisch und verbissen Produkt um Produkt am Scanner vorbei ...

.... dabei war auch sie einmal eine liebliche Jungfrau, voll Hoffnung und Sehnsucht. Den einen, der sie begehrte, wollte sie nicht. Sie träumte den Traum von Sicherheit und bescheidenem Wohlstand, kurz: Ein Postbeamter sollte es sein! Aber der wollte sie nicht, und so blieb sie mit dem kleinen Handwerker sitzen, dem Versager, der so wenig nach Hause brachte, dass auch sie arbeiten gehen musste ... 

„€ 82,47“, presst sie unwillig hervor, und leiert ihr Sprüchlein „Haben sie die Deutschland-Card? Payback? Sammeln Sie Treuepunkte?“ herunter. Ich schüttele den Kopf. Zu sehr überrascht mich dieser Erguss menschlichen Interesses und inniger Anteilnahme. Sie händigt mir sogar das Wechselgeld aus. „Kassenzettel ...“ Ich kann nicht deuten, ob das eine Forderung, Feststellung oder Frage ist, und entschließe mich, den Laden fluchtartig zu verlassen. 
Mir ist klar: Heute wird sie nach Hause kommen, und ihr Mann wird fragen, und, wie wars bei Dir?, woraufhin sie antworten wird, die Hölle, nur unfreundliche Leute ... 

Wehmütig denke ich an die nette Dame von meinem Discounter, die mir ein „Danke für Ihren Einkauf, bis zum nächsten Mal!" zum Abschied zuruft und samstags sogar noch „Ein schönes Wochenende!“ drauflegt, als freundliches Schmankerl. 

Treuepunkte brauche ich nicht. Hierher komme ich ohnehin nicht mehr. Wir lieben Lebensmittel? Mag sein. Bestimmt aber nicht die, die sie Ihnen abkaufen! 


Ego te absolvo a peccatis tuis ...

Ein Freund von mir, der hauptberuflich mit Beichte und Vergebung zu tun hat, macht mich auf eine skandalöse Facebook-Seite aufmerksam. Entsetzlich. Schmuddelig. Das Sakrament der Beichte profanisiert. Entheiligt. Das sei Blasphemie! 

Junge Leute haben es schwer. Unglaublich schwer. Vergleiche ich den durchschnittlichen Jugendlichen von heute mit meinem Selbst von damals, bin ich froh, meine Jugend schon ein paar Tage hinter mir zu haben. 

Das, was Du heute als junger Mensch lernst, ist: Geld, Macht, Besitz stehen im Vordergrund. Der Lebensstandard muss gehalten werden. Markenklamotten sind wichtig. Alles mitmachen, was angesagt ist. Alles besitzen, was ein Display hat. Und hat es keins, lohnt es sich eh nicht.

Wir wurden erzogen. Wir erhoben uns im Bus. Wir sagten Guten Tag und Auf Wiedersehen, Bitte und Danke. Wir behandelten andere Menschen respektvoll.

Wir hatten kein Auto. Oma versorgte uns mit Obst und Gemüse aus dem Garten. Es gab nicht jeden Tag Fleisch. Es gab keinen Geschirrspüler und keine Waschmaschine. Wir haben Ausflüge gemacht. Gepicknickt. Gesungen, Karten und Mensch-Ärgere-Dich-Nicht gespielt. Wir wurden nicht vor dem Fernseher geparkt. Wir besaßen nämlich noch keinen. Wir hatten Teddybären, Bauklötze aus Holz, Legosteine. 

Es gab keine Schnell-Restaurants. Das einzige Fast-Food war die Thüringer Bratwurst auf dem Jahrmarkt. Und mal ein Fischbrötchen, aber das war teuer.

Mama interessierte sich. Sie war immer zu Hause, mit ihrer frisch gestärkten, weißen Schürze, wenn ich aus der Schule kam. Sie hatte immer gekocht. Milchreis mit Zucker und Zimt und Grünkohl hasste ich, dafür liebte ich ihren Kartoffelsalat und den gebratenen Rotbarsch. Oder Labskaus. Oder Steckrüben, die es aber nur gab, wenn Papa nicht da war, weil der diese in russischer Kriegsgefangenschaft essen mußte. 
Sie ließ sich zeigen, was wir durchgenommen hatten, sie unterhielt sich mit mir darüber. Sie ließ sich auch, am Ende des Tages, die Hausaufgaben zeigen. 

Unsere Lehrer interessierten sich für uns. Wenn wir leistungsmäßig abrutschten, wurden erst wir befragt, dann unsere Eltern. Unsere Lehrer kannten die Verhältnisse, aus denen wir kamen. Sie förderten uns dadurch, das sie uns forderten. 
Wir schrieben „Besinnungsaufsätze“, in denen wir über Ehre, Treue, Verantwortung, Mut philosophierten. Wir lasen die Klassiker, in Deutsch, aber auch in Latein und Griechisch. 

Bei unserem Deutsch- und bei unserem Lateinlehrer waren wir häufig eingeladen. Deren Gattinnen hatten Kuchen gebacken, und beim Lateinlehrer gab es sogar einen Pool im Garten ...

Wir waren keine Engel. Wir haben uns auch geprügelt, in der großen Pause. Aber wenn einer zu Boden ging, wohlmöglich blutend, dann haben wir ihm aufgeholfen, und ihm auf die Schulter geklopft, und nicht immer weiter auf ihn eingeschlagen oder gar getreten. Und es tat uns leid. Wir hatten Mit-leid. 

Wir kannten unsere Freunde. Freunde, auf die wir uns verlassen konnten. Wir lernten und verstanden, dass der Mensch abhängig ist von anderen Menschen. Wir hatten Freunde, mit denen wir albern sein konnten, uns streiten, schweigen, diskutieren. Auch mal saufen. Aber nicht ständig. Freunde, bei denen wir uns ausheulen konnten.

Die Kids heute sind einsam, ohne es zu spüren. Ihre Regeln sind hart. Sie schließen aus, wer nicht so ist wie sie, nicht die angesagten Klamotten oder Elektronik mit sich führt. Der Wert der Dinge kann nur noch in Euro und Cent angegeben werden. Der Wert der Menschen orientiert sich an statistischer Häufigkeit, und am Preis seiner Besitztümer. 
Und die Freunde? Können so junge Menschen über die Medien eine emotionale Beziehung zu jemand anderem aufbauen? Über Twitter, YouTube, Facebook, Instagram & Co? Beim Zocken? Skypen? Chatten? 
Fliehen wir lieber aus der Realität, oder? Saufen uns ins Koma. Kiffen wir uns die Birne zu. Verkorken wir unsere Ohren mit Headphones und Earsets. Lassen wir uns von bunten Bildern berieseln. Gehen wir shoppen. Dann tut es nicht mehr so weh. 

Ich sehe diese Seite auf Facebook, „Dein Beichtstuhl“. Eine ‚Unterhaltungs-Website‘, angeblich. Eine sehr schräge Community. Kinder, die etwas loswerden müssen. Alberne, sexualisierte, banale Statements. Und dann wieder - hinter einer coolen, rotzigen, provokanten Fassade - ängstliche, verwirrte, einsame Einlassungen. Hilferufe. Bitten darum, dass jemand zuhört. Interesse zeigt. Sie wahrnimmt. Ihnen Wichtigkeit zumisst. 

Wenn ich so einen Post entdecke, versuche ich, darauf zu reagieren. Ich nehme den Verfasser ernst. Ich rede besonnen, liebevoll und mit so viel Verständnis, wie ich aufbringen kann. Ich mache es so, wie Mama früher mit mir. Ich interessiere mich. Ich richte nicht, kritisiere nicht, erhebe mich nicht über einen anderen Menschen, und sei er noch so jung. Ich versuche, zu verstehen. Und vielleicht, eine Empfehlung zu geben. 

Vielleicht überstrapaziere ich dies Format. Möglich, dass jemand pubertierenden Jugendlichen die Möglichkeit geben wollte, über ihre angeblichen körperlichen Vorzüge oder sexuellen Gepflogenheiten zu reden. Sich wichtig zu machen. Die Leute gepflegt zu verarschen.
Möglich aber auch, dass die Plattform benutzt wird, um zufällig Verständnis zu finden, oder um Rat zu fragen. Schwarmwissen zu erbitten. Hilfe zu bekommen. 

Möglich. 


Um Abendgarderobe wird gebeten 


Kein Wunder. Mit der Abschlussfeier der Universität hat ein engagiertes Organisationskomitee das ehrwürdige Hotel „Bayerischer Hof“ betraut, und für eine derartige Veranstaltung darf man sich gern schon einmal verkleiden. Ja, der dunkle Anzug passt noch - oder besser, wieder. Ich finde sogar meine Lieblingskrawatte, die, die ich damals bei SØR in Essen, in der Kettwiger Straße, gekauft habe, und die so wunderbar golden schimmert, ohne dabei kitschig zu wirken. 


