Smarter

Ich hab’s versprochen. „Wehe, Du schreibst noch mal so schlecht über den Smart!“, drohte mein Freund Hans-Peter. „Schreib gefälligst was Nettes über den Smart“, forderte Andreas. 

Sie kennen Andreas, oder? Andreas? Aus Bochum? Der weltbeste KFZ-Meister, Flaggschiff und Stolz der Firma Lueg? Der, der den „Meister“ zurecht führt, weswegen ich auch immer zu ihm und nur zu ihm gehen würde? Und der nicht nur außerordentlich charmant, sondern auch noch ein heiterer, entspannter Mensch ist? 

Ja, genau. Dieser Andreas. Zwecks Termin rief ich ihn an, und bat ihn auch um einen Ersatzwagen. „Vielleicht eine S-Klasse ...?“ 
„Geht’s dir noch gut? Einen Smart!“
„Och nee, nicht schon wieder! Eine C-Klasse?“
„Smart! Stell' dich nicht so an!“

Andreas ist supernett. Manchmal. 

Ja, und dann steht er vor mir. Der Smart, nicht Andreas. Wie goldig und knuffig! Und klein! Im Innenraum starrt mich viermal die Maske des Slashers aus den „Scream“-Filmen an. Ach nein, das sind ja die Dinger, aus denen Frischluft strömt. Luftdüsen, heißen die. Sagt Andreas. Wunderbar. 

Der Haltegurt zwingt mich an Ort und Stelle. Sogar etwas mehr, als mir lieb ist. Liebevoll versucht er, mich zu erdrosseln. In mitleidlosem Würgegriff schneidet er in meinen Hals. Atmen wird wirklich überbewertet. Wie war das in Hans-Peters Smart Roadster? In den ich zwar leicht hineinglitt, aber nicht mehr herauskam? Dabei dauerte es keine zwei Stunden, bis die Firma mit der Seilwinde zu Hilfe eilte. Ich neige zur Weichheit, und dazu, mich anzustellen, oder so ähnlich. Sagte Hans-Peter. 

Ja, der Smart! Die Vorteile sind mannigfaltig. Der Kofferraum verführt nicht zum exzessiven Einkaufen, weil so wenig reinpasst. Der knapp bemessene Raum in der Kabine sorgt dafür, dass man sich wieder einmal mit der Fortsetzung oder auch Neuaufnahme seiner Diät auseinandersetzt. Der Ton des Blinkers erinnert nostalgisch an das Knacken eines Blechfrosches aus der Kinderzeit. Wenn man ihn denn hört! Es ist ja doch recht laut, im Innenraum! Aber da hört man wenigstens das Gemecker nicht.  Oder das Radio. Aber die melden sowieso nur Staus, und so was Doofes. 

Die Sitze engen, im Gegensatz zum Gurt, nicht durch überflüssigen Seitenhalt ein. Das merkt man besonders an der sensiblen Straßenlage. Wirklich! Jede zarte Bodenwelle äußert sich rücksichtslos durch elchtest-ähnliches Schwanken, jede Unebenheit der Straße - und davon gibt es in Bochum viele! - fühlt sich an, als hätte soeben der Eisberg die ‚Titanic‘ gestreift.

Ich nutzte die Zeit, um gleich hinter der Grenze meinen allerliebsten Lieblingssupermarkt aufzusuchen, einen riesigen ‚Albert Heijn‘ Markt. Auf dem Parkplatz springt ein reizendes niederländisches Ehepaar auf mich zu, um mir herauszuhelfen, Erste Hilfe zu leisten und mir ein paar Käsewürfel zu reichen - ich muss etwas hinfällig gewirkt haben! Warum ich mir das in meinem Alter antue, fragen Sie mich in ihrem Idiom. Ich nicke traurig. „Altersarmut!“ 

Ja, davon hätten sie gehört, bestätigen sie mir mitleidig. Dabei sei Duitsland doch so ein reiches Land! Kaum zu glauben! 
Die beiden laben mich noch mit einem kopje koffie und verabschieden sich mit einem herzlichen Tot ziens. Merke: Der Smart führt auch unweigerlich zur Völkerverständigung! Wer hätte das gedacht! 

Ich muss noch mal hin. In meinem Wagen muss der Rückspiegel neu. Im Mai. Ich bekomme dann auch wieder einen Leihwagen. Einen Smart. Und ich freue mich darauf. Die Wunden an meinem Hals werden verheilen, irgendwann. Und ich schreib dann wieder was Nettes über den Smart. Versprochen! 


Das Gesetz der Serie

Gerade findet in Frankreich die „Canneseries“ statt. Heute geht es zu Ende, höre ich. Ein Festival, in dessen Verlauf Fernsehserien präsentiert werden und auf Auszeichnungen hoffen dürfen.

Fernsehserien? Ja, so war das früher einmal. Ich arbeitete mich durch Bonanza, Bezaubernde Jeannie, Tammy, das Mädchen vom Hausboot und Maxwell Smarts Abenteuer, durch den Forellenhof und die Familie Hesselbach, die Oma so gern hatte. 

Das Haus am Eaton Place, Graf Yoster, Percy Stuart, Am Fuß der blauen Berge, Rauchende Colts, Big Valley, Mannix, Columbo, Cannon und Detektiv Rockford umrahmten meinen Weg durch die Fernsehwelt, genau wie das brillante Ich heirate eine Familie, und der immer hochkarätig besetzte Kommissar.

Dann kamen die privaten Sender, und mit ihnen aufregende, spannende, neue Serien. Ich versank in Cagney und Lacey. T.J. Hooker. Airwolf. Baywatch und Knight Rider. Auch noch überschaubar. Alles sehr spannend und actiongeladen - wenigstens für damalige Verhältnisse. War doch klasse, wie MacGuyver sich mit Backpulver, einer Flaschenbürste und etwas Rost, von einem Teekessel geschabt, aus der Küche der sowjetischen Botschaft befreite, in die man ihn eingesperrt hatte, oder?

Erinnert sich noch jemand an Dallas und Denver? Ich gehörte zur Denver-Fraktion. Ich fand die Carringtons viel bunter als die Ewings.

Aber wo blieb das Lachen? Die Comedy? Man bescherte uns die Golden Girls, den All-Time-Klassiker, der bis heute nichts an Humor eingebüßt hat. Und dann brachen sie über uns herein, die lustigen Serien, die jede gesellschaftliche Sparte abdeckten. Will and Grace, Mike and Molly, How I Met Your Mother, The Big Bang Theory, Three And A Half Men, Two Broke Girls, New Girl. Kennt jemand noch Roseanne? Alf? A-Team? Star Trek?  Die einzige Serie, die ich komplett, Staffel für Staffel gesehen habe, und über die ich mich noch heute freuen kann, ist Friends. 

Und da sind wir schon bei einem der Hauptprobleme. Wenn mir mal was gefällt, dann wird garantiert die Produktion der Serie eingestellt, weil sie offenbar für die Amerikaner zu intelligent ist - zum Beispiel das schrille, bunte Pushing Daisies, oder das mysteriöse Roswell. Komisch, dass Twin Peaks so lange gelaufen ist. Aber das hat sowieso keiner zu Ende gesehen. Oder, das Fernsehen stellt, z.B. mangels Zuschauern, die Ausstrahlung ein. Von True Blood zeigte RTL II nur eine oder vielleicht zwei Staffeln. Oder - das geht mir immer so - der Enthusiasmus erlischt in dieser dämlichen Sommerpause. Völlig überflüssig, im Zeitalter der Festplattenrecorder. 

