( Fortsetzungsroman gefällig? Ich erzähle ja gerne mal Geschichten. Alle 7-10 Tage ist eine Fortsetzung geplant. Den ersten Teil poste ich auf meiner Timeline UND auf den bekannten Adressen, also https://de-de.facebook.com/PeikVolmerAutor/ bei Facebook und www.peik-volmer.com. Ab dem 2. Teil gebe ich auf der Timeline nur noch Hinweise. Sonst muss man so lange herunterscrollen. Im Newsfeed will man sich ja doch lieber mit Neuigkeiten füttern lassen, oder? 

Ich freue mich über Feedback. Begeisterung. Kritik. Und ich hoffe, Euch hier ein wenig unterhalten zu können.

Genannt habe ich das Ganze )


Ich les' ja nicht so gern Mystery. Du etwa?


Und das 1. Kapitel habe ich überschrieben


Der Duft von Chanel No. 5




Es gibt ein Lebensalter, in dem es ganz normal ist, wenn die Menschen um einen herum sterben. Die Großeltern sind meist schon tot, dann folgt ein guter Bekannter, eine Freundin. Ja, und dann sind die Eltern an der Reihe, meist beginnend mit dem Vater. Frauen leben ja, statistisch gesehen, ca. 9 Jahre länger. 


Mein Fall liegt da deutlich anders. Ich war erst 35, als sich der Unfall ereignete. Mama und Papa, Mitte 50 bzw. Anfang 60, erfreuten sich bester Gesundheit. Ich lebte natürlich nicht mehr zu Hause, sondern in einer 80 qm Mietwohnung in derselben norddeutschen Kleinstadt, einen Steinwurf weit vom Haus meiner Eltern entfernt. Das hatte erhebliche Vorteile. Man konnte sich mal eben zum Mittagessen einladen, wenn der Kühlschrank leer und die Lust auf Pizza vom Lieferservice begrenzt waren. Man konnte Mama mit der Bügelwäsche betrauen. Oder Papa bitten, den tropfenden Wasserhahn in der Küche zu reparieren. Oder zu erklären, wo der Haupthahn saß, um, wenn nötig, allenthalben die Wasserzufuhr zu blockieren. 


Die Nachteile lagen in der andauernden Überwachung. Und in der Erwartung der Eltern, dass man sie ständig besuchte, wozu ich, wenn ich nichts brauchte, keine Veranlassung sah. Ich hatte viel zu viel mit meinem Privatleben zu tun. Ich meine: Hallo? 35, und keine feste Freundin? Meine Klassenkameraden waren alle in festen Händen. Verheiratet. Christian und Axel hatten sogar schon Kinder - großer Gott! Man stelle sich vor: Kinder! Diese halslosen kleinen Monster, die Schmutz und Lärm verbreiten, ständig schniefen und von Durchfall und anderen Widrigkeiten geplagt sind. 


Das war der wundeste Punkt. Immer, wenn ich nach Hause kam, begann Mamas Verhör. Es gab einige Variationen, das Thema allerdings blieb gnadenlos gleich. 

Was denn nun sei. 

„Womit denn, Mama?“

Sie starrte mich an, mit diesem Blick, der irgendwo zwischen Unglauben und Unverständnis angesiedelt war.

„Du bist 35, mein Sohn. So langsam wird es Zeit, findest Du nicht?“

„Zeit wofür?“

Erstaunlich, wie weit man die rechte Augenbraue hochziehen konnte. 

„Ich habe kürzlich Frau Münker getroffen. Stefan heiratet nächsten Monat, die Tochter von Bäcker Gräber aus dem Strichweg. Ein Kind soll auch schon unterwegs sein. Was ist bloß los mit Dir?“

„Ach Mama, nix ist mit mir los. Gönne mir doch meine Freiheit!“

Wenn ich diesen Satz von mir gab, sog sie gern hörbar die Luft durch die Nase ein, so dass ein zischendes Geräusch entstand. 

„Freiheit, wenn ich das schon höre! Ich will eine Schwiegertochter. Und Enkelkinder.“

„Hhmmm, das riecht aber gut! Kasseler Rippenspeer, oder? Mit Rosenkohl?“ 

„Jetzt lenk nicht ab! Natürlich mit Rosenkohl!“

„Und Deiner berühmten Speckstippe?“

„Natürlich mit meiner berühmten Speckstippe!“ Sie lachte. „Du glaubst, dass Du mich damit abgelenkt hast. Aber ich komme darauf zurück. Verstanden? So leicht schüttelst Du mich nicht ab!“


Ja, in der Tat. Sie kam darauf zurück. Immer wieder. Wie ein Bluthund. CIA, Stasi oder die spanische Inquisition waren Waisenknaben hinsichtlich Verhörtechniken und -dauer. Meine Mutter vertrat das Prinzip „Good Cop - Bad Cop“ in Personalunion, lenkte mit Kasseler Rippenspeer und Speckstippe ab, um im nächsten Moment über mich herzufallen.

„Sag mal - Du bist doch nicht schwul, oder?“

„Was hat mich verraten? Mein guter Geschmack? Meine Eloquenz? Meine Stilsicherheit? Oder einfach nur mein gutes Aussehen?“

„Dummer Junge!“


Das ist ein weiteres Mysterium in der Eltern-Kind-Beziehung. Man bleibt der ‚dumme Junge‘. Egal, zu welchen Meriten man es im Leben gebracht hat. Ich war immerhin Oberarzt im Stadtkrankenhaus in der Altenwalder Chaussee. Der jüngste Oberarzt, den es dort je gegeben hatte. Und in dem Moment, in dem ich das Haus in der Wissmannstraße betrat, mutierte ich zum ‚dummen Jungen‘. Ich operierte, diagnostizierte, rettete Leben - und blieb trotz allem für meine Mutter ein dummer Junge. Ein Kind. Ein Lausbub, den man nur mal kräftig zusammenstauchen musste, um ihn wieder auf Kurs zu bringen. Ich war sicher, dass sich daran auch nichts ändern würde. Selbst, wenn die Mutter 80, und das Kind 60 war. 


Aber das sollte ich nicht erleben. Es traf mich wie ein Keulenschlag. Mit allem hätte ich gerechnet, aber sicher nicht damit, dass sich mein Leben von einer Sekunde zur anderen ändern würde. 


Der Anruf erreichte mich während einer Visite auf der Station. Die leitende Schwester rief mich heraus. „Da ist Telefon für Dich. Dringend. Kommst Du bitte mal?“ 

Ich kann es überhaupt nicht leiden, wenn ich während der Arbeit gestört werde. Ich bin es gewohnt, mich voll auf meine Tätigkeit zu konzentrieren. Das heißt nicht, dass ich nicht nett und verbindlich mit Menschen rede, aber - Dienst ist Dienst, und Schnaps ist Schnaps, wenn Sie verstehen, was ich meine. Und ein Patientengespräch, auch wenn es dem unerfahrenen Zuhörer entspannt und belanglos erscheinen mag, ist ein professioneller Balance-Akt, der großer Sensibilität und Erfahrung bedarf. 


Aus einem solchen Dialog wurde ich ärgerlicherweise herausgerissen. „Was ist den bloß wieder, Wally? Muss das denn sein?“

„Irgendwas mit Deinen Eltern. Ich glaube, da ist etwas passiert.“

In der Tat. Die Darstellung, die der Diensthabende des zuständigen Reviers mir gab, ging dahin, dass meine Eltern kurz vor dem Erreichen der Autobahn Richtung Bremen mit ihrem Wagen ins Schleudern gekommen und mit überhöhter Geschwindigkeit in eine Gruppe von Straßenbäumen gerast waren. Beide seien schwerverletzt und würden gerade auf die Intensivstation des Stadtkrankenhauses eingeliefert.


In meinem Inneren war da plötzlich ein großes, schwarzes Loch. So, als ob man unterzuckert ist, wissen Sie? So ein flaues Gefühl im Magen. Weiche Knie, Zitternde Hände. Der Schweiß auf meiner Stirn rann in Richtung meiner Augen und begann dort, höllisch zu brennen. Allerdings bin ich als Arzt gewohnt, mit Extremsituationen umzugehen und die Beherrschung nicht zu verlieren.

„Wally, ich bin dann mal auf der Chirurgischen Intensiv!“

Sie nahm mich kurz in den Arm und drückte mich.

„Nimm Dir Zeit. Ich kümmere mich um alles. Und der AiPler kann schon mal die Neuen aufnehmen.“


Papa lag schon in seinem Bett, Mama war noch beim Röntgen, hieß es. Wenn man mir nicht gesagt hätte, dass es sich bei diesem Patienten um meinen Vater handelte, wäre ich an seinem Bett vorbeigelaufen. Das da sollte Papa sein?

 Über einen zentralen Zugang liefen Infusionen, diverse Perfusoren. Er war intubiert, der Monitor zeigte beunruhigende, arrhythmische Kurven. Sein Kopf war mit Binden umwickelt, seine Gesichtshaut wächsern, seine Nase ragte seltsam weiß und spitz über der Ziehharmonika des Beatmungsschlauchs hervor. Das Brillenhämatom verriet mir den Bruch seiner Schädelbasis.

„Ihr Vater, Herr Kollege?“ Der Oberarzt der Chirurgie kümmerte sich persönlich. Ich nickte. 

„Bitte seien Sie sicher: Wir tun alles, was möglich ist. Die Verletzungen sind sehr schwer. Es spricht einiges für einen Nierenstielabriss. Wir müssen aufmachen, der OP ist schon vorbereitet.“


Ich öffnete den Mund. Der Kollege lächelte. „Ich weiß. Kommt gar nicht infrage. In Ihrer emotionalen Verfassung haben Sie im OP nichts zu suchen.“

In diesem Moment klingelte das Telefon. Einer der Pfleger nahm den Anruf entgegen. „Ist gut, ich sag Bescheid!“ Er stellte das Mobiltelefon zurück in die Ladestation. „Wir haben ein freies Bett! Die angekündigte Patientin braucht es nicht mehr!“


Ich stand im Wohnzimmer des Hauses in der Wissmannstraße 14 b. Mamas Patience-Karten lagen, säuberlich aufgeschichtet, in einem kleinen Stapel auf ihrem Teetisch, neben dem Stövchen, und dem kleinen, in rotes Leder gebundenen Band mit Gedichten von Goethe. In Gold geprägt darauf der Titel, „An meine Mutter“. 

In der Küche befand sich das Frühstücksgeschirr bereits in der Spülmaschine. Offenbar hatten sie nicht vorgehabt, lange fortzubleiben. Mama hatte eine Plastikdose mit der Aufschrift ‚Gulasch‘ aus der Tiefkühltruhe genommen und sie zum Auftauen auf den Ablauf des Waschbeckens gestellt.


Die Betten waren penibel gemacht, aufgeschüttelt, glattgestrichen. An der Wand ein Bild, das ich als Kind gemalt hatte. Menschen im Schwimmbad. Überwiegend blau. Durchbrochen von ein paar orangefarbenen Ovalen. Papa, dem ich das Werk geschenkt hatte, hatte es rahmen lassen, mir aber nahegelegt, der Eingebung einer künstlerischen Laufbahn besser nicht näher zu treten. Was ich, ehrlich gesagt, nicht verstand. Im Werkunterricht in der Schule fertigte ich ununterbrochen Weihnachtsgeschenke für die Familie, die deutlich über dem Niveau von mit Goldbronze gestrichenen Walnussschalen als Kerzenhalter lagen. Ich gebe zu, dass meine Keramik-Aschenbecher ziemlich sinnlos waren, da niemand in meiner Familie rauchte, aber die tönernen Vasen und der Saftkrug mit drei passend glasierten Bechern, und die Brieföffner aus Holz wurden mit genau so viel Begeisterung angenommen, wie nötig war, um eine zarte Kinderseele nicht zu verletzen.


Alles wirkte aufgeräumt, wie immer. Allerdings so, als würde im nächsten Moment das vertraute Geräusch von Schlüsseln ertönen, die, sich im Schloss drehend, die Haustür öffneten. Mama würde hereinkommen und schimpfen, ach Junge, warum sagst Du nicht einen Tag vorher, dass Du kommst, dann hätte ich doch Rouladen gemacht, die hast Du doch so gerne, Du weißt schon. Mit Speck, Zwiebel und Gurke, und reichlich Senf! Und Papa würde mich strafend ansehen, und fragen, Du hier? Um diese Zeit? Bist Du gefeuert worden? Um dann in lautes Lachen auszubrechen, mir auf die Schulter zu klopfen und mich in den Garten zu schleppen, um mir das neue Staudenbeet zu zeigen, dass er angelegt hatte. Er liebte Lupinen.


Aber heute blieb alles still. 


Es gab so viel zu tun. Der ganze bürokratische Kram wie Totenscheine und Erbschein, Verhöre durch die Polizei - unfallbedingt -, Konferenzen mit dem Bestatter, und dann musste das Haus ausgeräumt werden. Mangels weiterer Verwandter konnte ich davon ausgehen, Alleinerbe zu sein. Und als solcher würde ich das Anwesen verkaufen. Die Kleidung und Haushaltsgegenstände sowie Mobiliar konnte man spenden. Ich würde nur ein paar persönliche Gegenstände behalten, besonders die überreich verzierte Kaffeekanne aus Meißener Porzellan. Papiere. Mamas Schmuck. Einige Schallplatten, CD's und Bücher. Das Klavier? Nein, auf keinen Fall. Beim Gedanken an meine Klavierstunden lief es mir kalt den Rücken herunter. Und über den Fröhlichen Landmann oder Für Elise war ich nie wirklich herausgekommen. Und Czerny-Etüden. Grauenvoll.


Wo bewahrte Mama bloß die ganzen Papiere auf? In dem Raum, der großspurig als „Arbeitszimmer“ bezeichnet wurde, wegen des Sekretärs mit der hochklappendem Schreibplatte, fanden sich Terminkalender, Briefpapier, Glückwunsch- und Grußkarten, von denen Mama immer einen Vorrat hortete, um im Zweifelsfall gerüstet zu sein. In den Regalen Bildbände, Potsdam, Schloss Sanssouci, Die Sixtinische Kapelle, der Petersdom, Ausstellungskataloge von der Fundacio Miró, Toulouse-Lautrec in Paris, Turner - Watercolours. 


Im Schlafzimmer untersuchte ich den Kleiderschrank. Auf Papas Seite lagen, säuberlich und fabrikneu verpackt, etliche Oberhemden. Mama hatte ununterbrochen neue Hemden gekauft, das Alte ist schon so abgeschabt, am Kragen, das kannst Du nicht mehr anziehen! Die Leute reden! Schau Dir bloß die Manschetten an. Das geht nicht. Das fällt alles auf mich zurück! 

Papa hatte sie gewähren lassen, das neue Hemd bestaunt und war am nächsten Tag wieder in das gewohnte, Rostrote geschlüpft.


Beim Öffnen von Mamas Seite schlug mir ein ohrenbetäubender Duft von Chanel No. 5 entgegen. Ganz unten, verdeckt von ordentlich auf Bügeln hängenden Hosen, Kleidern, Mänteln, fand ich sie. Na also. Eine Holzkiste, etwas größer als ein Schuhkarton. Metallene Beschläge an den Kanten, ein Schloß, in dem allerdings der dazugehörige Schlüssel steckte. 


Ich musste lachen. Was sie da nur alles aufbewahrt hatte! Ihren Mutterpass. Impfbescheinigungen! Sogar meine Approbationsurkunde, meine Facharztbescheinigung und die Doktoratsurkunde, die ich ihr als Kopien überreicht hatte, um ihr mit meinen Erfolgen eine Freude zu machen, lagen hier. 


Unterlagen der Eheschließung meiner Eltern. Meine Geburtsurkunde. Versicherungspolicen. Sparbücher. Das war’s. 

War’s das? Ich drehte die Kiste um und schüttelte sie. Ein Blatt fiel heraus, überschrieben mit dem Wort „Sterbeurkunde“. Mir wurde zum 2. Mal an diesem Tag schwindelig und schwarz vor Augen.  Da stand zu meinem Erstaunen mein Name, mein Geburtsdatum und ein weiteres Datum, demzufolge ich etwas mehr als 4 Jahre nach meiner Geburt gestorben war. 