Der Portier erinnert an Emil Jannings. Er versetzt für mich die messingumrahmte Drehtür in gemächliche Rotation und wünscht mir einen schönen Abend. Auf dem Weg zum Weißen Saal begegne ich den ersten Damen in eleganten Roben. Die Friseure und Visagisten der Landeshauptstadt haben wirklich alles gegeben. Donnerwetter! 


Der Vorraum füllt sich. Drei charmante junge Damen schnibbeln ein Eckchen meiner Eintrittskarte ab und gürten mein Handgelenk mit einem braunen Bändchen, auf dem „Bachelor 2017“ zu lesen ist. So. Jetzt gehöre ich offiziell dazu. 


Im Weißen Saal schleppen attraktive, grau uniformierte junge Menschen Tabletts mit Sekt, Saft und Wasser; von Letzterem greife ich mir ein Glas und nippe verlegen. Ich kenne hier niemanden. Aber ich erinnere mich gut, an meine Abschlussfeier, die fröhlichen, geröteten Gesichter, nervöses Lachen überall, stolze Eltern, die sich zu Ehren der hoffnungsvollen Brut in Schale geschmissen haben. 


Dabei bin ich niemandes Vater. Mein Schützling, Sohn eines guten Freundes, hat mich eingeladen. „Kannst Du kommen? Es würde mir viel bedeuten, wenn Du dabei bist.“ 


Um das klarzustellen: Ich habe nichts weiter gemacht. Gelegentlich mal was von ihm Verfasstes gelesen, Verbesserungsvorschläge bei Formulierungen angebracht. Gemeckert. Vielleicht auch mal mit dem einen oder anderen Taler ausgeholfen. Die eigentliche Leistung liegt ganz woanders. Stellt Euch vor, Ihr müsst eine Prüfung ablegen, habt aber Verantwortung zu tragen für kleine Geschwister, kranke Eltern, kein eigenes Arbeitszimmer, praktisch kein Geld außer dem, was Ihr Euch mit Gelegenheitsjobs erarbeitet. Gar nicht so einfach, oder? 


Ja, und nun stehe ich hier, inmitten akademischer Würdenträger, die jetzt angehalten sind, ihre Plätze an vorbezeichneten Tischen einzunehmen, in ihre Roben zu schlüpfen und die Bachelor Caps aufzusetzen. Alles in seriösem Blau, mit roten Borten. An unserem Tisch sitzt der designierte Ex-Kommilitone Julian mit seiner charmanten Mama, und seiner gut gelaunten Freundin. Auch aus seinen Augen strahlt Glück und Befriedigung. 


Der Kanzler ( zu meiner Zeit sagte man „Dekan“ ) der Universität trägt seine Ansprache vor. Er spricht von Jugend, Erfolg, und weiterem Lebensweg. Der Bedeutung des Smartphones in der modernen Kommunikation. Beglückwünscht, dankt und gibt bekannt, dass mit diesem besonderen Jahrgang an Studenten seine Laufbahn ein Ende nimmt. Er ist sicher, dass ihre Ausbildung die jungen Menschen befähigt, ihre Frau bzw. ihren Mann zu stehen. Er geißelt noch kurz die neu aufkommende Unsitte des Personal-Castings. Und lädt dann, unter tosendem Applaus der Zuhörerschaft, zum reichhaltigen Buffet ein. 


Für unseren Tisch ist ein unglaublicher, pechschwarzer Junge zuständig, der auffallend edle Gesichtszüge hat. Er erinnert mich an Lee Thompson Young aus der Serie ‚Scrubs‘, und wirkt wie der Sohn eines Stammesfürsten, so daß ich fast Skrupel habe, ihn um Wasser zu bitten. Er will mich zum südafrikanischen Weißwein überreden und ist fast enttäuscht, als ich ihm erzähle, dass ich nie Alkohol trinke. „Vielleicht später?“, fragt er hoffnungsvoll. Er lächelt ein unglaubliches Lächeln, aber nein, Wasser reicht mir, Danke! Er ist perfekt in dem, was er tut. Achtsam. Flink. Und er gibt jedem Gast das Gefühl, als sei er für ihn persönlich engagiert. 


Der emotionalste Moment entlarvt mich als das rührselige Weichei, das ich leider tatsächlich bin. Die Übergabe der Zeugnisse. Ein froher, feierlicher Moment, mit Musik von Edward Elgar unterlegt, Pomp and Circumstance. Wir sind beide nervös, Du und ich. Dein Name erklingt durch den Lautsprecher. Du hast es geschafft. Ich gratuliere Dir von ganzem Herzen. Ich freue mich so für Dich, und kann es nicht wirklich zeigen, sonst plärre ich hier los wie ein Baby. Wie sieht denn das aus. Und ich weiß, dass Du das weißt. Aber so hilflos, wie jetzt gerade, hab ich mich selten gefühlt.


Am Tisch gegenüber ein türkisches Ehepaar, das sich über den Erfolg ihres Sohnes freut. Freut? Der Vater tupft verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel. Die Mutter leuchtet. Wirklich. Ihr Gesicht, umrahmt von einem dunklen Schal, der verschwenderisch mit grün-goldenen Applikationen bestickt ist, verbreitet Glanz und Helligkeit von innen heraus, so viel Glück, ihre Augen strahlen. Auf dem Weg zum Buffet halte ich an diesem Tisch an, entschuldige mich für meine Aufdringlichkeit, und erkläre dem jungen Mann, dass er das Schönste an diesem Abend verpasst hat. Das Gesicht seiner Mama. Die Familie freut sich.


Die Auswahl und Folge der Speisen ist erlesen, und ich verfluche meinen Entschluss, mich streng low carb zu ernähren. Bei den Hauptgerichten gäbe es kein Problem, der cremig-sahnig-schokoladige Nachtisch mit der Garnitur aus Physalis und Himbeere allerdings ist verboten. 


Julian salzt nach. Ohne zu probieren, ob es nicht vielleicht schon salzig genug ist. Also, normalerweise halte ich mich vornehm zurück, in diesem Fall gelingt es mir nicht, die Klappe zu halten. Seine Mama gibt mir recht. „Von wem hat der Junge das bloß?“, erkundige ich mich in gespielter Verzweiflung. Die Dame schüttelt energisch den Kopf. „Von mir nicht!“, erklärt sie nachdrücklich. 

Mittwoch wird er mit Freundin nach Berlin umziehen, dort fängt er direkt an, zu arbeiten, in einer Firma, in der er bereits als Werksstudent hospitiert hat. Die Karriere ist kaum noch aufzuhalten. Auch die junge Frau an seiner Seite hat dort einen Job gefunden, und sie werden in Neukölln leben. Die Zukunft liegt zum Greifen nah. 


Hauke kommt an unseren Tisch. Er freut sich auf Teheran ... Moment mal! Was war das? „Hauke, Junge! Mach kein Quatsch!“ Warum kann ich mich eigentlich nicht vornehm zurückhalten, wie andere auch? Aaach, alles völlig ungefährlich, erklärt er mir. Sein Vater, ein gut aufgelegter, freundlicher Heilpraktiker, mit dem ich eine Weile fachsimpele, lacht. Alles gut. Dem Jungen passiert schon nichts.


Nach einer Show-Einlage, in der leidenschaftliche, hingebungsvolle, junge, weibliche Körper zu heftigen Rhythmen demonstrieren, zu welchen Bewegungen man in der Lage sein kann, wenn Kniegelenke und Bandscheiben keine Einwände haben, trägt ein bildhübsches Absolventinnen-Trio unter dem tosenden Applaus und Gejohle der männlichen Bevölkerung eine Abschiedsrede vor. 


Mein nachtschwarzer Fürstensohn bringt mir einen ebensolchen Kaffee, sich nach weiteren Bedürfnissen erkundigend. „Die behalte ich lieber für mich“, grinse ich zurück. „Wie sich das für ältere Herren gehört!“ Eine der bildhübschen Absolventinnen verkündet, dass nunmehr die Disco-Night beginne. Ein dicker alter Mann auf der Tanzfläche? Das überlassen wir mal den jungen Leuten, oder? Ich gebe Hauke noch den Ratschlag, gut auf sich aufzupassen, in Teheran, bevor ich aufbreche.


„Die Kinder gehen aus dem Haus“, philosophiert Julians Mama. „Was empfinden Sie dabei”, erkundige ich mich neugierig. „Ach, wissen Sie - das ist ja nun mal der Lauf der Dinge!“ 


Sie hat recht. 


Ich erinnere mich an 1984, als ich als Student ein Gebäude in Berlin-Charlottenburg betrat, um es als Arzt wieder zu verlassen. Ich habe damals auch gedacht, Gottseidank, das Schlimmste hast Du geschafft. Und habe gefeiert. 