Es gibt Serien, in denen immer die gleichen Personen in immer neue Situationen gestellt werden. Krimis, zum Beispiel. Interessanter sind die Serien, in denen eine Handlung und, wünschenswerter Weise, auch die Charaktere sich weiter entwickeln. Man erkennt diese an dem stereotypen Anfangssatz: „Was bisher geschah ...“, wie bei Desperate Housewives. Oder dem Vorspann beim gruseligen, schrägen Gotham. Und was Crossovers und Spinoffs sind, wissen wir auch erst, seit Jessica Fletcher bei Magnum über den Bildschirm spazierte. Und eine liebgewonnene Figur aus Friends, Joey Tribbiani, in der Serie Joey floppte.

Wunderbare Serien wurden und werden produziert. Dys- und Utopien, Fantasy, Action/Crime ( Prison Break ), History, Comedy. Einige wurden zu einem Film verkocht, zum Beispiel Türkisch für Anfänger. Als Serie großartig, als Film eher lau. Heute macht man aus Filmen Serien, zum Beispiel Rush Hour. Als Film witzig und temporeich, als Serie eher gequält. 

Ja, und einige Serien kann man gar nicht sehen. Leider? Gottseidank? Wenn sie nur für „Online“ produziert sind. Netflix, Maxdome, Amazon, Sky. Merke: Heutzutage schaut man Serien nicht, man streamt sie. Und wenn Du nicht zum Kreis der Auserwählten gehörst, die sich gegen Gebühr auf diesen Portalen bewegen, dann wird das nichts mit Breaking Bad, The Walking Dead, Babylon Berlin, Game of Thrones, House of Cards. Nur gelegentlich gibt es einen Wechsel zum Free-TV. Und dann kann man nicht mehr mitreden, weil alle anderen das schon längst gesehen haben, und einen mitleidig anstarren. Da können Matthias Schweighöfer und Elyas M‘Barek noch so viel Werbung machen.

Ich mag Serien. Lindenstraße am Sonntag ist eine heilige Handlung. Lucifer füllt den Mittwoch, Betty's Diagnose leiten der Freitag ein, gefolgt von Doc Martin. Man freut sich über die kurzen Serien auf ARTE und ONE, teils britischer, teils skandinavischer Provenienz. Und ich persönlich hoffe, dass bald eine neue Staffel des liebenswerten Teams um die sympathische, chaotische Candice Renoir auf die Mattscheibe kommt. Ich habe allerdings etwas Angst davor, in diesen Serien unterzugehen. Es gibt immer mehr davon. Man schafft gar nicht alles, nicht mal im Ruhestand. Man gerät unter Druck. Ein Film ist irgendwann zu Ende erzählt. Aber eine Serie? 
Und man versäumt das echte Leben. Es ist doch nicht mehr normal, wenn man eher weiß, was es bei Familie Beimer heute zum Mittagessen gab, oder an welchem Fall Inspector Barnaby gerade arbeitet, als dass man Notiz davon nimmt, dass die Nachbarin erkrankt ist - oder?

Wer weiß? Vielleicht werde ich eines Tages selbst zur Serie. Oder die Geschichte meines Lebens. How I Met My Chefarzt. Oder Dr. med. Volmer - Der Arzt, dem die Frauen vertrauen. Oder Drei Engel für Peik. 
Möglich wär's!


πόλεμος πάντων μὲν πατήρ ἐστι - Der Krieg ist der Vater aller Dinge

Der Krieg als Vater aller Dinge? Ja, fein. Ganz so hat Heraklit das nicht gemeint, wie man es vereinfacht verstehen mag. Es geht um Polarität, um Werden und Vergehen, das Erschaffen und das Vernichten. Metaphern wurden zu allen Zeiten verwendet. „Paradies“, zum Beispiel. 

Die Welt ist aus den Fugen, nicht? Wir schauten angstvoll nach Nordkorea und den USA. Da gibt es gerade eine Pause. Aber keine Sorge. Es geht munter weiter. Das Vereinigte Königreich gegen Russland, USA gegen Russland. Der Brandstifter im Weißen Haus kultiviert seinen Caesarenwahn bis zur Unerträglichkeit. Syrien ist zum Spielball der unterschiedlichsten Machtinteressen geworden. Israel und Iran? Und der größenwahnsinnige Sultan und sein Osmanisches Reich? Von religiösen Wahnvorstellungen getriebene Terroristen - Moment! Religiös? Eiskalte Machtinteressen sind da das Motiv. Aber das war bei Religionen immer schon so. Montezuma weiß, wovon ich rede.

Versteht überhaupt noch jemand irgendetwas? Hat einer im Geschichtsunterricht aufgepasst? Wird Duma das Sarajewo für den 3. Weltkrieg werden? Brauchen wir wohlmöglich den Krieg, damit man aus den Trümmern etwas Neues, Besseres, Solideres aufbauen kann? 

Und dann, statt im Inneren so etwas wie Kultur und Lebensart hochzuhalten, gibt es Auswüchse wie die AfD, die Autoindustrie, die große Koalition und den Echo. Bitte, ich habe ja nichts dagegen, dass das Bedürfnis, Scheiße zu verzapfen und diese dann mit Preise zu adeln, zunimmt. Auch hier werden, wie bei den Glaubenskongregationen, hauptsächlich wirtschaftliche Interessen wie bei kriegerischen Auseinandersetzungen verfolgt. Oscarprämiert? Verkauft sich besser. Bio-Siegel? Verkauft sich besser. Golden Globe? Heiligsprechung? Umweltengel? Grimme-Preis ( ach, Marcel Reich-Ranicki, Du hattest recht! )? DLG? Echo? Richtig. Verkauft sich besser. Alles generalstabsmäßig geplant. Alles Strategie.

Wir sind leider blöd. Egal, ob bei Gammelwurst aus Separatoren-Fleisch, oder bei Gedankenmüll von Farid Bang und Kollegah - Hauptsache, es verkauft sich besser. Denn auch wenn es sich bei den Letztgenannten angeblich um Künstler handelt, sind es doch eiskalte Geschäftsleute. Kriegsstrategen, denen es um Einfluss, Machterhalt und Marktanteile geht, wie den „Staatsmännern“, den „Glaubensführern“, der Industrie, egal ob Auto- oder Musik-. 

Wir sind leider blöd. Geil, oder? Die trauen sich was! Provozieren so schön! Immer drauf! Schwule sind Scheiße, Frauen nur zum F*cken. „Du Jude“ ist ja sowieso schon Schimpfwort! Korrekt, ey! Super der Track! Gleich downloaden! Geht ja ganz leicht, mit MP3-Player, oder Smartphone. Hauptsache was machen, worüber sich die fetten Bonzen aufregen! Und das Heer der einfachen Konsum-Soldaten lädt auf Kommando herunter, was das Bankkonto hergibt.