( Wirklich eigenartig. Wenn ich von Amts wegen erführe, so mit Dienstsiegel und Unterschrift, dass ich nicht mehr am Leben bin, wäre ich zumindest überrascht. Die Frage, wer oder was ich bin, sollte beantwortet werden. Vielleicht im 2. Kapitel? 
Das habe ich überschrieben: )

Gut dreißig Jahre tot


Ich hatte mich, die Dokumente umklammert, in einen dieser fürchterlichen, mit hellem Cordstoff bezogenen Sessel fallen lassen. Aha. Ich war also seit längerem nicht mehr am Leben. Komisch. Dafür fühlte ich mich doch recht wohl. Wo hatte meine Mutter bloß die Fotoalben aufbewahrt, die sie seit meiner Geburt akribisch geführt hatte, mit Fotos, gepressten Blumen, fremden Banknoten garniert. Was hatte sie nicht alles aufbewahrt: Meine ersten Schulhefte. Zeichnungen. Eine Urkunde von den Bundesjugendspielen - die einzige, die ich je errungen hatte. Sie hatte mit der Sammlung mich betreffender Memorabilia erst am Ende meiner Schulzeit aufgehört. 


Mich betreffend? Wer war denn - ‚mich‘? Wer war ich? Ich konnte doch gar nicht das Kind dieser Eltern sein. Vermutlich war dieses Kind im Alter von 4 Jahren und 7 Monaten einer schweren Krankheit, einem Unfall erlegen, und zur Kompensation des Verlustes hatten sie ein Kind adoptiert. Dieses Kind war in die Rolle des verstorbenen Vorgängers geschlüpft, hatte dessen Kleidung, Spielzeug, Namen, Rolle übernommen. Ja, so musste es gewesen sein. Anders war es zumindest nicht vorstellbar. Oder?


Ich lachte so laut auf, dass, hätte mich jemand dabei beobachtet, dieser geglaubt hätte, dass ich nicht ganz bei Trost wäre. Ich hatte vor kurzem einen Spielfilm gesehen, in dem einige Personen glaubten, reale Menschen zu sein, in Wirklichkeit jedoch Geister waren, die die realen Menschen für Geister hielten. Ein wenig gruselig. Mit Überraschungseffekt am Schluß. 


War ich ein Geist? Konnte es sein, dass ich gar nicht existierte? Dass sich mein Tun, meine Aktivitäten nur in meiner Vorstellung abspielten? Haben Geister überhaupt so etwas wie Fantasie? Hatten sie ein Spiegelbild? Konnten sie Materie bewegen? Physischen Schmerz empfinden? Konnte ein Gespenst sich selbst als Gespenst wahrnehmen?


Die Medizin, der ich ja beruflich verhaftet war, erklärte das Erspähen von Gespenstern als Psychose oder wenigstens als Halluzination durch Fehlverarbeitung von Sinnesreizen im Gehirn. Aber das galt ja nur für die, die von der Existenz von Gespenstern aufgrund irgendeiner Sichtung überzeugt waren. War ich, angenommen, ich wäre ein Geist, ein feinstoffliches Gebilde, zu einer derartigen Selbstwahrnehmung in der Lage? 


Ich betrat das Badezimmer und betrachtete nachdenklich mein Spiegelbild. Mit dem Zeigefinger bohrte ich auf meiner Stirn und in meinen Wangen herum. Ich betastete die Narbe an der linken Augenbraue. Schließlich ergriff ich die kleine Nagelschere meiner Mutter und stach mir deren Spitze mit Todesverachtung in die Kuppe des linken Zeigefingers.


„Autsch!“


Komisch. Der Anblick von Blut sollte für einen Arzt nichts Ungewöhnliches sein, nicht wahr? Der Anblick meines eigenen Bluts, das sich als dunkelroter, sich rasch vergrößernder Tropfen auf der Fingerspitze zeigte, verursachte mir Übelkeit. Übelkeit und, zugegeben, Erleichterung. Geister bluteten nicht. Meine Überlegungen waren abstrus. Unlogisch. Idiotisch. Aber man bekommt ja nicht jeden Tag eine amtliche Bestätigung darüber, dass man gar nicht mehr am Leben ist. Bitte korrigieren Sie mich, wenn ich falsch liege.


Wo mochte Mama die Alben aufbewahrt haben?


Ich machte mich auf die Suche. Bücherregal? Fehlanzeige. Unten im Sekretär? Nichts. 


Als nächstes musste der Wohnzimmerschrank herhalten, aber auch er schwieg sich über das Geheimnis meiner Existenz aus. 


Auf dem Flur stand eine Truhe aus Campherholz. Mama bewahrte darin zwei Pelzjacken auf, die sie ohnehin nicht mehr trug. Ich erinnerte mich daran, dass diese Truhe, wann immer das Wetter sich änderte, des Nachts unheimliche, knarrende Geräusche von sich gab. Beim Hochklappen des Deckels entwich der stechende, an Eukalyptus erinnernde Geruch des Holzes. Mama mit ihren dämlichen Pelzjacken. Nerz und Persianer. Sie hatte sich von dem Mist nicht trennen können. Darunter lagen sie. 10 große Fotoalben. Das Erste mit einem bräunlichen Leineneinband, der schon etwas zerschlissen war. Und Motiven aus dem Struwwelpeter. Das Album endete mit meinem 3. Geburtstag. Mit gespannter Aufregung öffnete ich den 2. Band. Braunes Kunstleder. Ich blätterte. 4. Geburtstag. 5. Geburtstag. Der Skiurlaub in Südtirol. Fotos von Oma beim Einkochen. Der 1. Schultag. Kein Wort von Todesfällen, Adoptionen und dergleichen. Ich betrachtete die Fotos genau. Es konnte kein Zweifel bestehen. Bei dem Vierjährigen und dem Fünfjährigen handelte es sich um dasselbe Kind. Man sah eine Verletzung an der linken Augenbraue, die ich mir durch den dummen Sturz zugezogen hatte, deutlich auf allen Fotos. Die Narbe, die ich noch eben untersucht hatte.


Ich beförderte die Alben in den Kofferraum meines Wagens, und machte mich auf den Heimweg. Wer konnte mir Auskunft über meinen Tod geben? Wo war ich gestorben? Im Stadtkrankenhaus wohlmöglich? Ich musste versuchen, im Archiv die Akte zu finden.

Zudem war ich getauft, am Geburtstag meiner Mutter. Ich selbst war am 12. April 1982 geboren, meine Taufe fand am 6. Oktober desselben Jahres statt. Mit diesen Angaben würde ich im Kirchenbüro vorstellig werden. Wenn dort Eintragungen über meine Geburt zu finden waren, musste auch etwas über mein Ableben notiert sein. Vielleicht sogar über meine Beisetzung, und meine Grabstätte. 


Das Telefon klingelte. Ich hörte es durch die geschlossene Wohnungstür, die ich jetzt hastig aufzuschließen versuchte, was nicht ganz einfach war. Immerhin hatte ich die schweren Taschen mit den Fotoalben nach oben geschleppt. Meine Finger waren davon etwas unbeweglich geworden, weil die Plastikgriffe sich in das Fleisch eingegraben und die Nerven und Blutgefäße in ihrer Funktion behindert hatten. Ich ließ die Taschen auf den Boden fallen, stieß die Tür mit dem Fuß zu und hechtete an den Apparat. 


„Bitte? Ja, der bin ich. - Um wieviel Uhr, denn? Wissen Sie, ich bin berufstätig, und ich müsste - ach so. Und es besteht kein Zweifel?“

Ich konnte kaum glauben, was der Beamte der Kripo da andeutete.

„Dann glauben Sie, dass es - Mord war?“


Die Geschichte begann, meine Vorstellungskraft arg zu strapazieren. Meine Familie war ausgelöscht, und das Ganze, wie mir auf dem Polizeirevier versichert wurde, war auf eine derart unoriginelle Weise passiert, dass kein Krimi-Autor das in seinem Plot verwenden würde. Sie ahnen es? Die Bremsen waren manipuliert worden. Bitte. Ist doch blöd, oder? Was ich weniger witzig fand, war, dass der mit mir sprechende Beamte plötzlich zum mich verhörenden Beamten mutierte. Ich sah mich plötzlich in der Situation, mich rechtfertigen zu müssen dafür, dass ich niemanden benennen konnte, der in der Lage war, zu bezeugen, dass ich am Tag vor dem Unfall brav zu Hause irgendeine Comedy-Sendung angesehen hatte. Wer ahnt denn auch sowas? Ich erinnerte mich an amerikanische Fernsehserien. 


„Ich sage nichts mehr ohne meinen Anwalt!“ 


Hätten Sie das auch so gemacht? Ich meine, waren sie schon einmal Verdächtiger in einer derartigen Untersuchung? Ein Patient hat mich einmal verklagt, weil er der Auffassung war, dass ich mich eines Kunstfehlers schuldig gemacht hätte. Unnötig zu sagen, dass dem nicht so war. Aber als Mordverdächtiger? Noch dazu bei einem Mord an den eigenen Eltern? 


Wobei - wer sagte mir denn, dass es sich um meine Eltern handelte? Ich konnte doch, wie schon gesagt, genauso gut adoptiert sein. Vielleicht sah ich dem verblichenen fast Fünfjährigen einfach nur sehr ähnlich. Ich musste nachher noch einmal die Bilder meiner Eltern - wenn sie es denn waren - genau ansehen. Es gab immer mal Bekannte, Verwandte, Freunde, die in Jubelschreie ausbrachen, „nein, der Junge! Der ist Euch ja wie aus dem Gesicht geschnitten!“ oder, kumpelhaft meinem Vater auf die Schulter klopften, „na, bei dem Jungen kannst Du die Vaterschaft aber auch nicht abstreiten!“


Aber was sagt man nicht alles so dahin? Vielleicht wollten sie meinen Eltern auch eine Freude machen? Wie man manchmal bei einem frischgeborenen Säugling sagt, Gott, ist der aber niedlich, um die Eltern zu beruhigen. Dabei ähnelt das schrumpelige Gebilde eher einem deformierten Pinselohr-Affen. Aber kann man das einer Mutter antun, nach über neun Monaten Schwangerschaft?


Mir war der Mord an meinen Eltern unterstellt worden. Was tut ein guter Mordermittler? Er fragt nach dem Motiv. 


Nicht wahr, da staunen Sie! Aber das Fernsehen bildet wirklich fort. Navy CIS, Rizzoli und Isles, Soko Wasweißichwo ... na gut. Was aber sollte denn mein Motiv sein? Außer, dass meine Mutter mir mit ihrer manipulativen Überfürsorglichkeit immer wieder auf die Nerven ging? Mein Vater hielt sich aus allem heraus, was vermutlich das Weiseste war, was er tun konnte. Ich hätte mir allerdings gewünscht, dass er nur einmal auf meiner Seite gestanden hätte. Nur einmal. Offen gegen meine Mutter aufbegehrend. Ich vergesse nie den Tag meines mündlichen Abiturs, an dem ich versuchte, meine Zensur in Deutsch zu verbessern, was mir allerdings durch einen böswilligen Trick meines Lehrers  versagt wurde. Als ich heimkam, stürzte sie mir entgegen, mich fragend ansehend. Ich schüttelte den Kopf. Tränen der Verbitterung schossen ihr in die Augen. Hatte der undankbare Sohn wohlmöglich nicht genug gekämpft? Immer hatte sie alles aufgegeben, nur damit der Junge ein besseres Leben führen konnte, und so dankte er es jetzt. 


Mein Vater kam in mein Zimmer, einen Geldschein in der Hand. „Gratuliere zum Super-Abitur.“ Drückte mir den Schein in die Hand, und verschwand. Nicht vor seiner Gattin, wohlgemerkt. Damit hätte er ja gegen sie für mich Partei ergriffen. 


Aber all das reichte nicht aus, um sie umzubringen, oder? Ich habe meine Blessuren davongetragen, sicher. Aber ich bin kein Psychopath. Kein Soziopath. 


Es hatte keinen Sinn mehr, heute noch in die Klinik zu fahren. Gleich morgen würde ich nach den Operationen ins Archiv gehen, und einen Termin mit Pastor Speckmann von der Petri-Kirche vereinbaren. Irgendeinen Hinweis musste es doch geben, entweder in der Krankenakte meiner Mutter, oder im Tauf- und Geburtenregister der Gemeinde.

 

Ich war höchst erstaunt, dass die Tür zu meiner Wohnung einen Spalt offen stand. Ich weiß genau, dass ich am Morgen abgeschlossen hatte. Ich verlasse die Wohnung nie, ohne die Fenster verriegelt, den Herd kontrolliert und das Licht ausgeschaltet zu haben, wobei ich, einem kleinen Ritual gleich, jeden Lichtschalter 4 Mal an- und wieder ausknipse. 


Einen Moment blieb ich reglos stehen. Ich hörte Stimmen. Eine Männliche, einer Weibliche. 

„Ich habe Dir gesagt, dass das eine Nummer zu groß für Dich ist!“

„Du dumme Schlampe! Wenn Du Schiss hast, dann hau doch ab!“

„Ohne mich bist Du doch völlig aufgeschmissen!“

„Ey, Du bist einfach nur billig!“

„Komm mal klar mit Deinem Leben!“

„Scheiße, die Bullen!“ 


Das Martinshorn war zu hören. Leise zunächst, dann immer lauter.

Es polterte heftig. Hastige Schritte. Glas zerbrach.


„Los, lass uns abhauen!“


Jeden Moment mussten die beiden die Tür aufstoßen und auf den Hausflur rennen, um der Polizei zu entkommen. Ich ging in Deckung. Ich war mir der Gefahr bewußt.

Als sich nach einigen Minuten nichts tat, schaute ich hinter dem Treppenabsatz hervor.


Erneut Stimmen aus meiner Wohnung. Zwei Männerstimmen diesmal, die sich kurze Kommandos zuriefen. Langsam dämmerte es mir. Vorsichtig stieß ich die Tür vollends auf und betrat den Flur. Die Einbrecher hatten ganze Arbeit geleistet. Jeder Schrank war geöffnet, alles, was sich wohlgeordnet in ihnen befunden hatte, war auf dem Boden verteilt worden. Die Matratze meines Bettes sowie die Polster des Sessels und Sofas waren aufgeschlitzt worden. Der Fernseher lief in voller Lautstärke. 


In der Mitte des Wohnzimmers befand sich ein Glasgefäß auf dem Boden. Ein rundes Glas mit einer klaren, gelblichen Flüssigkeit, dessen Inhalt mich mit Entsetzen erfüllte.



( So langsam wird es Zeit, dass ich mal mit der Fortsetzungsgeschichte weitermache. Auch, wenn ich mit ihr nicht jeden Leser da abhole, wo er steht, nicht wahr, Claudia? Sie erinnern sich? Nein, es handelt sich NICHT UM EIN BUCH! 😄 Meine Eltern sind tödlich verunglückt, und ich entdecke ein Dokument, demzufolge ich seit 30 Jahren tot bin. Jemand ist bei mir eingebrochen, und mitten im Zimmer steht dieses eigenartige Glas auf dem Boden ... ) 


Krabbencurry und ein Mord


Es erinnerte in fataler Weise an die Marmeladengläser meiner Großmutter, Quitten-, Birnen-, oder Apfelgelee. O Gott, wie habe ich das Zeug gehaßt! Nicht, weil ich Marmelade nicht mochte. Aber Oma warf immer etwas Zimt und eine von diesen ekelhaften Gewürznelken hinein. Und genau diese Aromen lagen jetzt und hier in der Luft. In der bernsteinfarbenen, zähen Flüssigkeit schwebte ein geflügeltes Insekt. 


Kennen Sie das auch? Man sieht etwas. Man riecht, hört oder schmeckt etwas. Ein typisch geformtes Glas. Den Duft frisch zubereiteten Kaffees oder gemähten Heus, das in der Sonne trocknet. Den Klang von Kirchenglocken. Déjà-vu. Irgendwie fühlt man sich an etwas erinnert, aber die betreffende Sache oder der Zusammenhang führen einen gelegentlich nur in die Nähe der Erinnerung, nicht ans Ziel. 


In diesem Fall ergriff ein ungutes Gefühl Besitz von mir. Das Gefühl von Enge, Angst, Ekel. Ich wußte nicht, ob meine Beklemmung daher rührte, dass ganz offenbar Menschen ohne mein Einverständnis in meinen intimsten Lebensbereich eingedrungen waren. Dass sie einen nicht unerheblichen Sachschaden verursacht hatten. Oder, dass ich dem Geheimnis meines frühen Todes noch nicht einmal ansatzweise auf die Spur gekommen war? Und auch nicht dem Ableben meiner Eltern, an dem man mir die Schuld gegeben hatte? Das Atmen fiel mir schwer. Ich fühlte mich wie bei einem Herzinfarkt. Ein unsichtbarer Gürtel zog sich über meinem Brustkorb zusammen.


