„Fortsetzung - die 5., oder?“ oder „Ein Platz an der Sonne“
Ich hatte gar nicht geglaubt, dass Felix sich melden würde. Wir waren auseinandergegangen, wie halt Kumpels auseinandergehen. Kameraden. Männer. Ok, ich pack’s dann! Servus, Tschüß, mach’s
gut, wir sehen uns, alles klar, schönen Abend noch. Verlegen-distanziertes Schulterklopfen. Pass auf dich auf! Gezwungen heiter, mit falschem Lächeln, das man auch aufsetzt, wenn jemand fragt,
wie geht es dir, und man antwortet, ja, nee, muss ja. Seien wir zufrieden.
„Hast Du mal Zeit, zu telefonieren? Wegen L.?“ Das stand in der weißen, also seiner, Sprechblase. In meine Grüne schrieb ich „Nicht doch lieber Erdbeerbecher?“ Dann folgte, nach einer
kleinen Ewigkeit, ein „Ok. 13 Uhr? Da hab ich Pause!“ Und stylish, wie ich bin, entschied ich mich für das coole ‚Daumen hoch‘-Emoji. Wie man das so macht, unter jungen Leuten. Auf
WhatsApp, zumindest. Nicht auf den sozialen Netzwerken, auf denen nur ältere Leute unterwegs sind. Ziemlich lässig, oder?
Es ist ungeheuer schwierig, das Folgende aufzuschreiben, in heiter-unterhaltsamem Ton, mit einem Augenzwinkern. Ich schreibe gern lustig und detailgetreu, aber das bietet sich hier nicht an,
denn das ginge nicht, ohne Gefühle, Vertrauen, Respekt zu verletzen.
Deswegen bleibe ich bei oberflächlichen und eher zusammenfassenden Andeutungen. Das was ich hörte, rührte mich zu Tränen. Seine Liebe, seine scheue Bewunderung für dies schicke junge Mädchen
aus der besseren Gesellschaft, die jeden, wirklich jeden hätte haben können, und hinter der alle her waren. Der Moment, in dem er es vollbrachte, ihr zu verdeutlichen, wie er für sie empfand.
Genau das, was man Sonntag abends ab 20:15 Uhr im ZDF sehen kann.
Aber auch die dann akut einsetzende Realität in Gestalt ihrer Freunde und, ganz besonders, ihrer Eltern. Unverständnis, rassistisch, voller sexueller Anspielungen der peinlichsten
Sorte.
Ich weiß, dass sich das sehr pathetisch anhört, aber ich hätte bezweifelt, dass es so etwas überhaupt noch gibt. Reinheit. Arglosigkeit. Redlichkeit. Oder? Wie geht es euch damit? Komm! Die
Kids sind doch alle so abgewichst, so ausgebufft. Cool. Nur auf ihren Vorteil bedacht. Und dann steht man jemandem gegenüber, der die personifizierte Unschuld verkörpert.
Es fehlt mir nicht an Worten, die Gespräche, die Leah’s Mutter mit ihm führte, zu protokollieren. Die Perfidie der Logik, die innerhalb dieses anmaßenden, falschen Weltbilds existiert und
dieses zusammenhält, ist so immens wie verdorben. Dieser höfliche, emotionslose Rassismus der gehobenen Mittelschicht, der sich in keiner Weise vom vorsichtigen, aalglatten Antisemitismus
dieser Klasse unterscheidet, ist widerwärtig.
Mir sind in meinem Leben solche Sätze immer wieder begegnet. Sie beginnen in der Regel mit „Ach wissen Sie, ich habe ja nichts gegen [Schwarze, Juden, Homosexuelle, Moslems, Politiker]. Das
sind ja auch Menschen. Beziehungsweise, fast. Aber wir müssen doch auch an Leah denken, an ihre Zukunft, nicht wahr! Die Gesellschaft ist leider noch nicht so tolerant, wie sie es eigentlich
sein sollte. Und eine derartige Mesalliance könnte meiner Tochter Türen vor der Nase zuschlagen, durch die sie - aus Karrieregründen - nun mal gehen muss. Das verstehen Sie doch sicher, oder?