Irrtum, Freunde. Das Schlimmste kommt noch. Das Schlimmste heißt Alltag, Finanzamt, Chef, Bank. Aber so ist das, mit dem Lauf der Dinge. Nur nicht aufgeben. Niemals aufgeben. 

Du wirst Deinen Weg machen. Und wenn es mal haken sollte, bin ich ja immer noch da. Und wenn es nur darum geht, etwas von Dir Verfasstes zu lesen. Verbesserungsvorschläge zu Formulierungen anzubringen. Zu meckern. 

Viel Glück auf Deiner Reise. 




Abschlussprüfung

So hatte ich Dich noch nie erlebt, am Telefon. Die Stimme voller Panik, fast schluchzend, voll Angst und Verzweiflung. Meist habe ich mich amüsiert über diesen schlimmen Berliner Tonfall, der mir aus einem feingeschnittenen, asiatischen Gesicht entgegentönte. 

Und nun das. Vorgestern. Alles sei aus, meintest Du. Was soll ich bloß machen. Ich habe doch so gelernt. Was soll ich bloß machen?  Dieser Satz klingt mir noch im Ohr. Dabei hätten wir eine Lösung gefunden. Wir haben immer eine Lösung gefunden. Alles ist weitergegangen. Immer. 

Dieses dreimal gottverfluchte Scheiß-Telefon. Man kann nur zuhören, und beschwichtigen, komm, reg Dich nicht auf. Alles wird gut. Wir schaffen das, wenn wir überhaupt erforderlich ist. Vermutlich bekommst Du alles allein hin. Und dabei würde ich Dich lieber in die Arme nehmen, Dich trösten und mit Tee und Keksen abfüllen. Das hilft immer. 

Du hast es etwas spannend gemacht, heute. Auf dem Display erschien Dein Bild, Du weißt schon, das aus der U-Bahn, als Du so erkältet warst, mit der roten Nase und den verquollenen Augen, das ich so lustig finde. 
Naja, sagtest Du, also eigentlich wärest Du unzufrieden und enttäuscht, weil trotz des vielen Lernens ...

EGAL! BESTANDEN! 

Dieses dreimal gottverfluchte Scheiß-Telefon. Man kann nur zuhören, ein wenig jubeln, vielleicht. Wie ich mich freue, mein lieber Junge. Das hast Du alles ganz alleine geschafft. Und dabei würde ich Dich lieber in die Arme nehmen, mich mit Dir freuen, und mit Tee und Keksen abfüllen. Meinem Allheilmittel. 

Du hast mir mehr geschenkt, als ich je zu verdienen geglaubt hätte. Denn beide Male hast Du mich angerufen. Als Ersten. Nicht Deine Eltern, Deine Geschwister, Deine Freunde. Du hast Dein Leid mit mir geteilt, und Deine Freude. Du hast mich zu einem Teil Deines Lebens erhoben.

Ich bin sehr glücklich. Und sehr stolz. Und jetzt ziehe ich mich mal zum Heulen zurück. 



Freitag der 13. ....

Ich neige zu Übertreibungen? Wieso, bitte, neige ich zu Übertreibungen? Liegt es daran, dass heute Freitag der 13. ist? Bin ich einfach dünnhäutig? 

Warum sind die Flüchtlinge in Österreich das wichtigste Wahlkampfthema? Ich meine, waren sie das nicht auch schon bei uns? Was haben wir für ein Glück, dass wir die Flüchtlinge haben! Worüber würden wir sonst reden? Wie könnten wir uns sonst als Nazis oder Gutmenschen präsentieren? Früher hatten wir nur Arbeitslosigkeit. Oder Ossis und Wessis. Oder Agenda 2010. Lächerlich. 

Warum will Herr Kurz in Österreich nur an Menschen Sozialhilfe zahlen, die mindestens 5 Jahre in Österreich leben? Wie ist das hier bei uns eigentlich? Und was soll das? Ich denke, wer nach 5 Jahren in einem unserer Länder noch Sozialhilfe braucht, dem gehört sie eigentlich gestrichen - Ausnahmen natürlich wird es geben. Aber ist es nicht so, dass man der Hilfe besonders in den ersten 5 Jahren bedarf? Ich verstehe das nicht. 

Ich verstehe nicht, dass auf meiner derzeitigen Lieblings-Facebook-Seite eine 19jährige Angst davor äußert, aufgrund einer Erbkrankheit zu erblinden, und für ihre Einlassung überwiegend Spott, Häme, Gleichgültigkeit erntet. Was ist denn los mit den Kids? Ich meine, sie können noch nicht wissen, dass jeder einzelne von ihnen, der sich jetzt über die Ängste der jungen Frau lustig macht, vom Leben noch grausam geprüft werden wird. Aber sie könnten doch Mitleid haben, oder? Empathie? Oder wenigstens - Respekt? Einfach nur Achtung vor einem Mitmenschen? 

Warum sagen mir heute Morgen zwei Facebook-Freunde, dass sie darüber nachdenken, ihr Leben wegzuwerfen? Ich fühle mich da so unglücklich, hilflos, ohnmächtig. Es gibt ja diesen alten Spruch, wer drüber redet, macht es sowieso nicht. Irrtum. Ich habe lange genug in der Psychiatrie gearbeitet, um zu wissen: Doch. Macht er. Suizid mit Ansage. Und man steht daneben, und fragt sich, wo eigentlich liegt meine Schuld? Und kann sie mir vergeben werden? Kann ich mir selbst vergeben? Was kann ich tun? 

Warum muss ich ständig Petitionen unterschreiben? Was ist los mit den Entscheidungen der „Entscheider“ in diesem Land? Da gibt es wunderbare junge Menschen, die wir brauchen, die bereit sind, sich anzupassen, die dies Land gern haben, meine Sprache sprechen, die Ausbildungsverträge und Immatrikulationen vorweisen können - und einen Abschiebebescheid erhalten. Ich fühle mich an das KZ Dachau erinnert. Ich habe die Anordnungen, Verordnungen, Dienstanweisungen, Gesetze der Nazis gelesen. Die waren präzise wie Rasiermesser formuliert, in bestem Amtsdeutsch, so klar, als könnten sie jederzeit wieder Geltung erlangen. Jeder Verstoß gegen die Ordnung erfährt da eine normierte Strafe, viehisch, unmenschlich, sadistisch. Aber ein gutes Gerüst für einen Entscheider, oder? Bitte, das ist der Buchstaben des Gesetzes, ich muss mich da an Vorgaben halten, ich habe keinen Spielraum, für meine Entscheidungen. Ich habe nur Befehle ausgeführt, sehen Sie selbst, hier steht es geschrieben, in einfachen, klären, deutschen Worten. Wieso: Herz und Verstand? Wieso soll ich nachdenken, als Mensch? Das wird ja nicht gefordert, von mir. Gehorsame Pflichterfüllung. Das ist das Gesetz, nach dem ich angetreten bin.

Es ist erst 8:57 Uhr. Wie wird dieser Tag weitergehen? Wie bloß? 

( Kleiner Nachtrag: Die USA und Israel verlassen die UNESCO. Also der Organisation, bei der es um so Nebensächlichkeiten wie Bildung und Kultur geht. 
Naja. Dass die Trump-Administration sich da nicht repräsentiert fühlt, kann man sich ja vorstellen. Aber ISRAEL? Wegen israelfeindlicher Haltungen? Weil die UNESCO etwas zum Weltkulturerbe erklärt hat, was den Palästinensern gehört? Und weil die Palästinenser dort aufgenommen wurden? Es tut mir leid. Ich verstehe das alles nicht. )






Vorurteile

„In Mannheim im McDonalds wurde gerade ein Handy geklaut.
Der Kerl c.a. 17-21 rote Kapuzenjacke, blonde kurze Haare, ziemlich schwul.
Ging leider etwas schnell.
Vlltt. Findet sich ja eine suchende Person, würde mich freuen wenn ich Helfen kann.“

Schwuler. Verurteilter Straftäter. Flüchtling. Jude. Lesbe. Behinderter. Noch ein Schwuler. Geschieden. Ein Schwarzer. Ein Asiate. Drei Kinder von drei Männern. Bipolar gestört. Steht auf S/M. Legastheniker. Ossi. Trockener Alkoholiker.  Noch ein Flüchtling. So gut wie obdachlos. Noch eine Lesbe. Drei Ossis, sogar hintereinander. Moslem. Ex-Zeuge Jehovas. Jüdin. Ein Roma. Ein Tänzer ... bestimmt auch schwul, oder? Wie der sich schon bewegt! 

Ich bin, nach diesem Text, den ein junger Freund heute veröffentlichte, mal durch meine Freundesliste gegangen. Was hätte Mama gesagt? Asoziales Gesocks. Das sagte sie gern, wenn ihr jemand nicht ins Weltbild passte. 