Ich erholte mich schnell. Nachdenklich machte ich mich daran, das, was zerstört worden war, in großen, blauen Plastik-Müllsäcken zu verstauen. Komisch. Jeder, der in einer Klinik arbeitet, hat diese Müllsäcke zu Hause. Und Leukosilk-Pflaster, um sie zu verschließen. 


Wehmütig dachte ich an die schöne Zeit in der Uniklinik zurück. Wenn man dort etwas Archiviertes suchte, füllte man ein entsprechendes Formular aus, und fand nach ca. 3 Stunden in seinem Fach eine dezente Papiertüte mit Mikrofiches. Dann brauchte man nur noch ein Lesegerät, und konnte die gewünschten Inhalte darstellen. 


Das Stadtkrankenhaus war im Vergleich zum Klinikum winzig. Eine regelrechte „Klitsche“, wie man gern abfällig äußerte. Entsprechend war auch das „Archiv“ ein Kellerraum, in welchem sich mit Patientenakten gefüllte Kartons befanden. Originellerweise lag das Archiv genau neben dem Leichenkeller, in dem sich vermutlich noch meine Eltern befanden und auf die Abholung durch den Bestatter warteten. 


Das Öffnen der Tür verursachte eine Staubwolke. Ich hustete.  


Die Beschriftung der Kartons war schwer zu erkennen. Im Laufe der Zeit war die Schrift verblasst, und die Schmutzschicht erschwerte mir das Auffinden der Jahrgänge. Das heißt, mein Geburtsjahr, 1982, war deutlich zu lesen. Irgendjemand hatte das Schild vor Kurzem gesucht. Der Kasten mit dem Zeichen „4/82“ war offensichtlich vor kurzem geöffnet worden. Da lag die Akte meiner Mutter mit dem gynäkologisch-geburtshilflichen Bericht. Gesunder Knabe. 50 cm lang, 2950 g schwer. Sectio. Und das war auch schon alles. Ein paar Blutwerte, wenig Untersuchungsbefunde. Es fehlten der Bericht über die Kaiserschnitt-Entbindung sowie der Bericht über den Neugeborenen-Status, außerdem das Anästhesie-Protokoll. Nirgendwo war auch nur ein Medikament notiert.


Ich war also kein Zwilling, so viel war den vorhandenen Unterlagen entnehmen. Gesicherte Erkenntnisse konnte ich nicht gewinnen. Es existierte auch kein Hinweis auf eine Erkrankung, die mich bereits zum Zeitpunkt meiner Geburt für einen frühen Tod hätte prädestinieren können. Was noch geschehen war, an diesem 12. April, war nirgendwo notiert. 

Naja. Vermutlich war es vermerkt, aber irgendjemand hatte die Unterlagen entfernt, und wohlmöglich vernichtet. 


Ich hatte mit Pastor Speckmann einen Termin vereinbart, um das Tauf- und Sterberegister einsehen zu können. Ich hasste es, unpünktlich zu sein, deswegen musste ich mich sputen, um im Feierabendverkehr von Stadtkrankenhaus in die Petri-Kirche zu gelangen. 


Was war das? Bereits am Lichtenbergplatz in Höhe der Kaiser-Apotheke fielen mir in den Scheiben der Fenster zuckende, blaue Lichtreflexe auf. Auf dem Platz vor der Kirche standen etliche Polizeiwagen, der Notarzt- und ein Krankenwagen. Ich sprang aus meinem Wagen. „Bitte lassen Sie mich vorbei. Ich bin Arzt!“ 

Ich liebte es, diesen Satz zu sagen. Er verlieh mir Bedeutung, Würde, Wichtigkeit und verschaffte mir Respekt, der mir ohne Titel nie entgegengebracht worden wäre. Ein uniformierter Mann in Grün stellte sich mir entgegen. „Ey, lass den mal durch, der ist Arzt!“ 

„Den braucht DER nicht mehr“, behauptete sein Kollege. 


Die Einschussstelle an Pastor Speckmanns rechter Schläfe wies erhebliche Schmauchspuren auf. Der Schuss musste aus nächster Nähe abgefeuert worden sein. Frau Neugebauer, die Sekretärin, hatte sich bei der Rückkehr aus ihrer Kaffeepause versichern wollen, dass der Pastor seinen Termin mit mir nicht vergessen, und dass sie die Folianten mit den betreffenden Einträgen bereits vorbereitet hatte. 

„Die Jahrgänge 1982 sowie 1986“, schluchzte sie. Tränen tropften auf ihren grauen Pullover, dessen Kunstfasern allerdings ein Nasswerden verhinderten. „Wer macht so etwas, in unserer beschaulichen, kleinen Stadt? Können Sie mir das erklären? Wer macht so etwas bloß? In Bremen, na gut. In Hamburg, sowieso. Aber hier?“ 


„Sind Sie denn sicher, dass Pastor Speckmann nicht vielleicht selbst ...?“

„Diesen Gedanken schlagen Sie sich mal gleich aus dem Kopf! Ein Mann Gottes! Selbstmord! Na so was! Völlig ausgeschlossen!“ Empörung hatte von Frau Neugebauers Stimme Besitz ergriffen.


Sie versenkte ihre rote Nase in einem Papiertaschentuch. Das Geräusch, das ertönte, klang unaufdringlich, mehr wie ein Zischen. „Hilft es Ihnen, Herr Doktor, wenn Sie allein in die Register schauen? Moment, ich hole mal die Bücher. Die Polizei hat mir eingeschärft, dass das Nebenzimmer ein Tatort ist und dass ich nichts anfassen soll!“ Mit fahrigen Fingern ordnete sie sich die Haare, wischte sich mit den Handrücken über die Augen. Sie hastete in das Büro von Pastor Speckmann und kehrte mit den beiden, in ihren Armen riesig wirkenden Büchern zurück. 

„Hier, ich habe sogar Lesezeichen hineingelegt!“ Ihre Stimme klang trotzig, als sei sie entschlossen, ihre Pflicht unnachgiebig zu erfüllen, egal unter welchen Umständen. 


Wer auch immer dem Leben des Seelenhirten ein Ende gesetzt hatte - er ( oder vielleicht auch sie ) hatte ganze Arbeit geleistet. Die Seiten fehlten. Dank der Lesezeichen hatte der Täter nicht so lange suchen müssen, nach dem, was wichtig war. 


In diesem Moment wurde mir klar, dass auch die beiden Bücher zum Tatort gehörten, und dass nunmehr auch meine Fingerabdrücke auf den Einbänden und den verbliebenen Seiten zu finden waren. 


„Mein Gott, sind Sie dämlich“, schimpfte der Polizeibeamte, dem ich meine leichtsinnige Aktion beichtete. „Falls der Täter, und davon ist auszugehen, Handschuhe getragen hat, sind nur noch Ihre Fingerabdrücke, die des Geistlichen und der Sekretärin zu finden. Was glauben Sie, was für Schlüsse wir daraus ziehen werden?“ 

„Aber ich habe doch ein Alibi! Ich war zur Tatzeit vermutlich noch in der Klinik!“ 

„Das werden wir sehen!“ Es klang sie eine Drohung.

Und in seinen Bart murmelte er, „Akademiker, aha. Auch noch mit Doktortitel. Blöder geht es ja nicht! Was lernt man eigentlich an der Uni?“


Was für ein Tag! Ich entwickelte einen enormen Appetit. Ob Mama ihre Gewohnheit, große Mengen zu kochen und portionsweise einzufrieren, beibehalten hatte? Das Gulasch, das sie am Tag ihres Todes zum Auftauen herausgenommen hatte, war natürlich ungenießbar geworden. Ein Blick in die Tiefkühltruhe überzeugte mich davon, dass Ihr Organisationstalent bis zu ihrem letzten Tag ungebrochen war. 


Fein säuberlich, mit rotem Wachsstift beschriftet, fand ich die Plastikdosen, in Reih' und Glied, über ein paar Metalldosen aufgestapelt, die Älteren vorn, die Neueren hinten. Ich entschied mich für das Krabbencurry mit dem Datum vom 1. August 2017. Papas Geburtstag. Da hatte sie zur Feier des Tages bestimmt extra viel Krabben und eine große Portion Mango-Chutney hineingetan. Irgendwo musste doch auch noch so ein Kochbeutel-Reis herumstehen. Dort. 10 Minuten. So lange würde das Curry in der Mikrowelle auch benötigen.


Ich war gerade dabei, den Beutel mit dem Reis aus dem kochenden Wasser zu angeln, als das Telefon klingelte. 


„Ja bitte?“

Der Anrufer schien nicht damit gerechnet zu haben, dass jemand den Anruf entgegen nahm. Ich konnte deutlich die Atemzüge hören. Es vergingen einige Minuten. „Hallo? Schweigen widerspricht dem Sinn eines Telefons. So reden Sie endlich!“


‚PING‘, machte in diesem Moment die Mikrowelle. Und der Anrufer hatte aufgelegt. 


Ich beschloss, den kurzen Weg zwischen meinem designierten Ex-Elternhaus und meiner Wohnung zu Fuß hinter mich zu bringen. Den Wagen würde ich stehenlassen. Etwas Bewegung würde mir guttun. Die Dämmerung war hereingebrochen. Sonst liebte ich die Romantik der „blauen Stunde“. Heute allerdings war es kühl, und ich zog mein Jackett fest an meinem Oberkörper zusammen. Eine dunkle Gestalt tauchte auf der anderen Straßenseite auf. Jemand in einem kurzen Mantel, und mit einem Filzhut. Ein Mann, von seinen Bewegungen und seiner Statur her. Mehr konnte ich nicht erkennen, die Straßenlaternen waren noch nicht angesprungen. 


Ich verlangsamte meinen Schritt unwillkürlich. Ich war ganz dankbar, dass der Fremde sich auf der anderen Seite vorwärts bewegte. Man kann ja nie wissen, heutzutage. Ich bin nicht sonderlich furchtsam, aber nach dem, was ich heute so erlebt hatte, war ich doch etwas dünnhäutiger geworden. Was, wenn das der Mörder des unglücklichen Pastors war? 


Plötzlich hielt der Mann kurz inne, und kam schnellen Schritts direkt auf mich zu. Ich erstarrte. Panik ergriff mich. Für Flucht war es zu spät. Er hätte mich mühelos einholen können. In diesem Moment flackerte die Laterne auf und tauchte die Szene in ein grelles Licht. Das Gesicht des Fremden war schneeweiß. Schmale dunkle Augen. Er starrte mich an, erschrocken, bildete ich mir ein. Öffnete den Mund. Ein überraschtes Geräusch. Er machte ein, zwei Schritte zurück, blieb stehen. Plötzlich rannte er los, in die Richtung, aus der er gekommen war.


Er hat die Antwort, schoss es mir durch den Kopf. Er hat die Antwort auf meine Fragen. Er weiß, dass ich tot bin. Er weiß, warum ich tot bin. Er war vielleicht meine einzige Chance. Ich musste mit ihm reden. 


Ich rannte in dieselbe Richtung, die er für seine Flucht gewählt hatte. Es lag ein Aroma in der Luft, billiges Rasierwasser, Schweiß, eine Pheromon-Mischung, der ich folgen könnte wie ein Bluthund. Ich nahm sein Keuchen wahr, immer lauter. Er war stehengeblieben, der Oberkörper vornübergebeugt, die Hände auf die Oberschenkel gestützt. Er rang nach Luft. Er bemerkte mich, und wich zurück. 


„Bitte“, schnaufte ich, „wir müssen reden. Kennen Sie mich?“ 

Er nickte. „Erinnern Sie sich nicht? Wir kennen Sie alle!“

„Wie - uns alle? Und wer ist wir?“

„Die komplette Produktion!“


Ich verstand nichts. Was für eine Produktion meinte er? 


Plötzlich ertönten Schritte, die sich hastig näherten. Ein Mann, mit einem kurzen Mantel, und einem Filzhut. Sein Gesicht, aus dem zwei dunkle, schmale Augen mich ansahen, leuchtete schneeweiß. Er glich dem Ersten aufs Haar .... 




( „Wir müssen reden“, hatte der eine Mann mit dem Filzhut gesagt. Was lag näher, als ihn mit seinem Doppelgänger in meine nahegelegenen Wohnung zu bitten? Im Restaurant oder Café weiß man ja auch nicht, ob man ungestört ist, oder die Dame am Nebentisch, die so betont unauffällig ihr Kreuzworträtsel löst oder in ihrem Krimi schmökert, nicht doch sämtliche Ohren wie Richtmikrofone auf unseren Tisch gerichtet hat. 
So, hier ist endlich die Fortsetzung der eigenartigen Geschichte, die den Titel trägt: )

Pathologin mit Humor


Verblüfft blickte ich vom einen zum anderen. „Spätestens jetzt müssten Sie wissen“, sagte Filzhut Nr. 2, „was los ist.“

„Du verlangst zu viel“, beschwichtigte ihn Nr. 1. „Denk daran: Wir haben auch gebraucht, bis wir die Wahrheit herausfanden!“

„Entschuldigung, aber wäre einer der Herren vielleicht so freundlich, mir zu erläutern, wovon Sie sprechen? WAS müsste ich wissen, und warum?“ 


Die beiden sahen sich nervös um. Wie Tiere, die in einer Falle saßen. „Wir reden, aber nicht hier. Sie wohnen doch hier in der Nähe. Gehen wir zu Ihnen!“ 

Ich ersparte mir die Frage, woher die beiden Zwillinge das wussten. Meine Wohnung lag tatsächlich nur wenige Schritte entfernt, und so wenig es mir behagte, wildfremde Menschen in meine Behausung zu lassen, so neugierig war ich, endlich hinter das Geheimnis unserer Existenz und meines ach so frühen Ablebens zu kommen. 


„Möchten Sie etwas trinken?“ Mama wäre stolz auf mich gewesen, dachte ich grinsend. Eine unwägbare Situation, und trotzdem blieb ich kühl, gefasst, perfekt. Ganz Herr der Lage. Jetzt war ich Gastgeber. 

„Haben Sie ein Wasser?“


Ich nahm das Mineralwasser aus dem Kühlschrank, goss zwei Gläser ein und stellte diese vor meine Gäste. „Bitteschön!“ 

Beide Herren griffen nach den Gläsern und tranken. Was dann geschah, hatte ich nicht erwartet. Es dauerte nur wenige Sekunden, und es ging so schnell, dass mir keine Zeit blieb, adäquate Maßnahmen zu ergreifen. 

Nr. 1 riss entsetzt die Augen auf. Er sprang aus dem Sessel, auf den er sich hatte fallen lassen, auf, griff sich an den Hals, röchelte. Schaum trat ihm aus Mund und Nase. Zeitgleich verdrehte Nr. 2 die Augen. Keuchend streckte er die Hand in meine Richtung, als erwartete er Hilfe. Dann hustete auch er blutigen Schleim und Schaum hervor. 


Ich betrachtete für ein paar Zehntelsekunden die Szene. Sie müssen verstehen, dass ich als Arzt an Notfälle jeder Art gewohnt bin. Aber diese Situation überforderte mich klar. Was ich erkannte, war, dass ärztliche Hilfe hier nichts mehr ausrichten konnte. Beide Männer waren tot. Gift, sicherlich. Beim Ertasten des Pulses stellte ich fest, dass beide sich heiß anfühlten, wie der defekte Akkus eines Mobiltelefons. 


Ich ergriff mein Handy und wählte den Notruf der Polizei. Es war etwas schwierig, den Beamten begreiflich zu machen, dass ärztliche Hilfe, wenn sie denn etwas hätte bewirken können, in meiner Person bereits vor Ort war. „Nein, ich bin selbst Arzt, und ich versichere Ihnen, dass beide Männer tot sind!“ 


Ich war nicht schlecht erstaunt, dass, als ich auf stürmisches Klingeln hin, die Wohnungstür öffnete, Rettungssanitäter hereinstürmten. „Wo befindet sich der Patient?“

„DIE PatienTEN befinden sich im Wohnzimmer.“


Die Herren mit den orangefarbenen Westen stürmten an mir vorbei. „Na sagen Sie mal - die sind tot! Weswegen haben Sie uns denn angerufen?“

Ich benötigte einige Zeit, um zu erklären, dass die Idee, eine Ambulanz zu rufen, nicht auf meinem Mist gewachsen war. Murrend, und unter dem Hinweis auf wichtige Einsätze, die wegen dieser Lappalie erst verspätet wahrgenommen werden konnten, verzogen sich die Sanitäter so geräuschvoll, weil sie die Szene betreten hatten. 