Wir sind leider blöd. Wir regen uns auf. Jetzt! Ist leider zu spät. Bildung fängt zu Hause an. Einfluss der Eltern, und so. Erziehung, nennt man das. Dann kommt die Schule und setzt fort, wofür im Elternhaus der Grundstein gelegt wurde. Und vermittelt Wissen. Und ab da sollte es dann funktionieren. Den Feinschliff geben Freunde, Verwandte, Bekannte - das gesamte soziale Umfeld. 
Das läuft heute etwas anders. Die Erziehung übernimmt der Fernseher, und die anderen Medien. Bitte, so wird ja auch Politik gemacht! Kriege werden über das Smartphone erklärt. Und was sehen wir? Superstars, Topmodels, Dancing Stars - für jeden Müll gibt es eine Casting Show. Leben ist ja so easy! Wozu Bildung? Geschichtsbewusstsein? Wenn’s nix wird, mit dem Abi - werde ich einfach YouTube-Star! Hauptsache, ich verkaufe mich gut.

Dass diese Sprechsänger primitiven Müll absondern, steht außer Frage. Komisch, dass das Echo ( „der“ Echo? ) verhältnismäßig gering ist. Man stelle sich vor, dass Beatrix von Reiher diesen Text als Tweet abgesondert hätte. Ist ja ihr Stil. Und ihr Inhalt. Da wären viel mehr auf den Barrikaden gewesen. 
Aber: In der Zielgruppe verkauft er sich gut, und spült Ihnen Geld in die Taschen. Ausgeklügelte Marketing-, Kriegs-Strategien. Mit der richtigen Beleuchtung, meine Damen und Herren, sieht sogar ein dampfender Hundehaufen aus wie die Rocky Mountains. Und das ist leider keine Kunst. Es stinkt zum Himmel. 

Ich glaube, wir brauchen Krieg. Er sei der Vater aller Dinge, sagte Heraklit. Eine kleine Schar von Philosophen interpretiert, wie wir dass zu verstehen haben. Ich denke, dass der Krieg bereits ausgebrochen ist. Nur gemerkt haben wir es noch nicht. Genießt den Krieg, Freunde. Der Frieden wird fürchterlich. 




Krankheiten

Schon wieder Montag. Montag, der 6. Juni 1983. Im Krankenhaus Neukölln in Berlin tritt ein 26jähriger Medizinstudent im praktischen Jahr seine Mittagspause an, wie jeden Tag. Er begibt sich zum Kiosk auf dem Gelände, kauft eine Prinzenrolle, einen Milchkaffee und einen ‚Spiegel‘. „Aids, die rätselhafte Krankheit“, steht auf dem Titelbild. Schrecklich, wirklich. In Deutschland gibt es auch einen Fall. In Frankfurt. Ist seit dem Juli 1982 bekannt. 

Nach seinem Staatsexamen fängt der junge Arzt an, im Krankenhaus zu arbeiten. Entsprechend einer Vorschrift muss er sich vom Gesundheitsamt Schöneberg gegen Hepatitis B impfen lassen. Ein halbes Jahr später bekommt er die amtliche Aufforderung, sich auf das HI-Virus testen zu lassen. Die Antikörper des Impfstoffs seien teilweise aus dem Blut homosexueller Männer gewonnen worden. Es sei möglich, dass ... Der Arzt durchlebt eine furchtbare Woche. So lange dauert es, bis der Test ausgewertet ist. Endlich das Resultat. Negativ. Er hört, das zwei ehemalige Mitstudenten an Aids gestorben sind.

In der Klinik muss mit Handschuhen Blut abgenommen werden. Der Arzt findet das unlogisch. Eine Nadel lässt sich auch durch einen Latex-Handschuh kaum vom Eindringen in die Haut abhalten, oder? Beim Operieren HIV-positiver Patienten allerdings befolgt er die Anweisung, Schutzbrille und doppelte Handschuhe ( Gefärbte zuerst, darüber die Weißen ) zu tragen.

Die Röntgenbesprechung wird durch einen sehr tüchtigen, sehr netten radiologischen Kollegen geleitet. Plötzlich erscheint an seiner Stelle eine Kollegin. Er sei leider erkrankt, erklärt sie. Sie sei bis zu seiner Genesung die Vertretung. Zwei Tage später erscheint sie und berichtet, dass wir uns ab sofort an sie gewöhnen müssten. Der Kollege sei in der vergangenen Nacht gestorben. Lungenentzündung infolge von Aids.

Im Mai 1990 eröffnet der Arzt, inzwischen Facharzt für Urologie, eine Praxis in Hamburg. Er wird von einer Gruppe von Ärzten angesprochen, ob er Interesse habe, HIV/Aids-Patienten urologisch zu betreuen. Natürlich sagt er zu. 

Sogar zu diesem Zeitpunkt ist das keine Selbstverständlichkeit. Die Patienten erzählen Geschichten, die man kaum für möglich hält. Kollegen weigern sich, sie zu behandeln, „zum Schutz ihrer anderen Patienten“. Es handele sich nicht um eine Erkrankung, sondern um eine „Strafe Gottes“ für unmoralischen Lebenswandel. Die Karteikarten tragen mit neonbunten Stiften dicke Markierungen. „AIDS“ oder „HIV“. Arzt und Helferin tragen Mundschutz, Handschuhe, berühren den Patienten so wenig wie möglich, halten Abstand. 
Alles dummes Zeug. Bereits 1985 hatte die Moderatorin Lea Rosh in der Bremer Talkshow „3 nach 9“ aus dem Glas eines HIV-positiven Patienten getrunken, um zu demonstrieren, dass eine Infektion mit dem HI-Virus über alltägliche körperliche Kontakte ausgeschlossen ist. 

Die Menschen sterben. Uli, Heinz, Roman, Fritz, Thomas, Wolfgang, Manuel ... und unendlich viel Prominente. Bis 1993 gibt es nur die Monotherapie, danach eine eine Zweier-Kombination, die die Lebensdauer der Patienten etwas verlängert. Einen Durchbruch bringt die Dreier-Therapie 1999/2000, mit einer deutlichen Verbesserung der Lebenserwartung. Seither werden immer neue Medikamente entwickelt, die eine Verbesserung der Verträglichkeit versprechen. Ziel ist die Schutzimpfung, und an der Charité in Berlin wird mit Blutstammzellen im Bereich der Gentherapie geforscht.

Zwanzig Jahre Leid. Zwanzig lange, traurige, bittere Jahre. Ich musste gestern an so viele großartige Menschen denken, die ihr Leben durch diese verfluchte Krankheit verloren. Ich dachte an sie, weil Conchita Wurst mit ihrer Erkrankung erpresst wurde und sich gezwungen sah, mit diesem Thema an die Öffentlichkeit zu treten. Ehrlich? Mir war gar nicht bewusst, dass das überhaupt ein Thema ist, mit dem man erpresst werden kann. Schon gar nicht, wenn man schwul ist. Hallo? 2018? Wo, bitte, leben wir? Haben wir wirklich keine anderen Probleme? 

Warum tut es uns so gut, andere zu stigmatisieren und zu diskriminieren? Warum müssen wir uns auf dem Niveau von „Bild“- oder „Kronen“-Zeitung bewegen? Können wir uns mit derlei Skandälchen über unsere eigene, langweilige, trübe Existenz, unser eigenes Versagen, unsere zerplatzten Träume, hinwegtrösten? Oder ist das nur dumme Borniertheit? Pseudo-religöse Verblendung? Oder, ganz banal: Kriminell?