Wenn Sie unsere Tochter wirklich lieben, wie sie behaupten, gibt es nur einen Weg, das zu beweisen. Sie müssen sich von ihr trennen. Außerdem bezweifele ich, dass Sie ihr das Leben bieten
können, das sie gewohnt ist!“
Da sitzt er nun vor mir, ein bildhübscher Junge, dessen Tränen in einen Erdbeerbecher tropfen. Er hat ihn nur pro forma bestellt, ohne ihn wirklich zu wollen. Immerhin gibt, wie dem Raucher
die Zigarette, der Löffel ihm Halt. Der Löffel, mit dem er die rosa Kugeln aus Speiseeis mit gezielten Stichen ermordet, stellvertretend für eine Mutter, die die große Liebe ihrer
Tochter hintanstellt, angesichts von eitlem Geld und Gloria.
Warum hassen Mütter ihre Kinder? Und warum lassen die Kinder sich dies gefallen? Ich würde die Dame gerne fragen, „Gnädige Frau [Damen dieser Art lassen sich gern mit ‚Gnädige Frau‘
ansprechen], liegt es daran, dass SIE Ihrer Tochter ihr Glück nicht gönnen, weil Sie selbst unglücklich geworden sind, inmitten Ihres Wohlstandes, Ihrer Wichtigkeit, Ihrer Mitgliedschaft im
Country Club, im Lions Club, oder bei den Rotariern? Trotz Tennisclub, und dem Seglerverein? Hat IHRE Mutter sie auch schon gehasst, wie Sie jetzt IHRE Tochter? Wie ist eigentlich Ihr
Handicap beim Golf? Respekt! Aber gerade dann, wenn ihre gesellschaftliche Stellung so gefestigt ist, müsste es doch möglich sein, ihrem Kind das NICHT zu verwehren, das SIE nie hatten,
obwohl Sie selbst sich immer danach gesehnt haben. Oder?“
Ja, das würde ich sie wirklich gern fragen. Ich reiße gern mein großes Maul auf. Besonders, wenn ich wütend bin. Ich bin nicht bereit, schweigend hinzunehmen, wenn jemand, den ich gern habe,
verletzt wird. „Sag mal, Felix“, taste ich mich heran, „meinst du, wir sollten mal gemeinsam mit Leah und ihrer Mama darüber diskutieren?“
Er erstarrt, blickt mich ungläubig und mit einer Art überraschtem Entsetzen an. „Du meinst -“
„Na ja“, erkläre ich. „Ich bin ja der Gesellschaftsschicht dieser Dame verhältnismäßig nahe. Und mehr als vernichtende Blicke und bösartige Phrasen kann sie mir nicht um die Ohren hauen. Ich
lasse dann einfach mal den Dr. med. heraushängen. Und benehme mich untadelig, auch wenn's schwerfällt. Trotzdem denke ich, solltest du vorher mit dem Mädel klären, wo ihr beiden, und wie sie
zu dir steht.“
Dann passiert etwas, was mich einfach umhaut. Wirklich. Ich schreibe das hier auf, und ich habe Schwierigkeiten, das Display meines iPad scharf zu sehen, weil ich heulen muss, wenn in mir die
Situation wieder aufsteigt. Und ich hoffe, dass ihr, die ihr das hier lest, verstehen könnt, was ich in diesem Augenblick empfand.
Felix zieht eine Brieftasche hervor, öffnet sie, und zieht ein verknicktes Foto heraus. „Ich hab das noch nie jemandem gezeigt“, flüstert er. „Nicht mal Leah.“
Und, nach einer winzigen Gedankenpause, fragt er mich, „Kann man so jemanden lieben?“
Ich begreife in diesem Moment schlagartig alles. Sein ganzes Leben. Seine Nöte, seine Ängste. Da ist die Antwort auf die Fragen, die man nicht stellt. Sein Kampf darum, jemand zu sein, wahr
und ernst genommen zu werden. Einen Platz zu finden, der ihm gehört, an dem er willkommen, geliebt und zu Hause ist.
Ich würde ihn gern in den Arm nehmen, was mir nicht gelingt, weil es in diesem Moment auch nicht wirklich passt. Ich bin völlig bewegungsunfähig. Erstarrt in Gefühlen und Gedanken. In meinem
Kopf dreht sich alles.
„Natürlich kann man“, antworte ich leise. „Man kann nicht nur. Man muss.“
Ich gebe ihm sein Foto zurück. Das Foto, auf dem ein kleiner, pechschwarzer Junge abgebildet ist, der etwas linkisch und verlegen auf dem Spielplatz einer Stadt steht, mit gesenktem Kopf,
fernab von den anderen Kindern. Allein. Wie verloren.
Und sehr, sehr dünn.