Da ließ sich die Polizei deutlich mehr Zeit. Entspannt schlenderten die Uniformierten ins Wohnzimmer. Ich schilderte den Hergang des Geschehens, beantwortete Fragen, für die ich selbst keine Erklärung hatte. Ich stieß nur auf Misstrauen und zweifelnde Blicke. Die Beamten sahen sich nach fast jedem meiner Sätze an, als glaubten sie mir kein Wort, hielten es aber für besser, mich nicht zu reizen, aus Sorge vor einer unberechenbaren Reaktion meinerseits. 


Ich war fast dankbar, als die Spurensicherung und die Kollegin von der Gerichtsmedizin eintrafen. Sie musterte mich durch dicke Brillengläser, die ihre Augen skurril vergrößerten. „Was? Sie hier? Wir kennen uns, Kollege!“ Ich blickte dankbar zu ihr auf. „Gottseidank!“, stieß ich erleichtert hervor. „Endlich jemand, der mich kennt und weiß, dass ich zu einem Mord nie fähig wäre!“ Sie lachte laut auf. „Aaach, wissen Sie - wenn das Motiv stimmt, ist JEDER zu einem Mord in der Lage! Wenn ich beispielsweise an meine Ex-Schwiegermutter denke!“ 


Na prima. Auch Sie war gegen mich. „Welches Gift haben sie denn verwendet? Zyankali?“ mir wurde schwarz vor Augen. Mein Kreislauf drohte, zu versagen. Ich klammerte mich am Regal fest.

„Aber so glauben sie mir doch! Ich habe nichts damit zu tun!“

Frau Doktor brach in heiteres Gelächter aus. „War nur ein Scherz!“, rief sie gutgelaunt. „Nun gucken Sie doch nicht so verbiestert!“ 

Sie entnahm aus den Mündern der Verstorbenen einige Proben. „Aaaah - ja! Das ist typisch! Ich habe es mir gedacht!“

„ Ihre Diagnose, Frau Kollegin?“

„Eine neuartige Modifikation des Rizin. Unfassbar schnell wirksam. Ein Antitoxin gibt es noch nicht. Wer das hier zu verantworten hat, kannte sich gut aus!“, sagte sie mit einem Unterton, der keinen Widerspruch zuließ. Ich versuchte es trotzdem. „Dauert das nicht mindestens eine Stunde, bis die Wirkung eintritt?“, erkundigte ich mich vorsichtig. Sie sah mich mit ihren riesigen Augen an. 


„Nicht unbedingt. Es hängt alles von der Konzentration ab“, meinte die pathologische Fachkraft. „Dosis facit venenum - aber das ist ihnen ja sicher bekannt!“


Ein freundlich wirkender, älterer Herr betrat die Szene. Er hielt eine Schale mit Currywurst-Stückchen in der Hand, die er mittels einer kleinen Plastikgabel traktierte. Auch sonst schien er gustatorischen Genüssen nicht abgeneigt zu sein. „Ein Knaller, diese Currywurst“,schmatzte er. „Von dem Imbissstand am Schleusenpriel! Unglaublich!“ Ein Tropfen Ketchup hatte sich in seinem ausgeprägten Mundwinkel niedergelassen und drohte, seitlich in Richtung Kinn abzuwandern.


Er inspizierte den Tatort. „Zwillinge, offenbar. Das hatten wir bisher noch nicht.“ Er stocherte in der Pappschale herum. „Alle. Schade. Ich glaube, auf dem Weg nach Hause hole ich mir noch eine Portion!“ Er stellte die Schale auf dem Wohnzimmertisch ab und wandte sich um. „Wer waren die beiden? Verwandte von Ihnen?“, fragte er mich. 

„Nein, ich kenne die beiden nicht, und ich habe sie nie zuvor gesehen!“

„Pflegen sie häufiger, unbekannte Männer mit in ihre Wohnung zu nehmen und zu vergiften?“

„Aber ich habe doch gar nicht -“ 

„Ein Scherz! Das war ein Scherz! Regen sie sich nicht auf!“

Natürlich regte ich mich auf.

„Sie sind ja ein personifizierter Komödienstadl! Makaberer Humor, wirklich!“


„Irgendwelche Auffälligkeiten bis jetzt?“ Die Mitarbeiter der Spurensicherung schüttelten die Häupter. „Wie lange sind die beiden tot?“ Die medizinische Gutachterin, an die diese Frage gerichtet war, nickte zu mir herüber. „Ich kenne den Kollegen hier aus der hiesigen Klinik. An seiner Aussage besteht kein Zweifel. Der Exitus ist keine halbe Stunde her.“

„Fingerabdrücke?“

„Jede Menge. Überall.“ 

„Spuren an den Leichen?“ 

„Was erwarten Sie eigentlich, Herr Kommissar? Außer der Zyanose in den Gesichtern und den ikterischen Skleren bei Verdacht auf Hämolyse kann ich Ihnen über die zu erwartenden Schäden anm Magen-Darm-Trakt sowie Leber und Nieren erst etwas sagen, wenn ich die beiden Schönheiten hier auf dem Tisch habe! - Ach, und ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie damit aufhören könnten, mir auf den Busen zu starren!“ Mit einiger Empörung rauschte sie aus dem Raum. 


Der Kommissar grinste. „Ich starre nicht. Für mich ist das Augenhöhe.“, rief er ihr hinterher. Er grinste mich heiter an, warf ein beiläufiges „Sie halten sich bitte zur Verfügung“ hin, und ließ mich in einem eher unaufgeräumten psychischen Zustand zurück. 


Ich war froh, dass die Leichenwagen meine beiden Besucher abtransportiert hatten. Trotzdem hatte ich nicht das Gefühl, dass meine Wohnung wieder mir gehörte. Im Moment des Todes hatten die beiden Filzhutträger durch den Kontrollverlust der Schließmuskeln Urin verloren, und der Schaum, der ihnen aus Mund und Nase gequollen war, hatte sich verflüssigt und große Flecken auf den Sesseln hinterlassen. Gleich Morgen würde ich mich darum kümmern, dass die Möbel abgeholt würden. Und am Wochenende mußte ich neue Sitzgelegenheiten kaufen. 


„Eine Frage, ganz persönlicher Natur!“


Ich fuhr zusammen. Mein Herz klopfte ein paar Extrasystolen. Mein Gott, hatte der Kerl mich erschreckt! „Können sie nicht klopfen, oder klingeln, oder husten, oder sich irgendwie sonst bemerkbar machen, wie andere Kommissare auch?“ 


„Das ist nun der Dank! Ich mache mir Sorgen um sie, und werde dafür angeblafft!“

„Wieso - Sorgen?“

„Das wollte ich eben fragen, bevor sie mich anschrieen! Haben Sie Feinde?“

„Ich? Feinde? Wieso das denn? Natürlich nicht!“

„Neidische Kollegen? Eifersüchtige Liebhaber? Ein Verwandter, der sich mit ihnen streitet?“

„Nicht, dass ich wüsste! Meine einzigen Verwandten sind gerade gestorben, bei einem Verkehrsunfall!“

Der Kommissar kam dicht auf mich zu. Er sah zu mir auf. „Das waren IHRE Eltern? Interessant!“, murmelte er. „Wir gehen da allerdings von einem Anschlag aus. Die Bremsen waren immerhin nicht in Ordnung. Es scheint eine Verbindung zu einem Mord zu geben, der sich hier kürzlich -“

„Der Mord an Pastor Speckmann?“

„Komisch, nicht? Überall taucht ihr Name auf, Herr Doktor. Glauben sie an so viel Zufälle?“ Er zögerte kurz, dann fuhr er fort. 

„Ihnen ist schon klar“, sagte er leise zu mir, „dass der Giftanschlag IHNEN gegolten hat, nicht wahr?“

„Mir? Aber -„

„Hätten sie nicht zufällig Besuch mitgebracht, wer hätte denn von dem Mineralwasser getrunken?“

Der Schweiß trat mir auf die Stirn. Und wieder fühlte ich mich wie ein Diabetiker, kurz vor dem hypoglykämischen Schock. Sie erinnern sich. Als ich die Nachricht vom Tod meiner Eltern erhielt. Flau, schwarz. Mir wurde schwindelig. Ich klammerte mich am Esstisch fest und sank auf einen der Stühle. 

Der Kommissar öffnete den Mund, dann schloss er ihn wieder.

Einen Moment hielt er nachdenklich inne. Mir schien es, als wollte er noch etwas sagen. 


„Ja. Und?“

Er ließ den Gedanken fallen.

„Ist es in Ordnung, wenn ich die Currywurst-Schale hier lasse?“



( Leute, ich bitte Euch! ‚Ist es in Ordnung, wenn ich die Currywurst-Schale hierlasse!‘ Was hat der Kommissar erwartet? Dass ich sage Nein, bitte entsorgen Sie Ihren Müll auf dem Revier? Meine Wohnung gleicht inzwischen ohnehin einer Müllhalde. Der Einbruch, der Doppelmord - nein, wie zu Hause fühlte ich mich dort schon lange nicht mehr. Aber findet mal bezahlbaren Wohnraum! Jaja. Ich weiß. Du bist doch Arzt! Oberarzt, sogar! Ach, wenn ihr wüßtet! Deswegen schreibe ich doch so viel! Um mir ein kleines Zubrot zu verdienen. Ich habe nämlich viel Hunger. Deswegen habe ich das nächste Kapitel betitelt: )


Das Kapitel, in dem ziemlich viel gegessen wird


Ja, natürlich war das in Ordnung. Ich war auch gerade viel zu verwirrt, um zu widersprechen. „Ich breche dann mal auf.“, betonte mein letzter verbliebener Besucher. „Zum Schleusenpriel. Noch eine Wurst kaufen. Hunger habe ich zwar keinen mehr, aber - es schmeckt einfach zu und zu gut!“


Es war kurz vor Mitternacht. Ich konnte kaum die Augen offenhalten. Ob die Wurstbude noch geöffnet war? Hunger hatte ich zwar auch. Allerdings hatte die Spurensicherung den Inhalt komplett ausgeräumt, nur eine Salatgurke und drei einsame Radieschen lagen im Gemüsefach. Aber ich hätte mich ohnehin nicht getraut, etwas von meinen Vorräten anzurühren. Currywurst. Eine doppelte Portion. Das war doch eine brauchbare Alternative. Ein kleiner Imbiss. Und der Schleusenpriel war auch nicht so weit entfernt. In dieser kleinen Stadt war überhaupt nichts ‚so weit entfernt’. Alles war ‚fußläufig zu erreichen‘, zumindest stand das immer in den Immobilienanzeigen. 


Ich dachte, nicht nur wegen des Gewürzes, an das Krabbencurry meiner Mutter. 


Ich lief den Strichweg herunter, bog in die Schillerstraße ein und schlenderte die Deichstraße entlang. Wie sich die Geschäfte verändert hatten! Der Friseur existierte immer noch, die Buchhandlung hatte inzwischen Besitz ergriffen vom Gloria-Palast, an dessen einstmalige Pracht nur die geschwungene Treppe erinnerte. Die Bleickenschule, das Amtsgericht. Für Bürobedarf schien es keine Verwendung mehr zu geben, auch die zweite Buchhandlung hatte sich in Wohlgefallen aufgelöst. Dafür gab es das Fotogeschäft noch. 

Komisch, nicht? Man denkt, dass man in einer Stadt lebt. Dabei existiert man dort nur, um seiner Arbeit nachzugehen.Das kulturelle Angebot war natürlich enttäuschend, und eher auf die Kurgäste im Sommer eingestellt. Zum Einkaufen fuhr man in die nahegelegenen Großstädte, auch ins Theater, in die Oper, ins Konzert. Mein Interesse an Filmen konnte ich in dem lausiger kleinen Kino im Zentrum ausleben. Die Leinwände der Säle waren zwar so groß wie ein Strandlaken, aber der Besitzer hatte investiert, so dass man sogar 3D-Projektionen genießen konnte. 


„Hier treibst du dich also rum? Vermutlich kommst du gerade von ihr, oder?“

„Entschuldigung?“

„Jetzt tu' bloß nicht so! Verarschen kann ich mich auch allein, da brauch' ich keinen promovierten Akademiker zu!“

„Junge Frau, sie müssen mich mit irgendjemandem verwechseln!“

„Mistkerl!“


Die Ohrfeige, die die billig wirkende junge Dame mir versetzte, brannte in meinem Gesicht. Ihre wütende Tirade klang etwas vernuschelt, und sie schwankte deutlich. 

Ich ließ sie ziehen. Mit solchen Frauen gab ich mich nur ungern ab. Nur, wenn es gar nicht anders ging.


Gottseidank. Der Imbiss war noch geöffnet. Zweimal Currywurst. Nein, in einer Schale. Ja gern etwas schärfer, aber nicht zu. Der beleibte Verkäufer lachte. Dabei blitzte ein Goldzahn auf.  „Einige Kunden mehr, so wie sie beiden, und ich wäre saniert!“ 

Ach ja! Ich wusste, worauf er anspielte! „Genau“, lachte ich. „Der Kommissar hat zweimal zugeschlagen! Er erwähnte vor kurzem, dass er Sie heute noch einmal besuchen wollte!“ 

„Und nicht nur er! Sie sind ja auch schon zum zweiten Mal hier!“

„Wie bitte?“ 

„Na! Schaschlik! Mit Pommes! Sie waren der mit der Extra-Portion Mayo! Erinnern sie sich nicht?“

„N-nein? Wann soll denn das gewesen sein?“

Versiert warf der Gastronom zwei Würste in ein stählernes Gerät, aus dessen unterer Öffnung nun die Wurstscheiben in eine längliche Pappschale purzelten.

„Auf die Uhr gesehen hab ich natürlich nicht ... doch! Moment! Es war genau 12 Uhr! Mittags! Die Glocken der Martinskirche waren deutlich zu hören. Das können sie doch nicht vergessen haben! Sie haben gemeckert, dass ich die Zigeunersoße Zigeunersoße nenne und gesagt, das sei politisch nicht korrekt, daran erinnere ich mich deutlich! Sie etwa nicht?“

Virtuos jonglierte die Fachkraft mit zwei Gefäßen, die wir überdimensionale Puderdosen wirkten. Gelbes und rotes Pulver. „So, einmal viel Curry, und etwas Chili!“ 

Mir wurde schon wieder schwindelig. „Vielleicht jemand, der mir ähnlich sah?“

„Ganz - gewiss - nicht!“ Er hob mit einer Kelle heiße rote Soße aus einem eckigen Behälter. „Sie haben sich zwar umgezogen, aber - hey! Was glauben sie? Ich mache den Job hier seit 15 Jahren! Ich bin Profi! Ich kenne meine Kundschaft!“

„Was trug ich denn heute Mittag?“

„Einen kurzen grauen Mantel. Und einen Filzhut. Bitteschön.“


Das ‚Bitteschön‘ bezog sich auf die Schale, die er über die Glasplatte der kleinen Tresens in meine Richtung schon. 

„Welche Farbe soll der Spicker haben?“

„Wie bitte?“

„Der Spicker! Die Plastikgabel!“

„Rot, natürlich!“

„Da haben wir's! Genau wie heute Mittag!“


Es bekam mir, wie üblich, nicht, so kurz vor dem Schlafen noch etwas zu essen. An der Qualität der Currywürste lag es nicht. Die waren, wie der Kommissar festgestellt hatte, ausgezeichnet. Mein Schlaf war traumlos - zumindest, soweit mir bewusst war. Es gibt ja Wissenschaftler, die mittels EEG festgestellt haben, das jeder immer träumt. Manchmal jedoch kann man sich nicht mehr daran erinnern. Durch einen gezielten Schlag mit der flachen Hand überzeugte ich das messingfarbene Monstrum neben meinem Bett, sein Lärmen zu beenden. Stöhnend ließ ich mich zurücksinken. Ich fühlte mich wie gerädert. Verschwitzt, und alles andere als erholt. Kurz erwog ich, in der Klinik anzurufen und mich krankzumelden. Dies allerdings widersprach meiner Pflichtauffassung und meiner Kollegialität. 