Ich habe mir Mühe gegeben. Aber ich habe nicht einen gefunden, auf den ich nicht mit dem Finger hätte zeigen können. Irgendwann hab ich, bei meiner Überlegung, festgestellt, dass auch ich, würde einer meiner Freunde seine Liste durchgehen, in diverse Kategorien falle. 

„Ziemlich schwul.“ Das schreibt ein junger Mensch. Jemand, der doch, im Gegensatz zu uns Älteren, Starrsinnigen, frisch, locker und unvoreingenommen auf andere zugehen können sollte. Oder? 

Ich habe ihn gefragt. Ich meine, klauen ... Polen und Rumänen. Auch die Litauer, hab ich neulich gelesen. Vermutlich war es ein Pole, oder? Ein ziemlich schwuler Litauer? 

Mein ziemlich heterosexueller Freund hat sich gegen meine Kritik gewehrt. Immerhin, Schwule nennen sich doch selber Schwule. Und blondiert, gepierct. Und wie der sich schon bewegte! 

Ich musste an meinen Freund, den Tänzer, denken. Vor 6 Monaten ist er Vater geworden, und führt eine glückliche Ehe. 
Woran erkennt man noch gleich ziemlich Schwule? An der Schuhgröße? Am Schnitt der Jeans? Der Haarfarbe? 

Und vor allem: IST DAS WICHTIG? Was sagt es aus? 
Was sagt es denn über Dich aus, schwul, lesbisch, behindert, Alkoholiker, Flüchtling, schwarz, Jude zu sein? 
Und was, bitte, ist Deine eigene Geschichte? Bist Du tatsächlich frei von allem, worüber wer anders die Nase rümpfen könnte? 
Wem dient das Verbreiten von Vorurteilen, und besonders deren Verknüpfung mit sozial inkompatiblen Eigenschaften?

„Wir sind die, vor denen uns unsere Eltern immer gewarnt haben.“ Über diesen Spruch haben wir als Studenten gelacht. Nicht wirklich originell, aber zumindest mit einem Funken Selbstkritik. 
Wer glaubt, irgendjemanden wegen irgendetwas kennzeichnen oder richten zu müssen, ist in meiner Freundesliste überflüssig. Jeder darf alles sein. Nur, bitte, ein guter Mensch. Kein Fascho, kein Rassist. Das ist dumm. Und Dummheit, die nicht gutmütig ist, ertrage ich nicht. 

Ich bin froh und dankbar, so wunderbare, farbenfrohe Freunde zu haben. Danke, dass ihr mich aushaltet. 


Menschen verletzen


Eben fragt eine liebe Freundin, die sich beständig sorgt, irgendetwas zu äußern, was wen anders verletzen könnte. Komisch, so etwas Ähnliches hatte ich heute schon. Und ich bin da deutlich härter im Nehmen. Es liegt - und jeder, der mich kennt, sollte das eigentlich wissen - mir fern, willentlich und wissentlich gezielt meine Freunde persönlich zu attackieren. Trotzdem denke ich, dass man sich über Widersprüchliches, Unerträgliches, Erstaunliches oder Verstörendes Gedanken machen darf. 


Ja, das kenne ich, habe ich erwidert. Aber ich bekomme es gesagt. Postwendend. Mit vorwurfsvollem Unterton. Damit ich auch merke, dass man das nicht mag, wenn ich was zu mäkeln habe. 


Wie kannst Du nur! Wie kannst Du was über den Islam sagen! Du hast doch keine Ahnung davon und vergrätzt Deine muslimischen Freunde! Wie kannst Du etwas gegen die israelische Siedlungspolitik sagen, damit verärgerst Du Deine jüdischen Freunde! Wie kannst Du etwas atheistisches Posten? Du bist doch Christ, und verletzt die Gefühle Deiner gläubigen Freunde! Wie kannst Du den CSD kritisieren, die Flüchtlingspolitik, die Jungen, die Alten, die Amerikaner, die Russen, den Brexit, die Frauen, die Männer, die Armen, die Reichen, die Progressiven, die Konservativen? 

Wieso REDEST DU ÜBERHAUPT? UND MIT SO VIELEN WORTEN? 


Heißt nicht ein altes lateinisches Sprichwort, „Si tacuisses, philosophus fuisses“? 


Ach, liebe Leute! Ist das der Sinn des Lebens? Oder von Facebook? Ich mag Katzenvideos, aber nicht nur. Ich mag diese Pseudo-Psycho-Test, aber nicht nur. Ich mag wunderschöne Gemälde oder tolle Filmszenen posten, oder Cartoons, aber ich mag auch nachdenken, mich über was ärgern, oder über was wundern, und das dann auch - sorry! - ÄUSSERN! 


Dabei erhebe ich keinen Anspruch auf die absolute Wahrheit. Weder bin ich Imam, noch der Papst. Ich beanspruche für mich nur das Recht, meine Meinung zu äußern. Vielleicht habe ich, in seltenen Fällen, auch mal Unrecht. Das darf man mir sagen. Aber ich werde antworten. Und mich nicht voll Scham in eine Ecke verziehen. 


Denn: Wer an meiner Kritik Kritik übt, beansprucht sein Recht, mich zu kritisieren, ebenso, wie ich mein Recht auf Kritik in Anspruch nehme. 


Ich hoffe, dass Ihr damit leben könnt, Freunde. Denn wenn das nicht mehr ginge, machte diese Veranstaltung hier keinerlei Sinn. Katzenvideos kann ich auch auf SAT1 und SuperRTL sehen. Und wie entfreunden geht, wisst Ihr bestimmt, oder? 



... für alles andere gibt es Barclay Card! 

Können Sie eigentlich mit Geld umgehen? Legen Sie was zurück? Sparen Sie? Haben Sie Ihre Einnahmen und Ausgaben voll im Griff? Keine Anrufe Ihrer Bank, oder gar peinliche Briefe? Peter Zwegat steht nicht mit Flipchart vor der Tür? 

Also, ich persönlich mag ja Kreditkarten. Diese bunten, kleinen Plastikkärtchen, für die man passende Portemonnaies geschneidert hat, deren Innenleben aus Plastik man wie eine Ziehharmonika auffalten kann. Die einem das Gefühl von Bedeutung verleihen, Wichtigkeit, Wohlstand. Ja, ich zahle mit meinem guten Namen. Ich schöpfe meine finanziellen Möglichkeiten aus. Die Freiheit nehm' ich mir. 

Und wenn Dein Name in die Karte geprägt ist, mit Deinem Titel - ein Gedicht! Und wenn die Karte dann noch schwarz ist .... 

„Es tut mir leid, aber ich muss die Karte zerschneiden, Herr Dr. Volmer!“ 

Der Mitarbeiter der Tankstelle sah mich fragend und mit einem Hauch von Vorwurf an. Vermutlich hätte ich, wäre es dunkel gewesen, geleuchtet. Die Leute begannen schon, von mir abzurücken. Da! Seht ihn euch an, den Hochstapler, der seine Rechnungen nicht bezahlt! Wetten, dass der Daimler da draußen nur geleast ist? Was? Doktor? Vermutlich ist das auch gelogen! 

Verlegen kramte ich nach Barem, immerhin, es reichte fürs Tanken. Und dann wählte ich die Service-Nummer von American Express. Der junge Mann am anderen Ende erklärte, dass man regelmäßig die kontoführenden Kreditinstitute befrage, wie sie denn die Bonität ihrer gemeinsamen Kunden so einschätzten. Und das Ergebnis sei nicht zu meinen Gunsten ausgefallen. 

Ich war damals noch niedergelassener Arzt. Na klar war meine Bonität angeschlagen. Aber, Opfer einer preußischen Erziehung, das ich bin: Meine Verbindlichkeiten habe ich stets erfüllt. Auch mein Hinweis, dass ich bereits seit 20 Jahren Amexo-Kunde ohne auch nur die kleinste Unregelmäßigkeit sei, nützte nichts. 

Dies peinliche Ereignis hat meiner Einstellung, Kreditkarten gegenüber, nicht wirklich genützt. Aber die Dinger sind ja so unendlich praktisch, nicht wahr? Auch wenn er mal nicht so ganz ausreichte, der Kontostand. Und die Haspa mit sorgenvoller Stimme dezent auf die Überziehung der Überziehung hingewiesen hatte. Da konnte man sich die schicke Strickjacke, den MP3-Player, das üppige Menü im Steakhaus doch noch leisten, was kostet die Welt, man lebt nur einmal, schließlich. 

Irgendwann ging es mir besser, konto-technisch. Man lernt ja dazu. Zum Beispiel, dass es Sinn macht, auch mal einen Kontoauszug zu lesen, statt ihn verlegen abzuheften. 