Conchita Wurst ist eine großartige Künstlerin. Das Video von „Rise Like a Phoenix“ macht mir Gänsehaut, und treibt mir Tränen in die Augen. Ich mag sie sehr. Und ich weigere mich, bei Rock Hudson an etwas anderes zu denken, als die Komödien mit Doris Day. Bei Rudolf Nurejew an etwas anderes als Le Sacre du printemps. Bei Liberace an etwas anderes als an virtuoses Klavierspiel. Bei Freddie Mercury, Anthony Perkins, Keith Haring an etwas anderes an unvergessliche künstlerische Leistungen, die von ihrer Existenz noch zeugen werden, wenn miese, kleingeistige Erpresser und Denunzianten schon längst aufgehört haben, jemandem etwas zu bedeuten. 

Ich finde übrigens den Erpresser deutlich kränker, als Conchita je werden kann.

Rise like a Phoenix, Conchita!  

  https://m.youtube.com/watch?v=SaolVEJEjV4#


Bayerische Kreuzzüge

Irgendwie haben wir Deutschen es mit dem Kreuz. Nicht nur, weil es über 80% schmerzt und uns regelmäßig in ärztliche, physiotherapeutische oder chiropraktische Behandlung treibt. Spirituell orientierte Therapeuten sprechen von Störungen der Chakren durch Ängste, Überforderung, Spannungszustände. Dem stimmen die Psychologen zu. Und die Orthopäden raten zur Gewichtsreduktion und mehr Bewegung. 

Kreuze haben eine große Bedeutung im Leben. Mein Großvater brachte aus dem 1. Weltkrieg das Eiserne Kreuz mit, vermutlich, weil er Großväter meiner englischen und französischen Freunde ermordet hatte; na herzlichen Glückwunsch. Das Rote Kreuz, die Blaukreuzler, das Schweizer Kreuz, das Malteserkreuz. Kreuz-Bube, -Dame-, -König, -As. Die Kreuzritter. Und mit dem Keltischen Kreuz kann der Tarot-Profi die Zukunft vorhersagen.

Ja, die Sache mit den Kreuzen! Hätten wir alle ein wenig besser aufgepasst, am 24.9., mit unseren Kreuzen, auf dem Stimmzettel, wäre uns so einiges erspart geblieben! Und man kann nur hoffen, dass die Wahlberechtigten der Landtagswahlen in Bayern im Oktober ihr Kreuz einer Partei geben, die ein höheres integratives Potenzial hat, als Herr Söder es uns gerade vorlebt. 

Soso. Das Kreuz hat also nichts mit Religion zu tun. Und ein Hakenkreuz hat auch nichts mit Faschismus zu tun. Das Hakenkreuz - kennen Sie doch, oder? Das wunderbare alte indische Zeichen für das Sonnenrad, ein Symbol des Glücks! Honi soit qui mal y pense! Vermutlich spielt man in der Bayerischen Staatskanzlei bereits mit dem Gedanken, dieses wieder über dem Eingang anzubringen. Gab's ja schon mal. 

Ich fühle mich ausgegrenzt. Das Kreuz bzw. Kruzifix aufzuhängen, grenzt mich als Atheisten aus. Ich merke: Ich bin anders. Ich gehöre nicht dazu. Weder bin ich willkommen, noch völlig akzeptiert. Man begegnet mir in meiner Andersartigkeit mit Misstrauen und Ablehnung. 

Vermutlich ist diese Ausgrenzung die Absicht, die man mit erheblicher Verstimmung wahrnimmt.  Das ist die eurhythmische Interpretation dummerhaftiger Seehofer-Sentenzen. Die einen umarmen Bäume, die anderen Kreuze, ungarische Diktatoren und AfD-Wähler. Es gibt Menschen 2. Klasse. Ich würde mir wünschen, dass es mehr Menschen 2. Klasse gäbe. Die alle NICHT ihr Kreuz bei Herrn Söder und seiner angeblich christlichen Partei machen, die psychisch kranke Menschen erfassen wollte, wie von 33-45. Die einen ohne Anklage und Rechtsbeistand verhaften kann, wie in der Türkei. Die bestens integrierte Menschen abschiebt und sich einen Scheißdreck darum schert, was aus ihnen wird. 

Das, Herr Söder, sind NICHT die kulturellen Wurzeln, auf die ich mich berufe. Ich gehöre NICHT dazu, und bin stolz darauf. Sie sind narzisstisch, scheinheilig und verlogen. Sie instrumentalisieren das, was für einige Menschen Hoffnung und Trost darstellt. 
Wissen Sie: Gerade wünsche ich mir, dass ich mich irre. Dass das, woran katholische und evangelische Menschen glauben, wahr ist. Und dass Sie eines Tages vor dem jüngsten Gericht Rede und Antwort stehen müssen. 

Egal. Es gibt etwas wie eine ausgleichende Gerechtigkeit. Sie werden Ihr Kreuz zu tragen haben. Da bin ich sicher. 



Snoopy

Als heute der DHL-Mann 2x klingelte, habe ich mich gefreut. Also - zunächst einmal war ich überrascht. Ich hatte ja nichts bestellt. Ja, doch. Die holländischen Snoopys aus dem McDonalds Happy Meal. Wie immer gab es in den Niederlanden 4 ( VIER! ) Figuren mehr als bei uns, und die wollte ich, als Peanuts-Fan, natürlich dringend haben. Bei eBay hatte ich sie gefunden, und einige Male mit dem wahnsinnig lieben Menschen, der sie mir verkaufen wollte, geschrieben. Gestern habe ich den Überweisungsträger zur Bank gebracht. Ich bin da immer noch etwas altmodisch. Und wie immer rief prompt das Kreditinstitut an. „Sie tätigen eine Überweisung ins Ausland? Wir sind verpflichtet, dem nachzugehen .. “ 

Ich glaube, dass ich mich bei derlei inzwischen beherrschen kann, ist der Weisheit meines Alters geschuldet. „Genau. 20 Euro. In die Niederlande. Befürchten Sie Steuerhinterziehung, oder Geldwäsche?“ 

Verlegenheit am anderen Ende der Leitung. Zu Recht. 

Nun, üblicherweise zahlt man, und erhält dann die Ware, oder? Zumindest habe ich das in den seltenen Fällen, in denen ich bei eBay kaufte, so erlebt. Als ich heute das Päckchen überreicht bekam, konnte ich es kaum glauben. 

Ich habe Paul ( so heißt der Verkäufer ) sofort eine E-Mail geschickt. „Danke für Dein Vertrauen“, hab ich ihm geschrieben. Er freute sich postwendend, dass das Päckchen schon angekommen war. Alles gut. Und schönes Wochenende. 

Ich war heute den ganzen Tag euphorisch. Es ist vielleicht eine unbedeutende, belanglose Kleinigkeit. Aber ich kann das nicht achselzuckend ad acta legen. Das ist genau das, was heutzutage verloren gegangen ist. Und seltener vorkommt, als Iridium. Und was, wenn es einem entgegengebracht wird, einen mit Freude erfüllt. 

Vertrauen. Zwei wildfremde Menschen vertrauen einander. Grundlos. Ohne Absicherung, Anwalt, Vertragswerk. Einfach nur, weil sie Menschen sind. 