„Stimmt es, was man so hört?“

„Was hast du denn gehört, Schwester Christa?“

„Dass deine Eltern ermordet wurden. Und zwei Männer in deiner Wohnung. Und dass du damit was zu tun hast, auch mit dem Mord an dem armen Pfarrer!“

„Das alles erzählt man sich?“

„Ja.“

„Stimmt nicht. Glaub doch nicht jeden Mist! Sonst noch was?“

„Jetzt sei doch nicht gleich so aggressiv! Ich bin doch auf deiner Seite!“


Da konnte ich ihr nicht widersprechen. Christa war stets loyal gegenüber den Menschen, die sie leiden konnte. „Kommst du mit zum Frühstück?“, fragte ich mit versöhnlichem Unterton. „Nein. Schade. Aber ich hatte auf Station schon ein Brötchen mit Erdbeermarmelade. Und ich muss die Chefvisite vorbereiten. Der Alte ist zur Zeit leicht reizbar.“


„Na, Herr Doktor? Sie können sich ja heute überhaupt nicht von uns trennen!“ Frau Babrack, die Leiterin der Kantine, lachte herzlich. „Was darf es denn sein, zum 2. Frühstück? Doch noch ein Franzbrötchen?“ 

Ich nickte. Franzbrötchen mochte ich gern. Und im Übrigen war ich der Meinung, dass die Kombination aus dem Zimtgeschmack einerseits sowie dem dazugehörigen Kaffee andererseits ein perfektes aromatisches Erlebnis darstellte. „Was hatte ich denn vorhin? Und vor allem: Wann war ich da?“


Frau Babrack sah mich verwundert an. „Mit den anderen Diensthabenden der Nacht, vor einer Stunde, etwa. Und sie hatten Tee, und eine Laugenbrezel mit Käse. Obwohl sie doch sonst lieber süß frühstücken.“

„Kam ich ihnen irgendwie - verändert vor?“

„Wie meinen sie das?“

„Habe ich mich so verhalten wie immer?“

„Ja, ich denke, schon! Moment! Doch! Es gab einen Unterschied zu sonst! Ihr Kittel! Das fiel mir auf! Sie trugen einen Kittel für Assistenzärzte, nicht den Oberarztkittel! Wieso fragen Sie das überhaupt alles? Stimmt etwas nicht?“ 


Das war eine Besonderheit unseres Krankenhauses. Die Assistenten trugen Kittel mit weißen Plastikknöpfen, die der Oberärzte waren silberfarben. Die Chefärzte verschlossen ihre Schutzkleidung sogar mit vergoldeten Knöpfen, der Würde und Bürde ihres Amtes entsprechend.

Na gut. Was mich irritierte, war, dass mein Doppelgänger, von dessen Existenz ich inzwischen überzeugt war, exakt zu wissen schien, was ich zu tun hatte. Er hatte drei Ultraschalluntersuchungen bei Privatpatienten vom Chef durchgeführt, die Visite erledigt, sich die Neuzugänge vorstellen lassen und einen Stapel Gutachten und Entlassungsberichte mit meiner - nein, also eher, mit seiner Unterschrift versehen. Das alles hatte er so perfekt durchgeführt, dass niemandem, nicht einmal Schwester Christa, auch nur der leiseste Verdacht gekommen war, dass es sich nicht um mich gehandelt haben könnte. Ich begriff allerdings nicht, warum ich ihm bisher noch nicht begegnet war. So groß war das Stadtkrankenhaus nicht, dass man sich nicht zufällig über den Weg hätte laufen können. 


Ich beschloss, den Imbiss-Besitzer noch einmal aufzusuchen. Es erschien mir zur Zeit auch deutlich sicherer, auswärts etwas zu mir zu nehmen. Wer auch immer das Mineralwasser mit Rizin versetzt hatte, war leicht in der Lage, Lebensmittel oder vielleicht sogar die Zahnpasta zu vergiften. 


„Nanu? Frau Neugebauer? Was machen Sie denn hier?“

Die Sekretärin des ermordeten Pfarrers sah mich vorwurfsvoll an. Ihre Augen wiesen dasselbe Rot auf, in dem bereits ihre Nase kurz nach dem Ableben ihres Chefs geleuchtet hatte. Der Kontrast zu dem grauen Acryl-Pullover war erheblich. Sich die Haare ordnend, erklärte sie mit trotzigem Unterton, dass man sich ja nicht mehr sicher sein könnte, in unserer beschaulichen kleinen Stadt. „Ich lebe doch allein. Seit Jahren schon. Seit mein Mann verunglückt ist. Das hat mir nie etwas ausgemacht - die Einsamkeit, verstehen sie, Herr Doktor? Aber jetzt habe ich Angst! Ich denke, wenn viele Leute um mich herum sind, bin ich vielleicht sicher! Sicherer, als wenn ich allein zu Hause bin, und so ein schießwütiger Verbrecher - “ 


Sie vollendete den Satz nicht. Zitternd und schniefend stach die Arme auf die Currywurst ein, als kämpfte sie gegen die Sünde der Welt, wie weiland der heilige Georg mit dem Drachen. Sie hatte hierzu ein gelbes Gäbelchen gewählt. 

Der Küchenchef warf für mich zwei Würste in die Häckselmaschine. 

„Curry und Chili, wie immer?“ 

„Viel Curry, wenig Chili“, bat ich. Komisch. Der Mann war irgendwie anders, heute. Ich konnte meinen Eindruck nicht an irgendetwas Konkretem festmachen. Aber etwas stimmte nicht. 


Frau Neugebauer brach auf, und auch ich verabschiedete mich nachdenklich. Ich hatte mich in Richtung Strichweg ca. 1 Kilometer entfernt und gerade den Karl-Olfers-Platz erreicht, als eine gewaltige Explosion die Monotonie der Stadtgeräusche zerriss. Die Druckwelle schmerzte in meinen Ohren und brachte Scheiben zum Klirren. Da, wo die fahrbare Imbissbude gestanden hatte, stiegen Flammen und Dicker, dunkler Rauch auf. Ich rannte zurück. Vielleicht konnte ich etwas helfen. Sekunden später war das Martinshorn zu hören. Die rotierenden Signallichter tauchten die Szene in unruhig zuckendes Blau. 


Für den Mann, der so leckere Currywürste zubereitete, kam jede Hilfe zu spät. Seine Leiche lag etwas abseits. Die Explosion hatte ihn offenbar aus seiner Bude geschleudert. Ich tastete nach dem Puls and Hals und Handgelenk. Seine Augen waren weit aufgerissen. Der Mund zu einem grotesken Grinsen verzerrt. Offenbar hatte von unten eine enorme Hitzeentwicklung stattgefunden, die den Körper und die Haut der unteren Gesichtshälfte hatte schrumpfen lassen und den Mund zu der Grimasse verzogen hatte. Schlagartig wurde mir klar, was an dem Mann vorher so anders war. Er hatte nicht gelächelt, wie gestern Nacht. Und der Goldzahn war vorhin nicht sichtbar gewesen. Er hatte ernst ausgesehen. Ernst, und angespannt. Und ängstlich. 


Sehr, sehr ängstlich.



( Ich glaube, dass so viel, wie in unserer verschlafenen, kleinen Gemarkung in den letzten paar Tagen passiert ist, sich im vergangenen Jahrzehnt nicht ereignet hat. Gewiss. Auch eine Kleinstadt ist grundsätzlich nicht nur von Nonnen und Heiligen bevölkert. Aber 6 Leichen in 4 Tagen - das hat schon Großstadt-Niveau! Und ich immer mittendrin! Deswegen hat der Kommissar mich auch auf das Revier bestellt. Lust habe ich nicht auf diesen Besuch, aber Pflicht ist Pflicht. 

Ich fühle mich ausgelaugt. Heute hab ich auch noch Hausdienst. Ein Kollege hat mich wegen eines Familienfestes gebeten, mit ihm zu tauschen. Hoffentlich ist es ruhig, und ich kann etwas schlafen. Vielleicht sogar träumen? ) 

Der Herr Doktor träumt! 

Ein liebloser Innenarchitekt hatte vergeblich versucht, das Innere des Polizeireviers modern und irgendwie freundlich zu gestalten. Die Einbauten wirkten wie die Rezeption einer Arztpraxis, überall diese enervierenden Pastellfarben, meist ein helles Türkis, oder langweilige Beige-Töne. Das graue Laminat auf dem Fußboden konnte, bei längerer Betrachtung, Depressionen auslösen. Daran änderten auch die kleine Sukkulenten-Sammlung am Fenster und der unvermeidliche Ficus benjamini nichts. Die Räume waren durch große Glasscheiben voneinander getrennt, was dem Besucher die Sicht bis in das Büro des Kommisars ermöglichte, in das ich mich zu begeben hatte. 

„Ich verliere langsam die Geduld mit ihnen, Herr Doktor! Bisher waren Sie an allen Tatorten zu finden. Mit jeder Straftat sind sie in Verbindung zu bringen. Die Ermordung ihrer Eltern. Der Einbruch in ihre Wohnung. Das Attentat auf Pastor Speckmann. Die Vergiftung der Zwillinge, deren Identität bisher nicht zu klären war. Und jetzt - für uns alle besonders tragisch - die Explosion des einzigen vernünftigen Imbissstandes im Landkreis und dem Ableben seines Besitzers. Und zwar, kurz nach dem sie dort Kunde waren. Ich bin SO weit ...“ - er deutete mit Daumen und Zeigefinger die Distanz von ca. 3 cm an. Also nicht sehr weit. - „... davon entfernt, sie in Untersuchungshaft zu nehmen. Eine einzige weitere Leiche, und ich beantrage einen Haftbefehl!“ 

Die Furchen auf der Stirn des Kommissars waren tief. Wie das Subkontra-A auf dem Klavier. Seine Mundwinkel hingen wie die Lefzen eines Boxers. Und hätten seine Blicke mein Lebensende herbeigeführt, wäre ärztliche Hilfe in jedem Fall zu spät gekommen. Ich öffnete den Mund zu einer Rechtfertigung, schloss ihn aber sogleich wieder, als der Blitz eines bösen Blicks mich niederschmetterte. 

Der Ordnungshüter hatte ja nicht unrecht. Ein Filmtitel kam mir in den Sinn. ‚Django - Leichen pflastern seinen Weg‘. So kam ich mir vor. Bisher war noch jeder, der in letzter Zeit mit mir Berührung gehabt hatte, unter dramatischen Umständen ums Leben gekommen. Streng genommen, sogar ich selbst. Im Alter von 4 Jahren. Was war mit meinem Doppelgänger? Und wer hatte es auf mein Leben abgesehen, und warum? 

„Sie halten sich jedenfalls zu unserer Verfügung! Haben wir uns da verstanden? Und sollten sie die Stadt verlassen müssen, melden sie sich freundlicherweise ab! Und tun sie mir bitte den Gefallen, und versuchen, niemanden zu vergiften, erschießen, oder sonstwie zu ermorden. Wenn’s auch schwerfällt!“

Ich beschloss, den Zynismus seiner Worte nicht zur Kenntnis zu nehmen. 

Es gibt Tage, da ist man fast dankbar, zur Arbeit gehen zu können. Oft genug wachte ich auf, überrascht, dass die Nacht schon wieder vorüber war. Aufgrund von Diensten, Notdiensten und Rufbereitschaften gab es für mich ohnehin kaum Unterschiede zwischen Arbeitswoche und Wochenende. Aber ich empfand es immer sehr tröstlich, schlafengehen und die Bettdecke über die Ohren ziehen zu können. 

Der Döner, den ich mir in Irem's Restaurant auf dem Heimweg geleistet hatte, lag mir schwer im Magen. Ich hätte auf „mit Alles, mit scharfe Sauce“ verzichten sollen. Aber Irem war sehr autoritär und hatte bereits begonnen, reichlich orangefarbenes „Alles“ über den Inhalt des Fladenbrotes auszugießen, ohne meine Antwort abzuwarten. Ich wollte vermeiden, ihn zu enttäuschen. Ich war auf ihn angewiesen. Meine heimischen Vorräte oder gar den Inhalt der Tiefkühltruhe in der Wissmannstraße zu mir zu nehmen, wagte ich nicht mehr. 

Ich freute mich fast auf das Frühstück in der Kantine. Frau Babrack hatte mir bestimmt mein Franzbrötchen reserviert. Vielleicht konnte ich, wenn ich früh genug dort erschien, meinen Doppelgänger konfrontieren. 

„Guten Morgen, junge Frau! Na! Sie sehen ja wieder hinreißend aus! Wie machen sie das bloß? Vermutlich baden sie in Eselsmilch, wie weiland Cleopatra!“ 
Frau Babrack lachte. „Vorsicht, Herr Doktor, Vorsicht! Ich verwende Milch von der Ziege! Sowas färbt ab!“
„Das merkt man ihnen wirklich nicht an, meine Dame! Aber wenn sie das montags tun, halten sich die Nebenwirkungen von Ziegenmilch in Grenzen!“ Sie lachten. 
Ohne, dass ich es extra sagen musste, standen Kaffee und Franzbrötchen auf meinem Tablett. „Ist das heute mein erstes Frühstück?“, erkundigte ich mich.
„Ist es“, versicherte die Herrin der Kantine. „Haben sie denn ihren Doppelgänger inzwischen gefunden?“
„Kein Stück. Ich glaube, er traut sich nicht. Konkurrenz, sie verstehen. Ich sehe deutlich besser aus als er!“ 
Sie grinste fröhlich. „Eingebildet sind sie Gottseidank gar nicht!“
„Natürlich nicht“, entgegnete ich heiter. „Meine Bescheidenheit wird nur durch meine natürliche Anmut übertroffen!“

Ich hatte das Gebäck bereits vernichtet und rückte nunmehr dem Kaffee zu Leibe, der so heiß war, dass ich ihn unter stetem Rühren und Pusten abzukühlen versuchte. Da quakte das kleine Folterinstrument, im Klinikjargon ‚Pieper‘ genannt, und riss mich aus meinen Gedanken. Diese winzigen Kästen, in unserem Haus orangefarben, verkünden stets Unheil, zumindest aber unangenehme Arbeit. Der Posten eines Oberarztes ist ohnehin undankbar. Man hatte alles zu erledigen, was dem Chef nicht passte, musste die Fehler ausbügeln, die die Assistenzärzte verbrochen hatten, und war, egal, was auch immer an Imponderabilien über die Klinik hereinbrach, unter allen Umständen für alles verantwortlich. 

Ich hielt den Pieper ans Ohr und betätigte die Taste. Es ertönten a) das typische Hintergrundrauschen und b) die Stimme von Pfleger Gerald. „Bitte der diensthabende Oberarzt sofort auf die ICU!“

Ich fand diese Abkürzung dämlich. Der Chefarzt hatte einen Hang zu internationalen Bezeichnungen. Früher hätte man Intensivstation gesagt. Heute klang ‚Intensive Care Unit‘ mit
‚Stroke Unit‘ und ‚Burn Unit‘ natürlich stromlinienförmiger, schicker. Auch wenn das in unserer biederen kleinen Stadt an Hochstapelei grenzte, und gelegentlich zu Sarkasmus und ungestümer Heiterkeit Anlass gab.

„Und das war’s schon wieder mit dem Frühstück“, erklärte ich Frau Babrack mit bedauerndem Achselzucken. 
„Gott, sie Armer! Also - für mich wäre das nichts! Immer im Einsatz! Das zehrt doch!“
„Deswegen die Franzbrötchen, meine Dame! Deswegen die Franzbrötchen!“

Wie hatte mein erster Chefarzt gesagt? Alles selbst, und alles zu Fuß. Als junger Assistenzarzt war ich im Nachtdienst einmal im Fahrstuhl stecken geblieben. Als das Ding sich wieder in Bewegung setzte, war das Überleben meines Patienten nur dem Umstand zu verdanken, dass der diensthabende Kollege von der Inneren Medizin erste Hilfe geleistet hatte. Ich fühlte mich unschuldig, wurde jedoch von Professor Fiedler korrigiert. „Sie haben es nicht zu verantworten. Aber sie haben es zu vertreten!“ Komisch, nicht wahr? Manche Sätze vergisst man nie. Sie graben sich ein die die Gehirnwindungen, jederzeit bereit, aus ihrer Deckung hervorzuspringen und einem das Leben schwer zu machen. 

„Na endl ... - DU? Aber - wieso?“ So verblüfft hatte ich Gerald nie gesehen. „Wieso nicht ich? Ich hab mit Peter Kühne getauscht! Er muss zur goldenen Hochzeit seiner Eltern. - Was haben wir denn hier?“

Unfähig, zu sprechen, bedeutete er mir durch ein Winken, ihm zu folgen. In der nächsten Sekunde begriff ich sein Erstaunen. 

Ich selbst lag in diesem Bett. So schien es wenigstens. Schwerst traumatisiert. Intubiert. Beatmet. Versorgt mit Infusionen, Transfusionen und Medikamenten aus einigen Perfusoren. 