Ich mochte Kreditkarten nicht mehr ganz so gern. Wenn ich im Hotel oder Restaurant damit zahlte, hatte ich jedesmal wieder die Angst, dass die freundliche Rezeptionistin mich, bedauernd und ein wenig herablassend lächelnd, ansehen und sagen könnte:

„Es tut mir leid, aber ich muss die Karte zerschneiden, Herr Dr. Volmer!“

Ich hatte ja noch welche. Amexo war nicht die Einzige. Diners, Visa, Barclays. Diners und Visa hatte ich nie benutzt. Barclays schon. Das war jetzt ‚meine Karte‘. Was ich nicht begriff, war, dass ich monatlich € 200 bezahlte, der geschuldete Betrag aber nicht weniger wurde. Ein Freund erklärte mir, dass die Hälfte des Betrags Kreditzinsen, ein Viertel davon Bearbeitungsgebühren wären. Ein Viertelchen sei dann die Tilgung. 

Ich begriff, dass ich auf diese Weise die Arbeitsplätze von mindestens 1,5 Mitarbeitern der Barclay-Bank bezahlte. Und dann machte ich mich auf, um Klarschiff zu machen. 

Ein sehr hübsches, modernes Gebäude in der Gasstraße 4c in Hamburg. Na klar. Ich habe es ja mitfinanziert. Ich betrete das Gebäude durch eine mehrfach gesicherte Tür aus getöntem Glas. An der Rezeption sitzt eine zauberhafte, topgestylte junge Frau mit Chanel-roten Lippen, einem deckenden Compact Powder von Margaret Astor und einem schicken, schwarzen Kostümchen, das ich vermutlich mit meinen Bearbeitungsgebühren bezahlt habe. Sie unterbricht ihr Telefonat freundlicherweise, um sich nach meinem Begehr zu erkundigen. 

„Ich möchte meinen Kreditkartenvertrag kündigen!“

Die zauberhafte Frau erbleicht unter ihrem Compact Powder, und presst, selbstbeherrscht, die Roten Lippen aufeinander. 

„Ich rufe gleich zurück“, haucht sie mit letzter Kraft ins Telefon und läßt den Hörer auf die Gabel fallen.

„Warum? Sind sie nicht zufrieden mit unserem Service?“
„Wieso, Service? Was tun Sie denn, außer abbuchen?“
„Ja, aber unser Gewinnspiel .... sehen Sie, wenn Sie für 1000 Euro einkaufen, nehmen Sie automatisch an einer Verlosung teil ...“
„Danke, kein Interesse. Ich möchte kündigen.“
„Wir könnten mit Ihnen auch niedrigere Rückzahlungsraten vereinb...“
„KÜNDIGEN!“

Erschüttert sieht sie mich an, mit trauerumflorten shady eyes, die sehr mit dem deprimierten Klang ihrer Stimme harmonieren. 

„Moment, bitte!“

Sie ergreift das Telefon, wie ein Ertrinkender den Rettungsring. 

„Meier, Rezeption, Herr Müller, hier ist ein Kunde, der sagt, dass er ...“ kurze Atempause ... „kündigen möchte. Nein. Kündigen! Ich weiß auch nicht!“ 

Ich merke, dass sie mit den Tränen kämpft. Sie bittet mich, einen Moment Platz zu nehmen, aber bevor ich die einladende, von mir erworbene Sitzgruppe erreiche, steht auch schon Herr Müller vor mir, und bittet mich, ihm in den Konferenzraum zu folgen. Es handelt sich um einen unglaublich attraktiven dunkelblonden Mittdreißiger in geschmackvoll anthrazitfarbenem Anzug mit AfD-blauer Krawatte, der mir jetzt einen Kaffee anbietet, den ich selbstverständlich annehme. Immerhin habe ich ihn bezahlt, nicht wahr. 

Herr Müller ergreift meine Hände, schaut mir tief in die Augen und brennt ein Charme-Feuerwerk ab. 
„Was hab ich da gehört? Kündigen wollen Sie? Aber wieso dass denn? Sie sind doch unser Lieblingskunde! Wir brauchen Sie! Ich kann nicht mehr froh zur Arbeit gehen, wenn ich nicht sicher sein kann, dass Sie ...“

„Doch, mein lieber Herr Müller, doch. Ich möchte kündigen, und von diesem Entschluss rücke ich nicht ab.“ 
„Und wenn ...?“
„Nein!“

Sonnenuntergang in Müllers Gesicht.
„Ich informiere meinen Vorgesetzten“, murmelt er traurig. Eine Träne perlt aus seinem Augenwinkel und tropft auf die Glasplatte des Designertisches im Konferenzraum. Er greift zum Mobiltelefon.

„Müller, Kundenberatung, Herr Schmidt, hier ist ein Kunde, der sagt, dass er ...“ kurze Atempause ... „kündigen möchte. Nein. Kündigen! Ich weiß auch nicht! Hab ich schon versucht. Er läßt sich nicht umstimmen!“ 

Und wenig später steht Herr Schmidt vor mir. Spitze Nase, wäßrige, hellblaue Haifisch-Augen. Da, wo bei anderen die Lippen sind, findet der Beobachter nur einen feinen Strich. Schütteres, hellblondes Haar, fahles Hautkolorit. Müsste mal an die frische Luft, der Junge! 

Herr Schmidt nennt Zahlen. Soviel schulde ich der Firma. So hoch sind die Vorfälligkeitszinsen. Ob ich mir das auch gut überlegt .... Ja, habe ich. Danke. Wir unterzeichnen den Kündigungsvertrag. Schmidts Lippen sind noch nicht einmal mehr ein feiner Strich. Seine Mundpartie sieht aus wie die von Keanu Reeves in Matrix, in der ... na, sie wissen schon. 

„Bevor ich es vergesse, Herr Schmidt“, äußere ich zum Abschied, „bitte nehmen Sie mich aus Ihrem Werbeverteiler. Keinerlei Zusendungen von Werbematerialien, ok?“ 
Herr Schmidt klammert sich an der Glasplatte des Designertisches fest, auf dem Herrn Müllers Träne inzwischen getrocknet ist und einen dezenten Salzrand hinterlassen hat.
„In Ordnung“, ächzt er willfährig. „Und wenn Sie einmal wieder unsere Dienste in Anspruch nehmen möchten ...“
Ich lächele freundlich.
„Diese Gefahr besteht nicht, lieber Herr Schmidt. Keinesfalls.“

Können Sie mit Geld umgehen? Ehrlich? Na gut, ich auch nicht. Aber eins habe ich gelernt: Zinsen auf Schulden zahlen, ist die blödeste Art, die Kohle zum Fenster rauszuwerfen. 
Wenn Sie die hübschen, bunten Kärtchen nicht unbedingt brauchen: Kündigen. 

Macht Spaß. 


Mümmelmannsberg Papers

Diese ganze Diskussion um Paradise Papers und Steuern erinnert mich an eine heitere Begebenheit aus meiner Praxis-Zeit, die ich Euch nicht vorenthalten möchte. 

Ich konnte nie meine Steuern zu dem Zeitpunkt zahlen, zu dem sie fällig waren. Ich habe die Absenkung der Arzthonorare life, Stereo und in Farbe mitgemacht ( Ärzte werden nach einem Punktesystem bezahlt. Also, die Blasenspiegelung beim Mann bringt beispielsweise 100 Punkte. Als ich 1990 anfing, war der Punkt fast 12 Pfennige wert. In meinen letzten Arbeitsjahren knapp 3 Cent. Wir haben immer Witze gerissen: Die Arzthonorare [ = Zahl der Punkte ] bleiben stabil! ). Mein Steuerberater hatte deswegen immer wieder gebetsmühlenartig wiederholt: RÜCKLAGEN BILDEN! 

Das hatte ich zwar immer versucht. Rücklagen zu bilden, nämlich, aber leider kamen mir ständig laufende Anschaffungen wie z.B. Büromaterialien, Laborsets, Hygieneartikel, Kits für die Blasendruckmessung und Katheter in die Quere, die bezahlt werden mussten. Reparaturkosten. Und ständig steigende Miet- und Nebenkosten. 

Also stellte mein Steuerberater laufend Anträge auf Stundung, die, weil ich ja brav die vereinbarte Rate zuzüglich Säumniszuschlägen auf Steuer und Soli überwies, bewilligt wurden. Die Höhe der Säumniszuschläge richtete sich nach der Höhe des geschuldeten Betrags, und,  um nicht in Verzug zu kommen, errechnete ich das, was ich zu zahlen hatte, und überwies immer ein paar Tage früher, als ich musste - um irgendwie einen guten Eindruck zu machen. 

Meine mathematischen Talente sind eher begrenzt. So fiel es mir einmal nicht auf, dass ich bei meiner vierteljährlichen Steuervorauszahlung, die durchschnittlich zwischen 12 und 15 Tsd. Euro lag, einmal den Säumniszuschlag versehentlich um ca. 5 Euro zu gering bewertet hatte. 

Ich war stolz darauf, den Betrag dargestellt und überwiesen zu haben. Als die Mahnung über, sagen wir mal, € 4.50 kam, nahm ich diese nicht so ernst. Bitte! € 4.50! Lächerlich! Zahl' ich beim nächsten Mal mit! 