Ich wünschte mir, dass das in allen Bereichen des Lebens so funktionieren könnte. Und ich wundere mich, warum das nicht geht. Naiv, oder? Egal. Ich möchte mich lieber mit den Naiven irren, als mit den Gescheiten Recht haben. 


Gesetzestreue Bürger

Man schnappt irgendwo ein Wort auf. Einen Begriff. Und plötzlich gerät im Kopf eine Kaskade auf Begriffsdefinitionen, Interpretationen und persönlichen Erfahrungen ins Rutschen. Mir passierte das heute. ‚Gastrecht‘. 

Waren Sie schon mal bei mir zu Gast? In meinem neurotischen Bemühen, perfekt zu sein, hatte ich als Student ein Oktavheft angelegt, in das ich Vorlieben und Besonderheiten meiner Freunde schrieb. Heide liebte Hefegebäck. Fritz trank gern Kakao. Kam Joachim, musste ABBA im Hintergrund laufen. Für Hassan warf ich so‘n Kardamom-Dingens in den Darjeeling. Peggy trank den Kaffee schwarz und süß, mit 2 Stück Zucker. Und Bernhard freute sich, wenn ich den Nusskuchen nach dem Rezept seiner Mutter gebacken hatte. 

Heute bin ich deutlich wurschtiger geworden. Aber ich achte darauf, dass mein Gast es gemütlich und bequem hat. So, dass er gar nicht mehr gehen möchte. Rausgeschmissen habe ich noch nie jemanden. Hey, schön, dass Du da bist, komm rein, fühl Dich wie zu Hause. 

Das Gastrecht ist ein freiwilliger Akt. Es kann nicht eingefordert oder erzwungen werden. Es gibt - im Gegensatz zum Asylrecht - keine juristische Grundlage. Es ist zeitlich begrenzt. Aber es ist auch etwas Heiliges. Und verankert in unserer christlichen Tradition. 

Der 23jährige Togolese ist also ein Verbrecher, und die, die die Polizei an der ordnungsgemäßen Durchführung der qua Gesetz verfügten Maßnahme gehindert haben, seine Helfershelfer. Er muss also in Abschiebehaft, und den Mittätern drohen sicher juristische Konsequenzen. 

Du, ich muss langsam - meine Güte, fast ein Uhr! Wir haben uns mal wieder verquatscht! Musst du wirklich? Bleib doch noch! Schade, war doch ein toller Abend! Komm gut heim! Wir hören! 

Gastrecht ... ich weiß, wie ich die skandalösen Vorkommnisse zu bewerten habe, als „gesetzestreuer deutscher Bürger“. Leider, so zeigt unsere Geschichte, gab es schon Gesetze, für deren Befolgung wir uns heute schämen müssen. Nein, dies hier war ein „Schlag ins Gesicht“, das Gastrecht wurde „mit Füßen getreten“. 

Ich hab da noch eine andere Geschichte im Kopf. Die eines Jungen, der von einem besseren Leben träumte, so dass er es wagte, alle, die er lieb hatte, zu verlassen. Er nahm sogar das Risiko des Todes auf sich. Endlich erreichte er das gelobte Land, aber seine Hoffnungen endeten in Lieblosigkeit, bürokratisch-organisierter Kälte und zerstörten Hoffnungen. Dann kam jemand, der sagte, wir wollen dich nicht, und wir werfen dich hinaus aus dem, was du für das Paradies gehalten hast. Was mag in ihm vorgegangen sein? Wut? Enttäuschung? Verzweiflung? 

Mir fällt mein lieber Freund Feroz ein, der seit mehr als 2 Jahren hier ist, und auf seine Abschiebung in das sichere Afghanistan wartet. Er hat prima Deutsch gelernt, macht seinen Schulabschluss, möchte eine Ausbildung machen. In unserem letzten Gespräch sagte er zu mir: „Opa, ich strenge mich so an, alles richtig zu machen. Die schicken mich bestimmt nicht zurück. Ich bin fleißig, ich habe Deutsch gelernt, ich mach keinen Quatsch!“ Mein Herz brach an dieser Stelle. Wenn du wüsstest, Feroz! Mein großväterliches Herz schlägt für dich, und es wird uns nichts nützen. Ich bin, wie du, wütend, enttäuscht, verzweifelt. Und wenn er kommt, dieser Tag, an dem du zu dem Flieger nach Kabul geführt wirst, werde ich weinend daneben stehen, weil ich ein Feigling bin, und schwach. Zu feige und schwach, um dir zu helfen. 

Immerhin, wir leben hier nicht in einem rechtsfreien Raum, nicht wahr? Wir sind gewohnt, Gesetze einzuhalten. Das taten schon unsere Großväter, ohne viel unbequeme Fragen zu stellen. Man will ja keine Schwierigkeiten haben, nicht wahr. Und man will sich nichts nachsagen lassen. 

Ich fühle die Wut, die Enttäuschung, die Verzweiflung. Ich fühle mich hilflos. Und ich wollte, ich wäre nicht so ein opportunistischer, angepasster, feiger, gesetzestreuer Bürger. 


Smart enough

Da ist er, der Termin. Erinnern Sie sich? Na bei Lueg! In Bochum! Universitätsstraße! Was? Sie erinnern sich nicht? Ich hatte Ihnen doch von Andreas erzählt, dem weltbesten - Ja! Ganz genau DER Andreas! Dieser unglaublich tüchtige, IMMER freundliche ( das soll ich schreiben, hat er gesagt ), hochkompetente Mensch, dem kein KFZ-Problem fremd und unlösbar erscheint. Weswegen ich immer zu ihm und nur zu ihm gehe. Ausschließlich. Und weil er so freundlich ist. IMMER. 

Ich setze mich in die Besucherecke mit einem dollen  Cappuccino. Ich habe keine Ahnung, wie die Maschine den so lecker hinkriegt. Vergesst Balzac, Starbucks oder Paolos Grand Café in der Fußgängerzone. Wenn ich in Bochum bin, gehe ich oft nur zum Kaffeetrinken zu Lueg. „Her mit dem Schlüssel!“, fordert Andreas' freundliche Stimme mich auf. Braungebrannt und gut erholt vom Urlaub steht er vor mir. Athletisch und gestylt. Freund bewundert ihn, Feind beneidet ihn, Frau begehrt ihn. Und man weiß instinktiv: Die paar Kilo Übergewicht, die er sich auf dem Schiff angefuttert hat, ist er bald wieder los. 

Der pechschwarze Smart steht in provozierendem Understatement neben einer cremeweißen AMG-C-Klasse. Ich bilde mir ein, dass er mich vorwurfsvoll anschaut. Giftig, irgendwie, und so von der Seite. Dass du dich überhaupt traust! So schlecht, wie du mich gemacht hast! Dabei bin ich sparsam im Verbrauch, für'n Appel und 'n Ei zu haben, passe in jede Parklücke und bin neben meinen Qualitäten im Stadtverkehr auch zuverlässig und flink auf den Autobahnen der Republik. Und jetzt, wo du mich brauchst, kommst du wieder angeköddelt. Jetzt bin ich wohl wieder gut genug, was? Pass mal auf, mein Gutster: Wenn’s dir nicht passt, dann geh' halt zu Fuß! Wie sagt man in Berlin? Besser schlecht jefahren als wie jeloofen! 