Ich sah mir ziemlich ähnlich. Einzig das Brillenhämatom, das auf einen Bruch der Schädelbasis hinwies, hatte die Augen völlig zuschwellen lassen. Erstaunlich, wie das ein Gesicht verändern kann! Das Gesicht, dass ich jeden Morgen im Spiegel meines Badezimmers sah, und nicht unsympathisch fand. Mein Gesicht. Meins. 
Platzwunde an der linken Schläfe. Das Nasenbein gebrochen. Offenbar fehlten auch einige Zähne.

„Was ist passiert?“, fragte ich den Pfleger. 
„Er wurde angefahren. Auf dem Zebrastreifen, direkt hier vor dem Krankenhaus. Er kam aus Richtung der Klinik und wollte wohl die Altenwalder Chaussee überqueren. Er kann von Glück sagen, dass der Unfall hier passierte. Wer weiß, ob er einen längeren Transport überlebt hätte!“

Gerald legte eine Pause ein.

„Es geht mich ja nichts an, aber trotz der Verletzung - er ist dir wie aus dem Antlitz geschnitten. Nur, dass du gerade besser aussiehst als er. Außerdem hatte er Papiere auf deinen Namen bei sich. Wir haben alle gedacht, dass - “

Ich nickte. „Ich weiß selbst erst seit kurzem, dass ich einen Doppelgänger habe. Seit gestern. Frau Babrack war überrascht, dass ich beabsichtigte, doppelt zu frühstücken. Und er hat meine Arbeit erledigt. Sogar gut. Nicht besser als ich - aber gut.“
„Hast du einen Bruder? Das geht ja hier zu wie beim „Doppelten Lottchen“! “
„Nicht, dass ich wüsste. Allerdings bin ich mir inzwischen noch nicht einmal der Dinge sicher, die ich bis vor Kurzem zu wissen glaubte.“
Gerald sah mich fragend an. 
„Ich kann nicht darüber sprechen. Ich würde gern, glaube mir. Aber seit dem Tod meiner Eltern ist einfach nichts mehr so, wie es war. Es ereignen sich ununterbrochen so viele beunruhigende und eigenartige Dinge - ich fühle mich überfordert. - Sag mal: Weswegen hast du mich eigentlich angefunkt?“ 
„Ach, er begann, zu flimmern. Aber ich habe ihn auf eigene Kappe geblockt. Jetzt ist wieder alles in Ordnung. Kannst du mir das bitte noch in der Dokumentation abzeichnen?“

Der Monitor bestätigte diese Aussage. Das einzige, was noch halbwegs stabil zu funktionieren schien, war das Herz. 

Der Arbeitstag lief sozusagen an mir vorüber. Meist saß ich in meinem Zimmer und dachte an die Ungeheuerlichkeiten, die sich zugetragen hatten. Meine Pflichten erfüllte ich. Erfahrung in Kombination mit Routine. Sehr hilfreich. Irgendwann gingen die Kollegen heim, und ich trat meinen Dienst an. Ich war fast dankbar. Wie hätte ich denn ‚heim‘ gehen können? Nach Hause? Das man aufgebrochen und verwüstet hatte? In dem man Giftköder ausgelegt hatte, als wäre ich eine Laborratte? In dem zwei Männer vor meinen Augen ums Leben gekommen waren?

Zu Hause! Na danke! Das war ein Tatort, aber kein Zuhause! Ein Zuhause stellte ich mir dann doch anders vor. Ich musste eine neue Wohnung finden. Ich würde das Haus in der Wissmannstraße verkaufen, und den Erlös in eine schicke Eigentumswohnung investieren. Vielleicht mit Blick übers Wasser? 

Der Dienst war ruhig. Nur einmal wurde ich geweckt, wegen einer blutenden Platzwunde, die schnell zu versorgen war. 

Schweißgebadet erwachte ich am anderen Morgen. Ich, der ich üblicherweise schlief wie in Narkose, hatte einen Traum. Nach Beendigung meines Dienstes verließ ich die Klinik. Ich versuchte, die Altenwalder Chaussee zu überqueren. Von links hörte ich ein Auto sich nähern. Der Zebrastreifen war gut beleuchtet. Ich betrat die Straße. In diesem Moment heulte der Motor des Wagens auf. Wie angewurzelt blieb ich stehen. Durch die Windschutzscheibe sah ich für den Bruchteil einer Sekunde verschwommen das Bild einer Frau am Steuer. Sie hielt den Kopf gesenkt. Wer war das?
Das Auto erfasste mich. Der Aufprall war heftig. Es überraschte mich, dass ich keinerlei Schmerz empfand. Es war plötzlich totenstill. Ich wurde im hohen Bogen durch die Luft geschleudert. Dann gingen die Lichter aus. 

Als ich erwachte, konnte ich einen Moment lang nicht zuordnen, ob dieser Unfall sich wirklich ereignet hatte. Alles war so lebendig.  Meinen Kopf hatte es am schlimmsten erwischt, aber das Betasten von Nase, Jochbeinen und Kinn war nicht schmerzhaft. Auch sonst schien ich unverletzt zu sein. 
Benommen saß ich auf der Bettkante. Die verschwommenen Konturen der heranrasenden Frau  wurden immer klarer. Ich erkannte sie jetzt. Der Bekleidungsstil war unverwechselbar.


( Immer schön, wenn so ein Hausdienst zu Ende ist. Und vor allem, wenn es nicht so anstrengend war. Ich habe Dienste erlebt, bei denen ich von Anfang bis Ende in der Ambulanz Patienten versorgte, und zwischendurch auch noch in den OP musste. Dieser Dienst war ruhig. Trotzdem fühlte ich mich erschöpft. Unter Anspannung reduziert sich die Schlaftiefe, und der Schlaf wird nicht mehr als erholsam empfunden. 
Ich habe mir aus dem Labor Röhrchen für einen DNA-Test besorgt. Ich werde es den Leiten beweisen, dass diese Ähnlichkeit zufällig ist. Geht mir echt auf die Nerven, diese Fragerei! )

Am Abgrund

Trotz Schwindel und Dröhnen in meinem Kopf musste ich lachen. Dieser graue Acrylpullover! Ich kannte nur eine Frau, die derart wenig Wert auf ihre Bekleidung zu legen schien. Aber Frau Neugebauer war unscheinbar, empfindlich, altjüngferlich. Exakt, wie man sich die Sekretärin eines Pfarrbüros vorstellte. Allein die flatterige Bewegung des rechten Arms, wenn sie sich die Haare ordnete, passte nicht zu dem Bild, das sich in meinem Traum in meine Hirnwindungen gebrannt hatte. Die Frau am Steuer des Jeeps hatte den Kopf gesenkt wie ein Stier in der Plaza de Toros, die Augen blutunterlaufen, den Mund zu einer bösartig-grinsenden Grimasse verzogen. Ich meine, Frauen am Steuer sind ein Kapitel für sich, aber - ist ja gut! 5 Euro in die Chauvy-Kasse!

Kinder, Kinder! Ich konnte wirklich froh sein, dass ich so selten träumte! Was war das nur für ein haarsträubender Mist! Und dabei so beängstigend real! Man sagt ja, dass Träume nur Sekunden andauern, wie die REM-Phasen im Schlaf. Der Film, den man sieht, dauert gefühlt leider deutlich länger. 

Mein erster Weg führte mich auf die Intensivstation. Ich betrachtete mein bewusstloses Ebenbild, dann studierte ich die Eintragungen in der Krankenakte. Statt Gerald war Schwester Johanna im Dienst. Ich betrachtete das EKG. „Was war denn vorhin los?“, fragte ich angesichts der unruhigen, unregelmäßigen, dicht aufeinander folgenden Zacken der Herzstromkurve. 
„Vorhofflimmern“, sagte Johanna. „Wir hatten den Defi schon vorbereitet. Dauerte aber nur ein paar Sekunden. Dann war der Spuk vorbei!“ 

Ich schaute auf die Uhrzeit. Genau in diesem Augenblick war ich aufgewacht und hatte auf den Wecker gesehen. Erstaunlicher Zufall. Ich korrigierte die Medikation. „Achtet bitte auf die Ausscheidung. Gelagert ist er vernünftig?“
„Du kennst uns doch. Zweikammer-Matratze. Er liegt wie in Abrahams Schoß.“ 
Ich legte ihm meine Hand auf die Stirn. Fieber hatte er jedenfalls keins. Ich führte einen Watteträger neben dem Beatmungsschlauch in seinen Mund und drehte und rieb diesen über die Schleimhäute, so gut es eben ging. In diesem Moment wurde er unruhig. Ich erschrak. Er würgte etwas wegen des Tubus in seiner Luftröhre, und begann, an diesem und den Schläuchen der Infusionen zu ziehen. Johanna hielt die Hände fest. „Ganz ruhig! Sie brauchen keine Angst zu haben! Sie sind im Stadtkrankenhaus!“ 
„Na, ob mich DAS beruhigen würde“, stieß ich halblaut hervor. Und mit normalem Ton rief ich ein optimistisches „Guten Morgen! Ich bin Dr. Glaser! Ihr behandelnder Arzt! Sie können nicht reden wegen der Röhre in ihrem Hals!“

Hatte ich mich ihnen, liebe Leser, eigentlich schon vorgestellt? Das hole ich dann mal nach. Glaser ist mein Name. Gabriel Glaser. Den „Doktor“ sowie meinen oberärztlichen Titel lassen sie bitte weg. Ich bin’s, das reicht. Obwohl mein Name in der Klinik schon zu jäher Heiterkeit führte. Besonders, als die Glasscheibe in der Tür zum Schwesterndienstzimmer zu Bruch ging. „Hol mal einer den Glaser!“, wurde zum geflügelten Wort. 

Wie gern hätte ich mich mit meinem Doppelgänger unterhalten. Aber das würde noch dauern. Zumindest war er stabil. Dass er sich nicht verschlechtert hatte, grenzte an ein Wunder. „Ein Verwandter von Dir?“, erkundigte sich die Pflegekraft. 
„Könnte man meinen, gell, Johanna?“
„Entschuldige die Störung!“, giftete sie. 

Auf der Station erwartete mich der Kommissar. „Habe ich ihnen nicht erst vor Kurzem gesagt, dass ich sie genau im Auge behalten werde? Was haben sie jetzt schon wieder angerichtet?“
Ich bemühte mich, ruhig zu bleiben. „Schauen sie, Herr Kommissar, ich habe Nachtdienst gehabt, und auch, wenn nicht so viel zu tun war - ich fühle mich wie gerädert. Tun sie mir den Gefallen, und lassen mich in Ruhe!“ 
„Das würde ich gern, Herr Doktor. Glauben Sie mir. Ich bin aber leider noch nicht einmal sicher, dass sie derjenige sind, der sie zu sein behaupten. Jetzt weniger, denn je! Der Unglücksrabe oben auf ihrer Intensivstation - sind sie mit ihm verwandt oder verschwägert?“

Gerald, Johanna, jetzt der Kommissar. Wenn mich noch jemand fragte, ob ich mit dem Unfallopfer verwandt wäre - aber - vielleicht war ich es? Der genetische Test würde Aufschluss geben. Die Röhrchen hatte ich bereits versandfertig gemacht. Sein und mein Watteträger, sorgfältig beschriftet. 

„Nein, Herr Kommissar. Soweit mir bekannt ist, bin ich Einzelkind. Gibt es etwas Neues im Bezug auf den Unfall meiner Eltern? Und die diversen anderen Leichen?“
Sorgenvoll schüttelte der Vertreter weltlicher Gerechtigkeit das Haupt. „Wir ermitteln, wie man so sagt, in alle Richtungen. Und ich beginne, mir erhebliche Sorgen um sie zu machen. Ihnen ist doch klar, dass nach der Giftattacke dieser Unfall direkt vor der Klinik bereits der zweite Anschlag auf ihr Leben war. Ich frage mich, ob wir sie in Schutzhaft nehmen sollten. Pro forma könnten wir es als U-Haft ausgeben, Unter dem Verdacht der Beteiligung am Tod ihrer Eltern. Was sagen sie?“

Ich musste zugeben, dass mir bereits ähnliche Gedanken durch den Kopf gegangen waren. Ich hatte auch gewiss nicht vor, meine Wohnung oder das Haus meiner Eltern zu betreten. Im Schwesternwohnheim auf dem Gelände des Stadtkrankenhauses war ein Zimmer frei. Niemand außer Herrn Somnitz, dem Verwaltungsleiter, und Schwester Sieglinde, der leitenden Schulschwester, war meine Absicht bekannt, dort vorübergehend einzuziehen. 

„Sie haben recht. Aber ich habe schon meinen Arbeitgeber um Asyl gebeten!“
„Sie müssen’s ja wissen. Sagen Sie - so etwas wie eine Akte der Entbindungsstation aus ihrem Geburtsjahr - “
„Auf den Gedanken kam ich auch schon. Auch auf den mit den Taufregistern. Aber da war jemand schneller als wir! Der Krankenakte zufolge, bzw. dem Teil, der noch da lag, bin ich kein Zwilling. Wenn ich allerdings meinen Doppelgänger ansehe ...  Darf ich fragen: Ist die Kollegin von der Pathologie fündig geworden?“
„Pastor Speckmann starb an einer sauberen, glatten Schussverletzung, ohne Tamtam und Chi-chi. Ihre Eltern durch die Unfallverletzungen. Die beiden Giftopfer müssen Zwillinge gewesen sein, und die Annahme, dass es sich um eine Vergiftung mit diesem Rizinus -“
„Rizin.“
„Von mir aus. Rizin also, gehandelt hat, war korrekt. Ja, und die KTU setzt gerade liebevoll den Imbisswagen zusammen. Ich glaube nicht, dass eine Gasflasche explodiert ist. Der Wagen stand da seit Jahren! Warum sollte plötzlich etwas explodieren, bei den ununterbrochenen Kontrollen durch das Ordnungs- und Gesundheitsamt!“
Der Kommissar seufzte. „Verflixt!“
„Sie denken an die Currywurst?“
„Reinlegen hätte ich mich können. Diese Chili-Mischung ... die war sein Geheimrezept!“
„Wohl wahr! Ich gehe jetzt zu Irem! Der Döner ist solide, er übernimmt sich allerdings gern mit der Sauce! Aber, wenn man aufpasst, und ihn rechtzeitig stoppt -“

„Ich habe schon wieder zugenommen! Ich bin ganz verzweifelt! Was soll ich nur tun, Gabriel?“
Meine liebe Schwester Wally saß mit mühevoll eingezogenem Bauch auf einem Drehschemel. Trotzdem spannte ihr Schwesternkittel, und die Knopfleiste spannte heftig, so dass immer zwischen zwei Knöpfen ein Oval entstand, durch das ein wenig Wally sichtbar wurde. Ich ging auf sie zu und umarmte sie. 
„Ich bekomme meine Hände nicht zusammen!“, lachte ich, künstlich ächzend, obwohl sie sich mühelos hinter ihrem Rücken berührten.
„Du Flegel! Das verletzt mich!“
„Ist doch nur Spaß! Autsch, ist der heiß!“ 
Ich rührte heftig in meinem Becher und pustete auf die Oberfläche der schwarzbraunen Flüssigkeit. „Kalt kann ich nicht kochen, schon gar keinen Kaffee!“, behauptete Wally etwas schnippisch. 
„Im übrigen bist du gar nicht dick. Du bist großzügig dimensioniert. Und das steht dir zu. Immerhin bist du hier die leitende Schwester. Ach! Dabei fällt mir ein: Könntest du als solche dafür sorgen, dass diese Proben im Labor zügig bearbeitet werden? Du hast doch da deine Beziehungen, oder?“
„DNA?“
„Genau.“
„Ich kümmere mich darum. Sag mal - ich will ja nicht neugierig sein, aber der Patient auf der Intensiv - bist du -„
„Wally, nicht du auch noch! Nein! Nicht verwandt und erst recht nicht verschwägert!“
„Entschuldige bitte! Man wird doch wohl noch fragen dürfen!“
„Schon recht! Es ist nur - ich werde das heute ununterbrochen gefragt. Wenn das hier ein schlechter Krimi wäre, könnte man meinen, dem Autoren sei nicht Besseres als Running Gag eingefallen.“

Ich begab mich zum Schwesternwohnheim, um mein Provisorium zu beziehen. Sind sie schon einmal bedroht worden? Oder haben sie sich beobachtet gefühlt? Was? Nein, natürlich halte ich sie nicht für paranoid! Das stünde mir gar nicht zu. Dafür kennen wir uns nicht lange genug. Und auch nicht so gut, dass ich mir eine solche Diagnose ihres psychischen Zustands erlauben könnte. Aber, als ich durch die Eingangshalle schritt, auf den Haupteingang zu - ja, ich gebe es zu. Ich schaute jeden misstrauisch an, der mir entgegenkam. Verweilte einen Moment in einem der bequemen, roten Kunstledersessel, und schaute durch die Glasscheibe, ob da eventuell ein verdächtiges Subjekt auf mich wartete. Ich drehte mich um. Aber mein Blick fiel nur auf das prächtige, riesige Mosaik, eine Darstellung der Geschichte vom barmherzigen Samariter.