Ich saß an meinem Schreibtisch, als hektisch meine Helferin nach hinten kam. Es war ein verregneter Donnerstag, die Patienten wegen der Wartezeiten übellaunig, und ich verdaute gerade einen Brief von der Ärztekammer. 
„Sie haben ... Besuch!“
Ich reagierte unwillig. 
„Nicht jetzt, Frau Herrmann. Sie sehen doch, was los ist.“
Frau Herrmann wirkte unglücklich.
„Er wird sich nicht abweisen lassen!“

Der graue Mann, der kurze Zeit später in meine Ordination stürmte, war bösartig wie ein Prostatakrebs. 
„Schulze, Vollstreckungsstelle, Finanzamt Hamburg-Hansa! Herr Dr. Volmer, Ihnen ist bekannt, dass bei Ihnen Beträge ... “ - er pausierte kurz, um in einer rosafarbenen Akte zu suchen - „ ... zur Vollstreckung offen sind?“

Ach, warum auch kann ich nicht einfach mal die Klappe halten? Einfach mal - nichts sagen, zum Beispiel? Halt doch einfach die Fresse, Herr Dr. Volmer! 

„Ach! Das ist ja aufregend! Sie sind der Vollstrecker? Wow! So sehen die also aus!“, entgegnete ich humorig und gewinnend lächelnd, um der Situation die Schärfe zu nehmen.
Ja, Diplomatie - kann ich! 
Herr Schulze nicht.
„Das gewinnende Lächeln wird Ihnen schon vergehen“, knurrte er grimmig. Er sei gekommen, um eine Taschenpfändung durchzuführen. Und er bestünde auf sofortiger, hören Sie, Herr Dr. Volmer, UMGEHENDER Begleichung meiner Schuld dem Finanzamt Hamburg-Hansa, der Freien und Hansestadt Hamburg, dem deutschen Volk gegenüber, und der Erfüllung meiner staatsbürgerlichen Pflichten. 

Eingeschüchtert zog ich miese Ratte ein paar Münzen aus der Tasche. Mit zitternden Fingern zählte ich dem Vertreter der Bundesrepublik Deutschlang € 4.50 vor. 
„Ha!“, schleuderte Herr Schulze mir entgegen. „Das dürfte nicht ganz reichen! Sie haben einen Säumniszuschlag auf den Säumniszuschlag zu zahlen, eine Mahngebühr, eine Bearbeitungsgebühr, sowie die Kosten für den Verwaltungsakt zu übernehmen! € 180.-, wenn ich bitten dürfte!“ 

Na gut. Dann gehe ich halt die 25 km zu Fuß nach Hause, und esse den Rest der Woche nichts. Immerhin: Es ist ja auch schon Donnerstag. Das schaffe ich. 
Herr Schulze strich mit sardonischem Grinsen den fälligen Betrag ein. Anstelle eines Grußes zum Abschied äußerte er belehrend: 
„Zur Vermeidung derartiger Inkommoditäten, die ja auch eines Hanseaten unwürdig sind. empfehle ich Ihnen dringend, Rücklagen zu bilden, und die Steuer pünktlich und gewissenhaft zu entrichten.“

Ach so? So macht man das? Ich hatte ja keine Ahnung .... hätte man mir ruhig mal sagen können! 

Sie glauben, meine Damen und Herren, dass es sich bei meiner kleinen Geschichte um einen Scherz handelt? 
IRRTUM! Sie ist tatsächlich passiert, und wahr. Die Welt eines promovierten Akademikers ist schillernd, glitzernd, abwechslungsreich! 

Ich würde mir wünschen, dass der Staat mit ähnlicher Konsequenz nicht hinter € 4.50 herjagt, sondern hinter den Milliarden, die unablässig hinterzogen werden. Aber ich glaube, die armen Schulzes dieser Welt sind einfach zu beschäftigt damit, kriminellen Subjekten wie mir zu zeigen, dass mit der Oberfinanzdirektion nicht gut Kirschen essen ist. 

Bitte denkt dran. Bildet Rücklagen! 


„Guten Morgen!“

Ich finde es eine schöne Tradition, sich die Tageszeit zu bieten. Man kommt irgendwo hin, wo ‚der Andere‘ entsprechend sozialphilosophischer Studien lauert. Man wird seiner ansichtig, und nimmt ihn wahr. Du Mensch, ich Mensch. Wir sind gleich. Lebendige, atmende, fühlende Wesen. Ich freue mich, Dich zu sehen, und ich bin Dir dankbar, dass Du bereit bist, mich einen Abschnitt meines Wegs durch diesen Tag zu begleiten. Zu motivieren. Wenn nötig, zu stützen, zu trösten. Mir zuzuhören. 

Wie wunderbar, dass man diese Tradition des realen Lebens auch in den gefürchteten Cyber Space mitnehmen kann. Ach, guck an! Diese liebe Freundin ist auch schon wach, und mochte das wunderschöne Video, das ich geteilt habe! „Hallo, F.! Du früher Vogel! Alles gut bei Dir? Hab einen schönen Tag!“ Und da ist sie schon, die Reaktion! „Ja, wichtiger Termin, heute. Drück mir mal ab 11 die Daumen! Ich schreib Dir später! Schönen Tag auch Dir!“

Schön, oder? Zu diesem zivilisatorischen Grad haben wir uns hin entwickelt. Wie ziehen uns zur Begrüßung nicht mehr die Keule über den Scheitel - wir sind prall gefüllt mit Kultur und Kinderstube. Und so muss es sein, unter ... Moment, ein Guten-Morgen-Wunsch von Karl-Heinz. Oh man! Was für ein schöner Spruch! „Gib jedem Tag die Chance, der schönste Deines Lebens zu werden.“ Sehr nett. Ich grabe bei Google, um etwas ähnlich Liebevolles zu finden. 

Während ich „Du bist etwas ganz Besonderes“ zurückposte, fällt mein Blick auf Hilkes Morgengruß. Ein Sonnenaufgang an der Küste. Komisch. Dabei wohnt sie in Stuttgart! Egal. Ich rufe ihr ein optimistisches „Moin Moin“ entgegen. Nett. Ich kenne wirklich nette Menschen, und ich bin wirklich dankbar - oh ha! Thomas, Dorit und Axel! Fast zeitgleich! Axel, der alte Revoluzzer! „Auch heute kämpfen wir für die Menschenrechte! Nieder mit Glyphosat!“ Recht hat er. „Genau, Axel! Solidarische Morgengrüße!“
Ach wie süß! Dorit mit diesem niedlichen Katzenbild! Was steht da? „Ich hab Dich gestern lieb, und heute, und morgen, und immer!“ Ja, ich Dich auch, Du Süße! „Guten Morgen von Deinem Katerchen!“ Und was hat Thomas geschickt? Na klar! Ein Einhorn auf einem Regenbogen! Auf ein Abbild seines eher weniger bekleideten Körpers gelegt! Wieder als LGBT-Aktivist unterwegs! Da bin ich jetzt mal gemäßigt frivol. „Brich nicht so viele Herzen, mein Hübscher! Viel Spaß Dir heute beim Workout!“ Meine Güte! So viele Muskeln! Wofür braucht man die bloß? Ich komme doch auch ohne aus! 

In der Zwischenzeit haben sich Desiree, Wir in Bayern, die Admins meiner Low-Carb-Gruppe, des Literatur-Blogs, Karen und Ali gemeldet. Und während ich noch dabei bin, zu antworten, individuell, originell - man möchte sich ja nichts nachsagen lassen! - treffen Morgengrüße ein von Kim, Mohamed, Reinhard und Jeremy. 

„Warst Du schon unter der Dusche?“, ertönt eine Stimme aus Richtung des Schlafzimmers. 
„Nein, noch nicht! Ich schaffe es einfach nicht!“
„Geh jetzt, wir müssen pünktlich aus dem Haus!“

Na Du hast gut reden! Geh jetzt! Wie denn? Jetzt kommen Guten-Morgen-Grüße von Mike, Spiegel online und meiner Zahnärztin! Ich will ja nicht als unhöflich oder gar arrogant bekannt werden! Ich schreibe und schreibe. Mahbooba und Reza, Otto, Refugees Welcome, Liu Wei, Jean-Claude ... Bonjour, Good Morning, 早上好! Moin! 

„Wenn Du jetzt nicht gehst, fahre ich ohne Dich!“

Ich bin diesem Druck nicht mehr gewachsen. Ich unterbreche die Arbeit, nachdem ich noch das kleine YouTube-Video gepostet habe. Wo ist mein Beta-Blocker? Mein ACE-Hemmer? Ich muss dringend 'runterkommen ...