Na gut. Also gefahren. Ist ja nicht weit, mein Ziel gleich hinter der Grenze. Ich erledige meinen Einkauf bei Albert Heijn und verstaue ihn dort, wo sich bei Kraftfahrzeugen normalerweise der Kofferraum findet. Vorschriftsmäßig sichere ich die herausragenden Spargelstangen mit der roten Fahne. Dann geht es retour. Halt! Ein Schild sagt mir, dass ich das Nachtanken nicht vergessen darf. Der Tankwart beschäftigt sich gerade mit den Wassereimern. „Wollen Sie tanken, oder kriegt der Kleine noch die Brust?“ Ich runzele die Stirn. „Mann! Sind Sie aber witzig, heute!“

Ich ergänze die 5 verfahrenen Liter. „Mehr Durst hat er nicht? Goldig.“ Ich kann doch nichts dafür, wispere ich in Gedanken meinem engen, treuen Begleiter zu. Der Typ hatte morgens offenbar einen Clown anstelle des Bergsteiger-Müslis. Beim Bezahlen lacht er mich fröhlich an. „Kennen Sie den schon? Warum müssen Smart-Fahrer in ländlichen Gebieten besonders aufmerksam sein?“ 

Es scheint mir an der Zeit, den Mann in seine Schranken zu weisen. „Ich bin nicht interessiert“, entgegne ich hoheitsvoll. In diesem Moment höre ich Andreas' Stimme am Telefon. Freundlich wie immer. Mein Auto ist fertig. 

Wir stehen noch einen Moment zusammen. Frau B., die gute Seele der Anmeldung, die Chaos gar nicht erst aufkommen lässt, für jeden die richtigen Worte findet und dabei immer superlieb, hilfsbereit und verständnisvoll ist, kümmert sich um die Rechnung. Andreas und ich versuchen,  auszurechnen, wann wir uns wiedersehen. Die Kunst besteht darin, ihn zwischen seinen Urlauben, Feier- und freien Tagen anzutreffen. Aber ich gönne ihm das von Herzen. Verdient hat er die freie Zeit allemal. 

Oktober. Dann können wir gleich wieder den Reifenwechsel machen, und die Inspektion. 
Ich freue mich schon darauf, Andreas wiederzusehen. Wie man sich eben freut, Menschen zu sehen, die immer und unter allen Umständen so freundlich sind. Freundlich und ausgeglichen. Immer. 

Und so schlecht ist der Smart wirklich nicht. 
( Ach so: Wegen der Paarungszeit der Frösche. Der Witz des Tankwarts, Sie erinnern sich. Das Ding hat SOOO einen Bart! )




Nur ein Fan. Unwichtig. 

Inzwischen hab ich mich wieder beruhigt. Ich finde die Fotos immer noch mies. Man lässt sich nicht mit Massenmördern, Despoten, Kriegstreibern, Diktatoren ablichten. Finde ich. Aber das ist natürlich nur eine Meinung. Daneben gibt es viele andere. 

Wir sind ja auch nicht konsequent. Wir lassen Olympiaden und andere Sportfeste in Ländern stattfinden, die für ihre demokratischen Bemühungen um Pressefreiheit ( wie gerade erlebbar ) und Dopingkontrollen auch nicht gerade berühmt sind. Die Formel 1 ist regelmäßig zu Gast bei totalitären Unrechtsregimen. Wir werfen Menschen aus diesem Land, es sei denn, es droht eine Sportveranstaltung - dann gemeinden wir sie schneller ein, als sie ihren Namen buchstabieren können. Und politisch sind unsere Volksvertreter dem Herrn vom Bosporus so tief in das osmanische Rectum gekrochen, dass er sich auf Jahre hinaus jede Früherkennungsuntersuchung sparen kann. 

Es gibt mehr als eine Meinung zu diesem Thema. Ilkay meinte, das sei doch nur aus Respekt geschehen, vor dem Land seiner Vorfahren, und seinem Präsidenten. Ja, sicher. Eine Meinung. Und Legionen von Sprachexperten interpretieren die Worte auf dem Hemdchen. Das sagt man eben so, auf Türkisch. Hat nix zu bedeuten. 

Die Diskussion sei unangemessen. Hysterisch. Nationalspieler, die sich um die deutsche Mannschaft verdient gemacht haben. Respekt hätten sie verdient, nicht Schelte. 
Aha. Schon wieder Respekt. Erst vor Erdogan, jetzt vor Mesut und Ilkay. 

Und was ist mit mir? Ich bin ein Fan der deutschen Nationalmannschaft. Ich bin Deutscher. Und ihr beiden vertretet unser Land, und damit auch mich. Ehrlich? Ich hab mich nie an der Diskussion beteiligt, ob ihr die Nationalhymne mitsingen solltet. Das muss nicht sein. Vielleicht habt ihr es probiert, und es hat sich Scheiße angehört. Kein Problem. Und ich werde es auch ertragen, wenn ihr so demonstrativ eure Zugehörigkeit zur Türkei plakatiert. Nein, warum solltet ihr Respekt vor mir haben? Ich bin ja nur ein Fan, inmitten tausender Anderer. Kein Präsident, oder so. Es ist in Ordnung. 

Es ist in Ordnung, wenn ihr da hin geht, wo es mehr zu verdienen gibt. Wo es sportlich interessanter ist. Herzen kann man nicht kaufen. Wir Fans haben es versucht. In Dortmund, Ilkay. Erinnerst Du Dich? Oder in Deiner Heimatstadt Gelsenkirchen, Mesut. Zu königsblauen Zeiten. Egal. Alles Vergangenheit. Euer Herz gehört eben nicht uns Fans, nicht der Mannschaft, und schon gar nicht dem Land. Ihr seid hoch bezahlte Söldner. Dagegen habe ich nichts. Auch wenn ich enttäuscht bin. 

Aber ich bitte euch herzlich darum, nicht so zu tun, als ob. Türke zu sein, ist ja nichts Schlechtes. Seid es, bleibt es. Götterdämmerung. Ich mag nicht mehr euer Fan sein. 



Das Rätsel der 2. Tür

Ich habe Probleme. Und, wie Sie bestimmt bald feststellen werden: Es handelt sich um Luxusprobleme. Ich schäme mich ein wenig, aber Sie kennen mich inzwischen. Wenn mich was bewegt, muss ich das aufschreiben, dann geht’s schon wieder besser. 

Wenn ich in Quickborn zu tun habe, was seit einem Jahr alle 4 Wochen vorkommt, wohne ich gern im Hesse-Hotel. Es ist bezahlbar, Parken und W-LAN sind frei, das Frühstücksbüffet mehr als ausreichend, die Mitarbeiter nett. Es liegt sehr verkehrsgünstig an der Autobahn, und es gibt drei Schritte entfernt einen McDonalds, und einen wohlsortierten Supermarkt. 

Das Hotel besteht aus einem Alt- und Neubau. Letzteren liebe ich, weil der Blick aus den Fenstern nach hinten raus in die Natur fällt, und vor allem: Die Bäder haben eine ebenerdige Dusche. Darüber freut sich ein kaputtes Knie! Und die Schalldämpfung funktioniert ganz gut.

Wenn ich buche, schreibe ich stets in die Rubrik „Wünsche an das Hotel“ die Bitte um Zimmer 409. Alles ebenerdig, kurze Wege. Alles gut. 