Ein greller, schneidender Schmerz fuhr wie ein Blitz durch meinen Kopf, und schränkte für den Bruchteil einer Sekunde meine Sehfähigkeit ein. Vermutlich ein Migräne-Anfall. Na prima. Etwas frische Luft würde mir guttun.

Ich erhob mich also, und trat ins Freie. Na gut. Die 150 Meter bis zum Wohnheim würde ich wohl ohne Anschläge überleben! Vorsichtig beschritt ich den Weg, darauf achtend, nicht auf die Fugen zwischen den Platten zu treten. Eine meiner Neurosen. Verfehlte ich die Platte, trat ich auf die Linie, war dies als unglückliches Vorzeichen zu werten. 

Mit jedem Schritt wurden meine Beine schwerer. Fast hatte ich den Eindruck, dass die Platten aus Gummi waren, unter meinem Gewicht nachgaben und das Gehen zusätzlich erschwerten. Das Wohnheim glitt plötzlich unaufhaltsam in die Ferne, immer weiter von mir weg. Je schneller ich lief, um so weiter entfernte es sich. Ich fühlte mich schwach, war aber nicht zur Aufgabe bereit. Plötzlich wuchs seitlich aus dem Gebäude, einer gewaltigen Erektion gleich, ein Turm in die Höhe. Da stand nicht mehr das Schwesternwohnheim. Da stand die Petri-Kirche, deren Portal sich nun öffnete. 

Pastor Speckmann trat heraus, das blutverschmierte und von Schmauchspuren umrahmte Einschussloch in der rechten Schläfe. Er schien mir zuzuwinken. Ich erwiderte den Gruß. Jetzt sah ich, dass seine Geste nicht mir gegolten hatte. Ein junger Mann stolperte auf ihn zu, nur mit einem hinten geöffneten Klinikhemd bekleidet. Ich konnte sein Gesicht nicht erkennen und auch die Worte nicht verstehen, die die beiden wechselten. 

Ich mühte mich, schneller an sie heranzukommen, aber je mehr ich kämpfte, um so länger erschien die zurückzulegende Distanz. Ich begann, zu rufen. Der Priester war plötzlich verschwunden. Ruckartig drehte der Mann im Hemd sich um. Ich fuhr zusammen. Der Patient von der Intensivstation. Mein Doppelgänger. Die Augen waren geschlossen, dennoch schien er mich wahrnehmen zu können. Da, wo eben noch das Gebäude gestanden hatte, erstreckte sich eine tiefe Schlucht, an deren Rand wir standen. Er machte einen Schritt rückwärts, auf den Krater zu. Ich erkannte die Gefahr und streckte meine Hand aus, um ihn zu halten. Er konnte die Gefahr nicht erkennen. Er schwankte, verlor das Gleichgewicht, und stürzte lautlos in die Tiefe. 

Ich stieß einen Schrei aus. Ohne zu wissen, was ich tat, rannte ich auf den Abgrund zu.


( Es ist wirklich erstaunlich. Ich denke, dass das jeder von uns kennt. Es gibt Beziehungen zwischen Menschen, die so eng, so absolut sind, dass sie Außenstehende in Erstaunen versetzen. Seelenverwandtschaft, nennt man das. Es gibt Menschen, die zusammengehören. Zumindest für eine gewisse Zeit. Vielleicht sogar für immer. „Immer“ müsste man dann aber noch definieren. Immer? Was soll dieser Begriff, wenn Naturgesetze ungültig werden? Wenn mathematische Grundregeln die Bedeutung verlieren? ) 

1+1=1

Mir wurde schwarz vor Augen. Ich stürzte, unaufhaltsam, in den Höllenschlund. 

Ich meine: Was hatten sie erwartet? Wenn man sich in eine Untiefe wirft, dann fällt man eben. Endlos. Immer weiter. Aber - was war das? Der Aufprall erfolgte schneller und war nicht so heftig, wie ich befürchtet hatte. Vorsichtig versuchte ich, die Augen zu öffnen. Zumal da sich eine Hand auf meine Schulter legte. Zunächst gab es nur den Unterschied zwischen hell und dunkel. Ich blinzelte. Langsam konnte ich erste Konturen ausmachen. Dennoch blieb das Bild unscharf. 
„Herr Doktor, ist ihnen nicht gut? Was ist denn passiert?“ 
Die Worte, gesprochen von einer weiblichen Stimme, drängten gedämpft, wie in Watte verpackt, an meine Ohren. 
„Kommen sie! Ich helfe ihnen auf!“
„Was ist passiert?“
„Das müsste ich eigentlich sie fragen, oder? Sie kamen vom Haupteingang und gingen in Richtung Schwesternhaus! Plötzlich sind sie stehengeblieben. Völlig reglos. Einige Minuten lang. Und dann sind sie wie ein Schlafwandler den Weg herabgetorkelt, die Augen weit aufgerissen! Beängstigend! Hier, vor der Tür des Wohnheims, sind sie gestolpert, und hingefallen. Ich dachte schon - ich meine, gab es eine Feier auf Station? Oder nehmen sie im Augenblick Medikamente ein?“

Ich sah ihr direkt ins Gesicht. Ich kannte sie aus der Ambulanz. Eine Schwesternschülerin. Blond, rosafarbene Haut. Blaue Augen. Einen leichten Überbiss. Kräftige Statur. Aber ganz hübsch, wenn man auf diesen Typ stand. 

Die Dämmerung war hereingebrochen, und mit ihr die feuchte Kühle, die ich überhaupt nicht leiden konnte. „Kind, gehen sie rein! Sie holen sich eine doppelseitige Lungen-, oder gar eine Nierenbeckenentzündung!“
Sie wollte protestieren und atmete tief ein. „Aber -!“
„Ich weiß. Das ist auch lieb von ihnen. Glauben sie mir: Ich schaffe das. Ich muss noch einmal zurück auf die Intensiv, dann gehe ich schlafen.“ 
Ich musterte sie neugierig. „Was schleppen Sie denn in dieser Riesentasche umher?“
„Ich treibe Sport! Zum Ausgleich! Kampfsport und Meditation! Sehr entspannend! Sollten Sie auch mal versuchen!“ 
„Ich denke darüber nach!“, versprach ich heiter. Dann machte ich mich auf den Weg zur Intensivstation. Ich würde es ihnen gern erklären, aber - ich kann es nicht. Irgendetwas zog mich dorthin. Jeder andere Weg wäre mir gefühlsmäßig versperrt gewesen. 

Was war eben bloß passiert? War es ein Traum? Was hatte mich in diesen Trance-Zustand versetzt? Die Bilder waren alle so deutlich gewesen. Alles lief wie ein Film ab. Mit etwas künstlerischem Talent hätte ich die Szenen nachzeichnen können. Wenn ich in mich hineinhorchte, spürte ich immer noch den Sturz in den Abgrund. Als Kind hatte ich viele Fallträume. Auch später,  im Erwachsenenalter, kamen diese immer wieder vor. Fallträume waren mit 37,3% die häufigsten aller Alpträume. In der Literatur wurden sie gern als Ausdruck von Machtlosigkeit, Kontrollverlust, geringem Selbstvertrauen und Ängsten bewertet. Ich selbst stand eher auf Seite der Schulmedizin, die den Auslöser in Depressionen, allerdings auch in Herz-Kreislauf-Erkrankungen, begleitet vom Absinken des Blutdrucks, sah. 

Aber dies hier war anders. Klare Bilder, wie im Film. Mein Doppelgänger. Mein Spiegelbild. Mein Alter Ego? Ich musste das klären. Oft genug musste ich mich als Arzt in andere Menschen hineinversetzen, hineinspüren. Wie weit würde meine Fähigkeit zur Empathie reichen? Konnte ich zu ihm durchdringen? Mich vielleicht sogar in ihn hineinversetzen? 

Das orangefarbene Folterinstrument in meiner Kitteltasche machte sich bemerkbar. „Schwester Waltraut für Dr. Glaser, bitte!“, knackte und rauschte es an meinem Ohr. Ich wechselte die Richtung und erwischte meine Wally, die eben an die Nachtschicht übergeben hatte. „Schön, dass ich Dich noch erreicht habe! Ich habe das Ergebnis der DNA-Profile. Leider noch nicht schriftlich, aber Frau Peter-Riedel schickt den Befund morgen. Sie hat mit aber den Befund gesagt. Weil‘s schnell gehen sollte.“
„Das ging aber fix! Und?“
„Sie fühlte sich veralbert. Beide Proben stammten von demselben Menschen, sagte sie. Einhundert Prozent Übereinstimmung. Irrtum ausgeschlossen.“ 

Ich gebe zu: Ich hatte das erwartet. Wir waren dieselbe Person, nur auf zwei Körper aufgeteilt. Ich nahm Wally in die Arme. „Dankeschön, Du Grundgute!“, flüsterte ich ihr ins Ohr. 
„Alberner Kerl! Keine Zärtlichkeiten nach Dienstschluss!“, lachte sie. „Ich muss los. Wir sehen uns morgen!“

„Vor einer Dreiviertelstunde haben wir gedacht, wir verlieren ihn“, stellte Gerald fest. „Er fing an, zu krampfen. Spastiken überall. Tachyarrhythmia absoluta. Pupillen wie Untertassen. Kein schöner Anblick. Und dann, plötzlich, fing er sich wieder. Dauerte nur wenige Minuten, der Krampf. Jetzt ist alles wieder schick!“

Ich legte meine Hand auf Geralds Rücken, als gelte es, ihn für bevorstehende Ereignisse zu unterstützen. „Es kann sein, dass das gleich wieder losgeht. Spasmolyse, Metoprolol und Amiodaron i.v., und den Defi im Anschlag, wenn ich bitten dürfte!“

Gerald sah mich an. „Huch? Was hast Du vor?“
„Eine interne Befragung, gewissermaßen!“

Ein unvoreingenommener, uninformierter Beobachter hätte uns, uns beobachtend, für Brüder gehalten. Ein Liebespaar, vielleicht. Ich hatte seine Hand ergriffen und hielt sie in meiner, was nicht ganz einfach war, weil zwei Verweilkanülen dort steckten, eine auf dem violett verfärbten Handrücken, eine daumenseits am Handgelenk. Ich wusste nicht, womit ich zu rechnen hatte. Ob ich wieder in eine Art Trance fallen würde? Würde eine Art Energiefluss zwischen uns entstehen? Wie elektrischer Strom?

Egal was. Wenn etwas passierte, sollte es bitte bald geschehen. Entsetzlich, dieses eintönige Piepsen des Monitors. Die Infusionen liefen über die surrenden Tropfenzähler ein. Die Perfusoren summten, die Beatmungsmaschine keuchte rhythmisch. Wenn man noch nicht müde war - hier wurde man es. Geradezu hypnotisch. Indirekte Beleuchtung, gedämpfte Geräusche. Ich beobachtete die bunten Kurven auf dem Monitor. 

Er schlug nicht die Augen auf. Er sah mich auch nicht an. Dieses Wahrnehmen lag jenseits der Vorstellung eines Blicks. Es handelte sich um eine Art selbstverständlicher Empfindung, wie man einen Körperteil  zuordnen kann, oder seine Position im Raum. Ich fühlte, was er fühlte. Es kam mir so vor, als fänden dieselben Ereignisse, Gefühle, Geschehnisse parallel in zwei Köpfen statt. Angst, Schmerzen. Panik. Entmutigung. Der Unfall meiner Eltern, die Verzweiflung meines Vater, der vergeblich versucht, zu bremsen. Ängstliche Schreie meiner Mutter. Die Überraschung von Pastor Speckmann, und sein Erschrecken, bevor die Kugel ein Loch in seinen Kopf schlägt. Die Schmerzen der Zwillinge, Ringen um Luft, ein Gefühl, als zerrisse der Brustkorb, bevor es um sie die Nacht hereinbricht. Der Trommelfell zerreißende Knall der Explosion, das Gefühl eisiger Kälte auf der Haut, das plötzlich in verzehrende Hitze umschlägt und sich blitzschnell über den gesamten Körper ausbreitet. 

Ich musste keine Fragen stellen. Ich fühlte seine Antworten. Alles, was in meinem Verständnis lückenhaft war, füllte er auf, genauso, wie ich die bei ihm fehlenden Puzzleteile ergänzen konnte. Worte waren nicht erforderlich. Es war - ja, wie ein Datenaustausch. Zwei Festplatten, deren Inhalte sich gegenseitig komplettierten. Zwei Personen, und dennoch eins. 

Ich erkannte, was ich zu tun hatte. Er hatte es mir gezeigt, mich der Lösung näher gebracht. Schon sehr bald würde ich das Rätsel meiner, unserer Existenz lösen können. Denn war ich im Alter von 4 Jahren gestorben, dann teilte er unweigerlich dies Schicksal. Genau, wie die Mordanschläge uns beiden galten, nicht nur ihm, nicht nur mir.

Er ließ mich gehen. Ich hasste dies Gefühl. Es war, als hätte man einen Freund gefunden, jemanden, der einen ergänzt. Der alles darstellt, was man vermisst. Um dessen Fehlen man weiß, ohne es exakt benennen zu können. Ich hatte ihn gefunden, nur, um ihn gleich wieder loslassen zu müssen. Und so gespenstisch die Szenarios waren, in die ich entführt wurde: Mit ihm gemeinsam hatte ich das Gefühl, jede Prüfung bestehen zu können.

„Alles gut, Herr Kollege! Wir haben sie zurück! Bitte tief schnaufen! Ja? Tief einatmen!“ 
Mit einiger Überraschung stellte ich fest, dass man mich auf einer Untersuchungsliege deponiert hatte. Eine Infusion lief über einen zentralen Zugang, mein Brustkorb war verbrannt. Es roch ekelhaft. Nein, es stank. Haben sie schon einmal ein paar Haare in eine Kerzenflamme gehalten? 
Ich tat, wie der diensthabende Kollege der Anästhesie angeordnet hatte. Ich atmete so gut und so tief, wie ich konnte. Bei Narkoseärzten weiß man nie. Denen sitzt der Tubus locker im Halfter, und plötzlich wirst du beatmet, ohne widersprechen zu können.

Gerald erzählte mir später, dass wir beide, mein bewußtloser Bruder und ich, zeitgleich mit einem Krampfanfall begonnen hätten, sowie generalisierten Spastiken, ähnlich denen, die er zuvor allein erlitten hatte. Dazu kam noch heftiges Vorhofflimmern. 

Ich durfte keine Zeit verlieren. Ich musste zu dem Ort, den ich nun wiederholt in diesem eigenartigen Zustand besucht hatte, und an dem die Lösung des Rätsels zu finden sein musste; zur Petri-Kirche. 

„Haben sie sich das gut überlegt, Kollege Glaser?“, fragte mich der Narkosearzt. 
„Ich habe keine Wahl.“
„Dürfte ich Sie bitten, mir eine Bescheinigung zu unterschreiben? Wissen sie, ich bin noch nicht so lange im Hause, und wenn ihnen etwas passiert, bin ich die Stelle los!“

Er entfernte mir die Zuleitungen. „Soll ich den zentralen Zugang ..  “
„Ja, bitte. Raus damit.“

Ich machte mich wenig später auf den Weg. Altenwalder Chaussee, Abendrothstraße, rechts in die Poststraße, die sich in Feldweg umbenannte. Dann rechts durch die Hermann-Allmers-Straße, in Richtung Deich zum Arno-Pötzsch-Platz. Das sonst eher nüchtern wirkende Kirchen-Gebäude wirkte, bei spärlicher Beleuchtung durch ein paar Straßenlaternen, abweisend in seiner Kompaktheit. Die langen Schatten der Bäume, die sich im Wind bewegten, zeichneten nervöses Leben an die Backsteinmauern. Drohend ragte der Zeigefinger des Glockenturms empor.

Da öffnete sich geräuschlos das Portal. Komisch. Ich hatte angenommen, dass es knarren würde, so wuchtig es war, Eichenholz, und gusseiserne Beschläge. Im Vorraum flackerte unruhig ein Licht, und ich erkannte Umrisse, die mir inzwischen wohlbekannt waren. Die Tatsache, dass die Person erhöht stand, und das Flimmern des Lichts, das Spiel von Schein und Schatten ließ sie gewaltiger erscheinen, als sie war. Vielleicht trug meine Unsicherheit noch zu meinem Gefühl bei. Irgendetwas zwischen Neugier und Panik.