Abends schickt Mattie mir eine Botschaft über den Messenger. „Ich hab Dir heute so ein lustiges Bild mit einem Guten-Morgen-Gruß geschickt, und Du hast es völlig ignoriert! Du hast es wohl auch nicht mehr nötig, oder?“ Sie klingt angefressen. Sie hat ja recht. Enttäuschend, mit mir befreundet zu sein. Befreundet? Naja. Bekannt, wohl eher. 

Es ist ja wirklich eine schöne Tradition, sich zu begrüßen, und einen schönen Tag zu wünschen. Deswegen tue ich das jetzt. Ein für allemal. Für den Rest meines irdischen Daseins. Ich habe Euch alle, die ihr in meinem Facebook seid, ganz besonders lieb. Ich bin dankbar für Euren Trost, Euer Interesse, Eure Zuneigung, Eure Kritik. Ich lebe und weine mit Euch, ich lache mit Euch, und ich rede mit Euch. Sehr gern, sogar. Aber am liebsten, wenn’s was zu reden gibt.

Für die Nummer mit den morgendlichen Grüßen hab ich eine Lösung. Einen Dauerauftrag, gewissermaßen. Denn dass ich Euch einen schönen Tag wünsche, wisst Ihr vermutlich sowieso. Deswegen schreibe ich, für alle Zeiten, dies hierhin: 

„GUTEN MORGEN ALLEN, ÜBERALL, IMMER!“ 
( Bitte diesen Satz jeden Morgen einmal lesen! )


( Wortendung „-leben“ bei Ortsnamen: Die Grundbedeutung -lev oder -löv ist „etwas Überlassenes, Zurückgelassenes“ (vgl. englisch to leave), woraus sich dann die Bedeutung „Erbe“ entwickelte. In beiden Fällen kann der erste Teil des Ortsnamens eine Person bezeichnen, und zwar diejenige, die etwas hinterlässt oder vererbt. [ Wikipedia ] )

Deutschland - Blühende Landschaften

Die Navi schlug vor, den Weg abzukürzen. Von der A 9 zur A 14, und dann über die B 246 zur B 180, dann noch ein Stückchen B 245, und dann zu A 2. 

Ja, ok. Dann sieht man wenigstens ein Stück Gegend. Waren Sie schon mal im Raum Magdeburg? Sachsen-Anhalt? Ja? Ich noch nicht. Aha. Das hier ist also Welsleben. Einige Neubauten, dann folgen alte Häuser, erkennbar marode, mit Materialien aus dem Baumarkt offenbar selbst notdürftig instandgesetzt. Schade. Ein wenig Farbe hätte dem Ortskern gut getan. 

Plattes Land, soweit das Auge reicht. Je nach Laune langweilig oder beruhigend. Und immer wieder kleine Orte, Dörfer. Remkersleben, Dreileben, Wanzleben. Ich beginne, mich unwohl zu fühlen. Kennen Sie den Film „Wrong Turn“? Alles wie ausgestorben. Ein Stephen-King-Szenario. Die Stadt der lebenden Toten. Die Häuser renovierungsbedürftig, lehmgelb, ocker, und grau in allen Schattierungen. Einige abgeblätterte Emaille-Schilder und kaum noch leserliche Schriftzüge auf bröckeligen Hauswänden verkünden, was sich dermaleinst hinter diesen Mauern befand. Zeitungen, steht da. Lebensmittel. Unter dem Schriftzug ein blindes Fenster, daneben eine morsche, schiefe Tür.

Bitte, es ist 16:08 Uhr. Aber hier gibt es auch nichts, von zwei Tankstellen und einigen Netto-Märkten abgesehen. Es ist menschenleer. Nur einige Autos scheinen bemüht, die Orte so rasch wie möglich zu durchqueren. Eine ältere Frau in einem lila-weißen Kittel aus Plastik steht kauend vor einer teilweise umgestürzten Mauer. Eine junge Frau schiebt einen Kinderwagen. „Rosemaries Baby“, fällt mir ein. Eilsleben, Oschersleben, Siegersleben, Wefensleben. Ich rechne damit, dass eine Horde Zombies um die nächste Ecke biegt. Verflixt! Die Sonne geht langsam unter! Was mag nach Einbruch der Dunkelheit passieren? Vampire? „From Dusk Till Dawn“? Oder bin ich an dem Tag hierher gekommen, an dem Verbrechen straffrei gestattet ist, wie in „The Purge“? Noch immer ist kein Mensch zu sehen. 

Morsleben, Ingersleben, Ostingersleben. Ein Baumarkt, wie schön. Oh, und noch ein Netto-Markt. Hat sich da eben etwas bewegt? Nein, doch nur eine flackernde Neonröhre. Wirklich erstaunlich. Alle Ortsnamen enden auf -leben. Und die Gegend ist so gnadenlos tot, dass ich beginne, zu verstehen, warum die Menschen, die hier vermutlich hinter den kaputten Mauern hocken, sich abgehängt und im Stich gelassen fühlen. Offen für Rattenfänger aller Art. Wie soll man sich denn sonst Gehör verschaffen. 

Die Sonne ist untergegangen. Nur noch ein dämmriger Schein am Horizont ist wahrnehmbar. Komm, Junge, halte durch! Es kann nicht mehr weit sein! Noch Haldesleben und Erxleben! Na los! Das schaffst Du! Ein Bürger überholt mich auf einem rostigen Damenrad. Er wirkt besorgt, nimmt mich allerdings nicht zur Kenntnis. 

Endlich! Ein Schild mit der Aufschrift Helmstedt! Die Auffahrt zur A 2! Es ist geschafft! Heimat, süße Heimat! Alles wird gut ...




Steffan mit Doppel-F

Nein nein. Ich poste das hier nicht, um zu zeigen, was für ein zauberhafter, großzügiger Mensch ich bin. Aber dies Jahr klappt es nicht mit weihnachtlich-ehrenamtlichem Engagement. Deswegen achte ich besonders auf Situationen und Menschen. Vielleicht kann das für den einen oder anderen eine Anregung sein. Ich bin sonst sicher kein Vorbild, aber ich kann Euch sagen: Das wunderbare Gefühl, mit dem man nach Hause geht, ist so erhebend, dass man sogar in Erwägung ziehen kann, so etwas nicht nur an Weihnachten, sondern das ganze Jahr über ... na gut. 

Das Auto verrät mir, das die Außentemperatur 0 Grad Celsius beträgt. Dämmerung. Schneeregen. Ekelhaft. Keinen Hund jagt man auf die Straße. Ich bin in der Innenstadt und habe Hunger. Da, ein türkisches Restaurant. Irgendwas mit „Urfa“. 

Jawohl. Grillplatte muss nicht, aber so ein Adana-Kebap passt bestimmt. Hier ist sogar ein Parkplatz am Straßenrand. Fügung, oder Schicksal. Irgendjemand sitzt in einem Hauseingang. Einen Burger King-Becher vor sich. Auf einem Schlafsack sitzend, so einen hatte ich auch mal. Viel zu dünn angezogen. Jeans, Jacket, gegen die Nässe so einen blauen Müllsack darüber, in den er für die Arme Löcher geschnitten hat. Wollmütze. Junges Gesicht. 

Ok. Erstmal essen. Ich habe einen Bärenhunger. Nachher werfe ich ihm was in den Becher. Versprochen. 

Das Adana-Dingens ist lecker. Ob der Junge noch da ist? Irgendwie hab ich ein schlechtes Gewissen. Aber es ist so schwierig, das Richtige zu tun. Was ist das Richtige? Und: Kann das, was für den einen richtig ist, nicht für den anderen falsch sein? 

Da sitzt er. Ich habe einen 5-Euro-Schein gefaltet, und lasse diesen in den Becher fallen. Er bedankt sich. „Wo schläfst Du, heute Nacht?“
Er lacht etwas und beschreibt mit den Armen den Geschäftseingang. 
Ich habe es eilig, es ist schon spät, und ich will nicht nasser werden, als unbedingt erforderlich. 

Ich sitze wieder in meinem Wagen. Es ist wirklich kalt und ungemütlich. Ich werde die Sitzheizung anschalten, und in meine gemütliche, kleine, überheizte Wohnung fahren. Noch ein wenig Weihnachtsdekoration ansehen. Villeroy und Boch. Dafür habe ich vor drei Wochen über 300 Euro ausgegeben. 

Ich kann nicht losfahren. Ich kann einfach nicht losfahren. 

„Wie heißt Du? Ich heiße Peik!“

Er heißt Steffan Oskar. Steffan mit Doppel-F. Seine Mutter hat immer Steffan gerufen, sein Vater hat ihn Oskar genannt. Warum ich zurückgekommen bin? 
„Ich hab was vergessen.“ 
Der Schein, den ich diesmal gefaltet habe, ist deutlich gewichtiger. Er schaut darauf, als handele es sich um etwas ganz besonders Gefährliches. Er springt von seinem Schlafsack auf, streckt die Hand aus, macht einen höflichen Diener. „Danke!“ Wir stehen uns gegenüber und sehen uns in die Augen. Die Umarmung, die folgt, ist zwangsläufig. Eine kleine Ewigkeit stehen wir so da. 