Gestern komme ich also wieder einmal an. Zum 6. Mal in diesem Jahr, glaube ich. Ein netter junger Mann sitzt dort, findet mich in seiner Liste und überreicht mir einen Schlüssel mit der Aufschrift ‚02‘. Mich ergreift die Panik. Nicht 409? Schade, meint er, aber das Hotel sei ausgebucht. Man hätte heute sogar schon Gäste ablehnen müssen. Warum ich denn nicht den Wunsch nach dem Zimmer 409 gleich bei der Buchung - Ich präsentieren ihm den Ausdruck des Reiseveranstaltes. Da steht’s. ‚Bitte um Zimmer 409‘.
„Oh! Das ist bei uns nicht angekommen.“

Der Satz erinnert mich an meine Helferin, die Patienten gern Versäumnisse damit erklärte, „ich habe es eingegeben, aber der Computer hat es nicht angenommen!“ und, verschwörerisch, später zu mir, „der baut auch schon ganz schön ab!“ Auch mein Hinweis, dass ich Stammgast bin und seit anderthalb Jahren mindestens 17 Mal hier zu Gast war, nützen mir nichts. 

Na gut. Zimmer 02, also. Ach ja. Geht. Es gibt sogar einen extra Tisch. Den hat 409 nicht. Jacqueline ist für die Reinigung verantwortlich, soso. Schade, dass Sie den drögen Pflaumenkern neben dem Papierkorb nicht entdeckt hat. Aber selbst ist der Mann, kein Problem, diesen zu entsorgen. Ich öffne das Fenster. Der romantische Blick auf einen Müllcontainer wird nur durch einige parkende Autos verstellt. 

Das Telefon klingelt. Nanu? Ich erwarte gar keinen Anruf - ach so. Nebenzimmer. Alles klar. Das Bad? Naja. Die Dusche ist alles andere als ebenerdig. Aber 2 Übernachtungen lang überlebe ich das. Und man sieht es kaum, wegen der spärlichen Beleuchtung. 

Schon wieder Telefon. Nein, wieder das Nebenzimmer. Und was, bitte, ist das hier für eine Tür? Durch die Tür Nr. 1 habe ich das Zimmer betreten. Und die 2. Tür? Aha. Sie verbindet 02 mit 01. Abgeschlossen. Beruhigend. Wer hat den Schlüssel? Ich kann sie nicht verriegeln. Vielleicht ist der Extra-Tisch dafür gedacht, sie von meiner Seite aus zu verrammeln. Ich stelle mir vor, dass, sobald ich eingeschlafen bin, sich leise der Schlüssel im Schloss herumdreht. Die Klinke senkt sich, und gefährlich langsam fällt ein Lichtkegel durch den sich unaufhaltsam vergrößernden Spalt, der eine Schattengestalt von hinten illuminiert ... Dracula? Jack the Ripper? Klaus Kinski? Beatrix von Storch?

Schweißgebadet erwache ich - vom Klingeln des Telefons. Die Tür ist verschlossen. Warum, verdammt, geht der Nachbar nicht an sein Handy? Vielleicht ist er gestorben. Vielleicht hat der Schatten des Bösen diesmal seine, nicht meine 2. Tür geöffnet. Oder war ich es selbst? Schlafwandelnd? Wütend wegen des nervigen Klingeltons? 

Ich hoffe sehr, dass künftig meine „Wünsche an das Hotel“ gelesen und berücksichtigt werden können. Das soll keine Drohung sein. Und ich weiß, dass sich das sehr verwöhnt anhört. Aber die Erfüllung eines solchen Wunsches macht doch die Beziehung zwischen einem Hotel und seinem Gast perfekt, oder? Sonst kann man auch beliebig irgend ein Hotel wählen, wenn diese Beziehung nicht mehr besteht. Kundenbindung nennt man das. Glaube ich.

Wir werden sehen. 




Oder? Oder nicht?

Langweilig. Stinklangweilig. Gestern war wieder so ein Tag. War’s islamistischer Terror in Belgien? Ach nee, bestimmt nicht. Oder? Doch! Es war islamistischer Terror. Immerhin hat der Verbrecher dies bis zum Erbrechen Missbrauchte ‚Allahu Akbar‘ gebrüllt. Langweilig. Wir sind dran gewöhnt.

Ein russischer Reporter wurde ermordet. Jemand überrascht? Damit ist doch immer zu rechnen. Auch in der Türkei. Ermordet, oder wenigstens inhaftiert. Ach nee, doch nicht. Desinformation. Fake News. Jemand DARÜBER überrascht? Damit ist doch immer zu rechnen. Spekulationen. Machen wir mal dazu einen ARD-Brennpunkt. Oder ein ZDF spezial.

In Afghanistan der rhythmisch-wöchentliche Taliban/ISIS/Al Sowienoch-Terror-Anschlag. Soundsoviele Tote. Afghanistan ist sicher. Auf jeden Fall. Ach nee, Freunde der Demokratie! Doch eher nicht! Brennpunkt? Spezial? Lohnt sich nicht. Wir sind dran gewöhnt. Damit lockt man keinen deutschen Schäferhund hinterm Ofen hervor. Langweilig. Stinklangweilig. 

Frau von Storch, Frau Weidel, Herr Gauland, Herr Meuthen verteilen ihre Provokationen über Väter von Politikern, Kopftücher, die Opposition, das BAMF. Und beklagen, dass man Nazis als Nazis bezeichnet. Ja, das ist unsere Position. Ach nee. Doch lieber nicht. Das haben wir so nie gesagt! Herr Seehofer, Herr Lindner, die CSU geschlossen und Frau Nahles schütteln empört den Kopf und applaudieren gleichzeitig. Spannende, sogar Partei-umspannende Grätsche, an die wir sattsam gewöhnt sind. Moment mal! Vertretet ihr etwa neuerdings AfD-Positionen? Nein! Aber doch zunehmend lieber! Oder doch lieber nicht! 

Messerattacke in einem IC in Flensburg. 2 verletzt, Täter erschossen. Allahu Akbar? Bestimmt!  Nein? Na prima. Dann war er offenbar gestört. Oder Mörder. Oder beides in Personalunion. 
Was ist mit Trump? Au ja, Nordkorea. Ach nee, doch lieber nicht. Oder doch? Ja, doch Nordkorea. 

Und Wirtschaftskrieg? Ja? Ja! Auf jeden Fall! Ach nee. Lieber Ausnahmeregelung. Oder? Ach nee. Doch lieber Wirtschaftskrieg. Mir doch egal. Bourbon mag ich nicht, und die Harley hab ich schon. Langweilig. Stinklangweilig. 

Der Nahostkonflikt flammt wieder auf. Wie gewöhnlich. Und im Iran gleicht die Rhetorik der, die vorm Iran-Irakkrieg 1980-88 vorherrschte. Droht ein 4. Golfkrieg? Oder nicht? 

Und bella Italia! Mal wieder eine Regierungskrise! Das kennen wir doch auch schon! Oder nicht! Ach nee, Cinque Stelle und Lega werden sich schon einigen. Nur nicht mit dem Staatspräsidenten. Also nicht. Oder doch? 