( Wohlmöglich denken Sie, Gottseidank, dass der Schmarrn endlich vorüber ist. Ich gebe zu, dass ich es doch ganz interessant fand, über das Thema nachzudenken. Ich habe beruflich ja viel mit Leben und Tod zu tun gehabt, und so sehr, wie ich die Sehnsucht der Menschheit nach tröstlicher Mystik im Sinne von Wiederauferstehung, Wiedergeburt oder Leben im Paradies verstehe, erschreckt mich persönlich die Vorstellung einer Ewigkeit mehr, als sie mich beruhigt. Irgendwann hat man doch auch mal etwas Ruhe verdient, oder? Deswegen wagen wir ihn mal, den )

Blick nach vorne

„Guten Abend, Herr Doktor! Was führt sie hierher?“

Kalt und metallen klang die Stimme. Mitleidlos. So hätte sich die böse Hexe in den Grimm'schen Märchen angehört. Nur, dass böse Hexen vermutlich keine grauen Acryl-Pullover trugen.

„Guten Abend, Frau Neugebauer! Sie hier? Um diese Zeit?“ 
Sie würdigte mich keiner Antwort. Mit einem herrischen Winkzeichen bedeutete sie mir, ihr in die Kirche zu folgen. Beim Betreten des Vorraums sah ich, dass das Flackern verursacht wurde durch zahlreiche Gebetskerzen und Opferlichter auf dem schmiedeeisernen Ständer. Aus dem Wind war ein Sturm geworden, der vom Wasser her um das Gotteshaus pfiff. 

Das rasche Klicken ihrer Absätze auf dem Steinfußboden zeigte mir an, dass sie sich in Richtung des Altars in Bewegung gesetzt hatte. Bis hierher drang das Licht aus dem Vorraum nicht. Ein matter Schein von den Straßenlaternen her kämpfte sich durch die gelbfarbenen Kirchenfenster. Meine Atemluft kondensierte beim Ausatmen. Ich zitterte. Kaum war ich in der Lage, meine Finger zu bewegen. 

„Sie erweisen sich als recht zäh, Herr Doktor!“, schnarrte Frau Neugebauer. „So hartnäckig wie sie hat sich mir keiner widersetzt!“ 
Sie lachte schrill. Größer hätte ein Gegensatz nicht sein können. Der Wandel von der altjüngferlichen, zimperlichen grauen Maus aus dem Gemeindebüro zu diesem apokalyptischen Wesen war schwer zu verstehen. 
„Und? Haben sie inzwischen die Antwort auf ihre Frage erhalten?“
Ich verneinte. Ich wusste immer noch nicht, was sich hinter den mysteriösen Vorfällen der letzten Tage, und schon gar nicht, hinter dieser überraschenden Erkenntnis, dass ich nicht mehr am Leben war - laut amtlicher Urkunde -, verbarg. 
„Für einen Akademiker sind sie nicht sehr beweglich, in ihrem Kopf! Folgen sie mir zur Krypta!“ 

Mir war bis dahin völlig unbekannt, dass St. Petri über so etwas wie eine Krypta verfügte. Neben dem Chor, hinter der Kanzel, gab es eine kleine Kapelle, in der gelegentlich Trauungen durchgeführt wurden. Auch meine Eltern hatten hier geheiratet. Hinter dem Altar gab eine Tür, die tatsächlich beim Öffnen knarrte, den Weg in ein enges Treppenhaus frei. 

Vorbei an verstaubten Bücherregalen, in denen neben diversen Wälzern und Schriften auch sakrale Gegenstände wie Leuchter, silberne Teller und Kelche standen, führte unser Weg. Das Regal an der Stirnseite des Raums ließ sich durch Druck auf ein Paneel zur Seite bewegen. 

Frau Neugebauer legte einen Hebel um. Schlagartig blendete mich grelles Licht. Ich traute meinen Augen kaum. Eine riesige Halle, die wohl unter dem angrenzenden Sportplatz lag, sich aber vermutlich weit über diesen hinaus erstreckte, sicher noch über die Gorch-Fock-Straße hinaus, bis an den Feldweg heran. Einige Räume, vermutlich Laboratorien und Büros, waren durch Glaswände abgetrennt. Im Zentrum der Halle standen auf metallenen Podesten mindestens einhundert große Glaszylinder, in denen, in einer gelblich-trüben Flüssigkeit, dunkle Objekte schwebten, die von humanoider Gestalt zu sein schienen. Alle diese Röhren waren mit Schläuchen und Kabeln miteinander verbunden. Diverse, rhythmische Geräusche, wie von einem Motor, oder eine Pumpe, drangen an meine Ohren, außerdem das Summen von Ventilatoren, die offenbar die Prozessoren einer riesigen Computeranlage kühlten. Diverse Anzeigen und Knöpfe blinkten lebhaft, einer undurchschaubaren Gesetzmäßigkeit folgend.

Schlagartig erinnerte ich mich an das Glas auf dem Boden meines Wohnzimmers, nach dem Einbruch. Das Glas, das mir soviel Unbehagen, Angst und Beklemmung verursacht hatte. Es stellte zwar nur die Miniatur-Ausgabe der Zylinder dar, entsprach allerdings exakt deren Form und Aussehen. 

„Setzen sie sich!“ 
Das Kommando war bestimmt und duldete keinen Widerspruch. Ich sank auf einen der Sessel in dem büroartigen Eingangsbereich. Meine Gastgeberin blieb dicht vor mir stehen. Erstaunlich, wie riesig sie wirkte. Ich hätte geschworen, dass sie mindestens einen Kopf kleiner war, als ich. Jetzt überragte sie mich wie ein bedrohlicher, schwarzer Turm. 

Sei vorsichtig! Ich hörte diese Worte nicht. Es war auch kein Selbstgespräch, oder ein Gedanke. Ich nahm dies wahr. Der Satz formte sich, verwaschen, zunächst, in meinem Kopf, dann verzog sich der Nebel. Die Worte meines Alter Ego. Sie traten klar zu Tage. Sei vorsichtig! 

„Das hier“, begann meine Gastgeberin, „sind sie.“ 
Sie wies mit einer umfassenden Gebärde auf die Röhren. 
Ich begriff. 
„Alle?“
„Nur die ersten 5. Ihnen ist klar, worum es sich hier handelt?“
„Klone?“
„Na endlich. Ich dachte, ich müsste ihnen eine Zeichnung machen.“ Sie kicherte spöttisch.
„Bei ihrer Geburt zeigte sich, dass sie an einer Erbkrankheit litten. Zysten, die sie über kurz oder lang ins Nierenversagen bringen würden. Ihre Eltern machten unser ... Institut“ - sie hüstelte, bevor sie das Wort ‚Institut‘ aussprach - „ausfindig. Wir schlugen vor, den Gen-Defekt zu reparieren, und sicherheitshalber Stammzellen zu Anzüchtung neuer Organe zu entnehmen.“

„Moment! Das war vor 35 Jahren! War man denn Anfang der achtziger Jahre schon - “ 
„Selbstverständlich! Glauben sie, dass es etwas nicht gibt, nur weil es nicht in der Öffentlichkeit breitgetreten wird? - Wir haben sie geklont, also, die korrigierte Version von Ihnen, nachdem wir die fehlerhafte Sequenz herausgeschnitten hatten. Dann sind sie - also, ihr Original - verstorben. Aber wir hatten ja Ersatz. Ein Klon wurde aktiviert, und ihren Eltern zur Verfügung gestellt. Niemand hat etwas gemerkt. Es gab zwar eine Sterbeurkunde, aber offiziell wurden sämtliche Papiere dahingehend ‚bearbeitet‘, dass es sich bei dem verstorbenen Kind um einen Zwilling gehandelt hatte.“

„Das bedeutet, dass ich - “
„Genau. Sie sind nur eine Kopie. Übrigens genau wie ihr Klon, den ich überfahren habe! Ein Fehler im System. Seine Kammer war defekt, er konnte entkommen. Haben sie sich nicht gewundert, wie perfekt er sie ersetzte? Keiner hat gemerkt, dass es sich um eine Kopie der Kopie handelte!“ Sie lächelte böse.

Ich war bestürzt.

„Warum das alles? Was habe ich Ihnen getan?“
„Sie wurden zu neugierig. Bereits ihr Vater wusste zu viel über uns, und er kam uns in die Quere, als wir unser Wissen, sagen wir mal, kommerziell ausnutzen wollten. Wir hatten viele gut betuchte Interessenten. Russische Oligarchen, amerikanische Ölmilliardäre, Drogenbosse aus Kolumbien, asiatische Diktatoren und Religionsführer. Wir hatten den Schlüssel zum ewigen Leben in der Hand. Aber ihr Vater meinte in einem Anfall von Moral, dass man einen Fehler macht, wenn man korrupten oder verbrecherischen Führern dazu verhilft, für immer weiterzuleben. Deswegen musste er beseitigt werden.“
„Aber der Klon an sich nützt doch nichts! Er mag ein lebendiger Mensch sein, aber sein Leben, Wissen, Erfahrungen, Talente - “

Im Blick der Frau Neugebauer blitzte etwas auf, was man als Stolz interpretieren konnte. Sie zeigte auf den Computer. „Alles gespeichert. Wir haben eine Bio-Schnittstelle in den zentralen Nervensystemen installiert, über die wir alle Informationen, die im Gehirn des aktiven Klons gespeichert sind, and die passiven Klone übertragen können. Außerdem ist es möglich, Informationen, an deren Existenz wir kein Interesse haben, zu löschen und eine gewissermaßen bereinigte Version aufzuspielen!“

Das also war der Grund, weswegen zwischen meinem Doppelgänger und mir dieses unsichtbare Band bestand, über das wir kommunizierten. Wir waren tatsächlich eine Person. Wir konnten auch ohne Computer Informationen austauschen, wie zwischen den Hälften desselben Gehirns.

„Wir haben versucht, uns ihrer zu entledigen. Alle, die Bescheid wussten, wie der Pfaffe, dieser Einfaltspinsel, oder der Currywurst-Verkäufer, wurden eliminiert. Ausgerechnet Speckmann! Er wollte ihnen die Wahrheit sagen! Ich habe sogar zwei Klone aktiviert, die sie beseitigen sollten.“
„Die Zwillinge!“
„Genau. Aber die waren schwach, und stellten sich auf ihre Seite. Mehr noch. Sie waren drauf und dran, ihnen alles zu erzählen! Gut, dass sie durch das für sie bestimmte Gift, dass wir bei dem Einbruch hinterließen, beseitigt wurden. Zwei Probleme weniger. Wir haben die ganze Serie exterminiert.“

„Und in all diesen Aquarien - “
„ - sind inaktive Klone, die allerdings ständig Updates empfangen. Bei Bedarf auch korrigierte Updates. Vor kurzem starb der afghanische Staatschef bei einem der Attentate. Haben sie davon gehört?“
„Nur von den Attentaten. Nicht vom Tod des Staatschefs.“
„Eben.“ Triumphierend richtete Frau Neugebauer sich auf. „Es drang nie an die Öffentlichkeit. Wir ersetzten ihn durch seinen Klon. Die Weltöffentlichkeit hat nichts mitbekommen.“

Ich sank in meinem Sessel zusammen. 
„Sie können mich nicht mehr gehen lassen. Ich weiß zu viel.“, stellte ich nachdenklich fest. 
„Stimmt auffallend,“ bestätigte die ehemalige Sekretärin. „In diesen Sekunden begibt sich ein Mitarbeiter auf die Intensivstation des Stadtkrankenhauses und injiziert ihrem Klon eine Dosis des Rizin-Derivats.“
„Und was haben sie mit mir vor?“

Blitzartig schnell spürte ich die kalte, ringförmige Mündung an meiner rechten Schläfe. Der Knall der Waffe war sehr laut. Ich nahm einen gleißend hellen Kreis in weiter Distanz wahr, dessen zunächst scharf konturierter Rand in alle Richtungen hin zu zerfließen schien. Dann wurde es dunkel.

Es war ein herrlicher Tag. Blauer Himmel, buntes Laub in strahlender Sonne. Der Herbst schien die Versprechen, die der Sommer gegeben hatte, einlösen zu wollen. Entsprechend gelöst und aufgeräumt war meine Laune. 

„Guten Morgen, Schwester Waltraud! Na? Hatten sie ein schönes Wochenende?“
„Seit wann siezt du mich denn? Ja! Nur viel zu kurz war es! Ich brauche dringend Urlaub! - Ach, übrigens, Frau Peter-Riedel hat den schriftlichen Befund der DNA-Profile geschickt! Hast Du gehört? Dein Körperdouble hat den Unfall nun doch nicht überlebt! Er ist gestern Nacht gestorben!“

Ich nickte. „Sehr schade. Ich hätte mich gern mit ihm unterhalten! So, ich gehe mal frühstücken! Nachher ist Chefvisite, oder?“
„Hör bloß auf. Der Alte hat eine Laune heute! Hat mich schon angeblafft, weil er die Unterlagen einer Privatpatientin nicht fand! Was, bitte, hab ich mit Privatpatienten zu tun?“

Frau Babrack strahlte mich an. „Guten Morgen, Herr Doktor Glaser! Kaffee und Franzbrötchen, wie gewöhnlich?“
„Pfui Teufel! Franzbrötchen! Ich hasse Zimt! Nein, lieber eins von diesen Mohnbrötchen mit Käse!“
Frau Babrack sah mich überrascht an, verkaufte mir dann aber das Gewünschte. Wenn auch widerstrebend. „Sie tragen zwar den richtigen Kittel, Herr Doktor. Aber diesmal sind sie anders.“

Später am Tag, nach der Chefvisite, meldete sich der Kommissar. Es sei durch genetische Spuren nachgewiesen, das die Zwillinge die Bremsen im Wagen meiner Eltern manipuliert hätten. Frau Neugebauer hätte ihren Schock überwunden, sich erinnert und ausgesagt, dass diese vermutlich auch die Täter im Mordfall des Pfarrers waren. Die Waffe hatte sich angefunden. Auch dort hätte man Spuren gefunden, die ihre Aussage bestätigten. Die Explosion des Schnellimbiss' sei auf eine defekte Propangasleitung zurückzuführen. Hinsichtlich Einbruch und Vergiftung ermittele man noch. Ob man die Täter allerdings jemals - vielleicht osteuropäische Banden? Man ermittele nach allen Seiten. 

Irem versorgte mich mit einem Döner Kebap. Mit alles. Mit scharfe Sauce. Ich war schon einige Zeit nicht mehr in meiner Wohnung gewesen. Der Kühlschrank war mit Sicherheit leer.

Ich fuhr kurz an meinem Elternhaus in der Wissmannstraße vorbei. Gleich morgen würde ich einen Entrümpler anrufen. Zur Habe meiner Eltern hatte ich keinen sentimentalen Bezug mehr. Und dann den Makler, um die Liegenschaft zu veräußern. Können sie sich vorstellen, dass ich im Kofferraum meines Wagens lauter Fotoalben fand, die mein Leben dokumentierten? Wirklich. Ich glaube, meine Mutter hatte einfach zu viel Zeit. Sie hat es bestimmt lieb gemeint, aber ich hatte an derlei kein Interesse.

Ich betrat meine Wohnung im Strichweg. Endlich zu Hause! Morgen würde ich einen Supermarkt leerkaufen. Wo waren eigentlich die Wohnzimmer-Sessel? Das Sofa? Im Schlafzimmer fehlte die Matratze auf dem Bettgestell. Ich konnte mich nicht erinnern. Das geht mir öfter so, in der letzten Zeit. An manche Dinge kann ich mich einfach nicht erinnern. Vermutlich willst du dich bloß nicht erinnern. Aber wer weiß, wozu es gut ist, hätte Mama gesagt. Und: Das Leben geht weiter. Immer weiter. Das erwähnte sie besonders gern.

Ich weiß, meine Damen und Herren, dass sie mir recht geben. Kümmern wir uns nicht mehr um das, was war. Kümmern wir uns um die Zukunft. Ausschließlich. Dieses Leben im Gestern führt doch zu nichts. Die Vergangenheit ist abgehakt. Vergessen wir alles, was war. Erinnerungen machen sentimental. Sie halten auf. 

Ich merke, dass ich in meiner persönlichen Entwicklung einen riesigen Schritt nach vorn gemacht habe. Die Zeiten ändern sich, und wir ändern uns mit ihnen. Die Zukunft ist zum Greifen nahe. Ich blicke von jetzt ab nach vorne. 
Nur nach vorne.