Ich würde so gern schreiben, ‚Es war uns nicht mehr kalt.‘ Kitschig. Und gelogen. Es war ein wunderbarer Moment, aber es war trotzdem eklig und nasskalt. 

Im „Urfa“ wundert sich die Fachkraft. Er verkauft immerhin drei weitere Adanas. ( Ich esse auch noch eins. ) Nebenher erfahre ich, was alles passieren kann, um durch so wunderbare soziale Netze zu fallen. Oskar erzählt. Ich höre zu. 

„Wenn Du mich besuchen möchtest - das ist meine Straße! Du findest mich immer hier!“, sagt er, nachdem wir uns noch einmal in den Arm genommen haben, zum Abschied. Ja, ich glaube, ich besuche ihn wieder. Er ist nämlich kein Penner, ohne festen Wohnsitz. Er ist Steffan Oskar. Steffan mit Doppel-F. Er ist ein Mensch. Ein Mensch, der viel Pech gehabt hat. 

Ich hingegen habe viel Glück gehabt. Unverdient viel Glück. Immer wieder. Zuletzt in dem Moment, in dem ich jemanden kennengelernt habe, dem ich einen Moment nahe sein durfte. 

Danke, Oskar. Vielen Dank. 


Die Sache mit dem Funken

„Als am 28. Juni 1914 der österreichisch-ungarische Thronfolger in Sarajevo von einem serbischen Nationalisten ermordet wurde, war der Funke für die Explosion des Pulverfasses Balkan gezündet worden.“

Dieser Satz stand so oder so ähnlich in meinem ‚Geschichtsbuch für die Oberstufe’ aus dem Klett-Verlag. Und wenn Sie mal nachschauen, dann erscheint die Formulierung auch heute noch in mannigfaltigen Publikationen. Man muss nur ‚Funke‘, ‚Pulverfass‘, ‚Sarajewo‘, ‚Krieg‘ in eine beliebige Suchmaschine eingeben. Immer wieder ähnliche bzw. die gleichen Worte. 

Nur zur Erinnerung: Die Zahl der Toten des 1. Weltkriegs, nach unten abgerundet, liegt irgendwo bei 20 Millionen und 21 Millionen Schwerstverletzten, die Angaben variieren erheblich. Sieht man den 1. als Mit-Ursache für den 2. Weltkrieg, muss man nochmal rund 65 Millionen Tote addieren.

Die Sache mit dem Funken habe ich mir zwar bildlich vorstellen, aber nicht wirklich verstehen können. Schrecklich, dass Franz Ferdinand und Sophie erschossen wurden. Aber wie kann das zu derartigen Katastrophen führen? Was haben wir jahrzehntelang mit „Funke“ assoziiert? Richtig! Silvester-Feuerwerk! 

Inzwischen, als älterer Mann, nehme ich sie wahr, diese Funken. Schier endlos ist ihre Zahl. In der Flüchtlingspolitik. Der Annektion der Krim. Dem Wiedererstarken der Rechten. Nordkorea. Auswirkungen der Religionskonflikte. Das Zerbröckeln Europas. Und jetzt Trumps Entscheidung zu Jerusalem. 

Bin ich der Einzige, der zunehmend Sorge wegen dieser Funken empfindet? Der Angst hat vor den Explosionen von Pulverfässern? Wie lange kann das gutgehen? 

Eines Tages wird vielleicht das gestrige Datum, „Der 6. Dezember 2017, als der amerikanische Präsident Donald Trump erklärte, Jerusalem als die Hauptstadt Israels anerkennen zu wollen, war der Funke -“, in den Geschichtsbüchern stehen. Oder irgendetwas anderes. Als Beginn eines Weltkrieges. 

Wie viele Tote werden es diesmal sein? Werden wir unter den Gefallenen, Ermordeten sein? Unsere Kinder? Unsere Enkel? Menschen, die wir lieben? Und vor allem: Weswegen? Worin liegt der Sinn? 

Welcher Funke wird es sein, der in Zukunft in den Büchern und Suchmaschinen verzeichnet sein wird? Irgendeins von den Ereignissen, die der Nachrichtensprecher in ein paar Sekunden verkündet, jedenfalls. Irgendetwas, das wir am Rande aufschnappen, zufällig als Schlagzeile oder „Breaking News“ mitbekommen. Etwas, von dem wir denken, ach, ist ja weit weg, betrifft uns nicht. Eine naive Illusion, in einer vernetzten und globalisierten Welt. 

Irgendetwas wird passieren. Irgendetwas, irgendwann. 


Leute Verletzen für Fortgeschrittene


Ich habe gerade den Eindruck, dass es für mich an der Zeit ist, Facebook zu verlassen. Denn es scheint immer problematischer zu werden, Meinungen zu äußert, Stellungen zu beziehen, Haltungen zu vertreten. Wir - auch ich, zugegeben - werden immer sensibler, wenn es um (Vor-)Urteile geht. 


Wir verärgern uns, bestenfalls. Schlimmstenfalls verletzen wir uns gegenseitig mit dem, was wir glauben, mit unserer politischen oder sozialen Einstellung. Mit unserer sexuellen und gesellschaftspolitischen Orientierung. Mit unserer Hautfarbe, oder unseren körperlichen Eigenheiten. Mit unserem Humor. Mit unseren Steckenpferden und Interessen. 


Beispiele? Eine mir sehr wichtige, liebenswerte Freundin fühlte sich angegriffen durch Bosheiten, die ich über die peinlichen Ausfälle des Christentums veröffentlichte. Gestern fragte empört eine jüdische Freundin, an der mir sehr viel liegt, und die ich sehr schätze, warum ich bei Amnesty mich für zwei junge Palästinenser einsetzte. Heute finde ich, dass ich mit einem Video eines depperten Mullahs einen lieben muslimischen Freund verletzt habe, was mir besonders nahegeht, weil ich ihn wirklich gern habe. 


Mein Einsatz für Flüchtlinge, meine politisch deutlich linke Haltung, meine Unterstützung der LGBTQ-Gemeinde, mein Atheismus, ja, selbst meine Unterstützung des BVB und des 1. FC Köln und, nicht zuletzt, meine Sympathien für CR7 führen zu Kopfschütteln, Mitleid, Unverständnis, Häme. Sogar auf meine nachdenklichen Statements beim „Beichtstuhl“ ernte ich immer wieder Kommentare, die mein Bemühen, hilfreich zu raten, infrage stellen. 


Ich merke, dass das bei mir inzwischen schon dazu führt, dass ich bei Freundschaftsanfragen die Profile auf Unvereinbarkeiten untersuche. Erst neulich habe ich die Anfrage eines wirklich interessanten, witzigen, intelligenten Menschen schweren Herzens gelöscht, weil in seiner Timeline Koransuren als Titelbild und unablässig religiöse Formulierungen zu finden waren. Das geht nicht gut, habe ich mir gesagt. Lass es lieber sein. 


Gibt es Auswege? Kann man diesem „Die/der ist ja ganz nett, aber dummerweise [ politisch liberal Moslem Christ Jude schwul transgender lesbisch Engländer Flüchtling intelligent schwarz Bayernfan Helene-Fischer-Hörer ], und deswegen passt das nicht“ entkommen? 


Bedeutet das, keine Meinung mehr haben zu dürfen? Und, wenn sich Meinungen nicht vermeiden lassen, diese nicht mehr äußern zu dürfen? Freiwillige Selbstzensur, um des lieben Friedens willen? Um niemandem auf den Schlips zu treten? Keinen Freund zu verletzen? 


Und wie ist das umgekehrt? Ich werde ja auch verletzt, oder? Oder zumindest genervt, von dem religiösen Schwulst, der über mir ausgekippt wird. Den politischen oder sonstwie diskriminierenden Angriffen auf mich oder meine Freunde. Missverständnissen. Gut gemeinten Ratschlägen, die meinem persönlichen Lebensentwurf diametral entgegengesetzt laufen. 


Wie geht Ihr damit um? Meine Oma hätte gesagt, „Jedem Menschen recht getan, ist eine Kunst, die niemand kann.“ Es sei denn, man macht es wie die drei Affen. Nichts hören, nichts sehen, nichts sagen. Aber ist das nicht ziemlich nichtssagend? Oder, man entfreundet alle, die nicht exakt ins Schema passen. Dann hat man eine uniforme, gleichgeschaltete Freundesliste. Posts sind da gar nicht mehr erforderlich. Alle denken dasselbe. Wenig spannend. Langweilig. Uninteressant. Oder? 


Wer weiß einen Ausweg? Hat jemand eine Idee? Gute Vorschläge nehme ich gerne an. So lange sie nicht religiös sind. Politisch korrekt. Nicht irgendwie -phob. Ohne Diskriminierung. Und genderneutral.