Garniert werden die Nachrichten mit rechter Schlechtmenschen-Hetze gegen Geflüchtete. Ausbeutung der Sozialsysteme. Islamisierung. Untergang des Abendlands. Anstieg der Kriminalität. Fundierte Argumente, Statistiken, Logik stehen dem gegenüber. Stinklangweilig, und völlig überflüssig. Wahn- und Zwangsvorstellungen sind nicht korrigierbar. 

Das waren die Nachrichten der vergangenen zwei Tage. Wir werden sie noch häufiger Lesen. Sie kehren periodisch wieder, mit ihrem hin und her. Ein Perpetuum Mobile. Man kennt die Schlagzeilen auswendig, auf Wochen hinaus. Alles wie gewohnt. Müdes, resigniertes Abwinken. Weiß ich. Kenn ich schon. Gibt’s denn gar nichts Neues mehr? 

Und ich? 
Ich hab die Schnauze gestrichen voll, von dem Müll. Ich habe auch zunehmend weniger Lust, da mitzumachen. Ich ziehe mich zurück. Wer  hat eigentlich DSDS gewonnen? Und wer GNTM? Wer wird bei Let‘s Dance Sieger, und wer diese Woche in der Küchenschlacht? Wie geht es Lily Becker, und sind Harry und Meghan noch glücklich? Und habt ihr diese nette Ansprache von Prinzessin Mary gehört, zum 50. Geburtstag von Kronprinz Frederik? 

Was sagt ihr? Scripted Reality? Alles abgesprochen? Gecastet, was das Zeug hält? Wo sind wir denn hier? In der Truman Show? 
Vielleicht lässt sich das Leben nicht anders ertragen. Vielleicht muss es vorhersehbar sein, und in unendlichen Schleifen verlaufen. Und vermutlich ist der „Fortschritt“, der bei Messen und Fachausstellungen so gern von der Kanzlerin herbeigeredet wird, in Wahrheit ein Rückschritt. Oder? Ach nee! Das würde doch auffallen, wenn es so wäre. 

Oder etwa nicht? 


Recht behalten

Wer bestimmt eigentlich, ob Haltungen, Auffassungen, Meinungen richtig sind? Gibt es eine absolute Instanz, die auf einen zukommt und sagt: Falsch, mein Freund! Da liegst du aber gewaltig daneben! Denk ruhig noch mal darüber nach, und lies dir gut durch, was ICH zu dem Thema geschrieben habe!

Seit Beginn des Zustroms von Geflüchteten gibt es im wesentlichen zwei Lager: 

1.) Die Gutmenschen, die optimistisch, gastfreundlich, im Begreifen unserer Mitschuld  an den Fluchtgründen und mit Verständnis für die Situation der Asylbewerber jeden einzelnen mit einer Umarmung begrüßen. 
2.) Die Schlechtmenschen, die als besorgte Bürger rechten Rattenfängern hinterherlaufend, den Neonazis Sitz und Stimme verleihen, Hass und Angst schüren, und die Islamisierung des Abendlands herbeireden. 

Mal losgelöst von terroristischen Anschlägen, Prügeleien, und ganz besonders den zeitlich gar nicht so weit auseinanderliegenden Morden - wer hat denn nun recht? 

Egal, mit wem man spricht: Er widerspricht reflektorisch, und er hat recht. In jedem Fall.

Das hat meine Großmutter auch gesagt, nachdem der Krieg lang vorbei war. „Weißt du, Junge - ich habe ja daran geglaubt. Alles war so ordentlich, plötzlich. Man konnte in Berlin nachts als Frau über die Straße gehen, ohne belästigt zu werden. Alle hatten Arbeit, und eine Vision. Das mit der Gestapo, und den Juden, das war natürlich nicht schön ...“ 

Nach einiger Überlegung habe ich Oma den Unterschied zwischen Ruhe und Grabesruhe verdeutlicht. Ja, inzwischen war sie auch schlauer geworden. Aber damals hat sie daran geglaubt, als die Paraden und Aufmärsche und die roten Fahnen und der Badenweiler Marsch das Land überzogen. 

„Wir haben dran geglaubt“, erzählte Tante Marianne aus Gera anläßlich eines West-Besuchs, „nach dem Krieg. So etwas sollte nie wieder passieren! Und voller Begeisterung haben die jungen Leute das blaue FDJ-Hemd angezogen, wurden junge Pioniere, erledigten Subbotniks und bewährten sich in der Produktion, um eine sozialistische Persönlichkeit zu werden! Das mit der Stasi, und dem Ausreiseverbot, das war natürlich nicht schön ...“

Und haben wir nicht auch daran geglaubt? Trotz der alten Nazis, die sich in ihren Ämtern und Pöstchen festfraßen wie Rost? An Wirtschaftswachstum, Rock’n’Roll, individuelle Freiheit? Und wo sind wir gelandet? Mitten im kapitalistischen Konsum, na herzlichen Glückwunsch. Das mit den Arbeitslosen, Hartz IV, Kinder- und Rentnerarmut, das ist natürlich nicht schön ...

Worauf verlassen wir uns, wenn wir von dieser oder jener Auffassung überzeugt sind? Den Zeitgeist? Der Propaganda? Der Werbung? Einer staatlichen Doktrin? Und wie lange dauert es, bis wir beschämt die Häupter senken und feststellen, Falsch, mein Freund! Da liegst Du aber gewaltig daneben! 

Und wie Generationen von Menschen vor uns wissen wir, in unserer erhabenen Unangreifbarkeit, dass wir die Weisheit mit Löffeln gefressen haben. Alle vor uns waren dumm. Und alle, die unsere jetzige Meinung nicht teilen, sind auch dumm. Wir lernen aus den Fehlern der Geschichte. Und gerade beobachten wir, dass niemand irgendwas gelernt hat. Weil er sich ganz sicher ist, recht zu haben, während alle anderen falsch liegen.

Das Problem scheint mir zu sein, dass es Kategorien wie ‚schlecht‘ und ‚gut‘ oder ‚richtig’ und ‚falsch‘ gar nicht gibt. Die Geschichte läuft emotionslos, der Globus dreht sich ohne seelische Bauchschmerzen. Wir machen uns Gedanken, diskutieren, kämpfen, und haben recht ohne Ende. Was passiert? Nichts. Der Welt ist es achselzuckend egal. Wenn man versuchen möchte, Geschehnisse einzuordnen, dann bieten sich vielleicht die Einteilungen in ‚unnütz‘ und ‚nützlich‘ an. Das Problem ist nur, dass gelegentlich wir nicht lange genug leben, um überprüfen zu können, ob wir mit unserer Einschätzung richtig lagen. 

Der Hund bellt, die Karawane zieht weiter. Ich habe recht, und du hast unrecht. Oder umgekehrt.  

Oder auch nicht.


ECONOMY 1

Die Anreise

Ich habe es mir gleich gedacht. Sogar befürchtet. 

Man stelle sich folgende Situation vor: Du willst nach Quickborn, und „Dein“ Hotel ist ausgebucht. Du suchst also nach einer Alternative, und findest eine bezahlbare Unterkunft, in diesem Fall das Hotel ‚Seegarten‘. 

Ein häßlicher Flachbau, wie man ihn Anfang der 70er für schick hielt, blassgelbe Klinker. Immerhin frei Parken, wie beim Monopoly. Es riecht nach Essen. Der Herr mit dem osteuropäischen Akzent bemüht sich auf mein Klingelzeichen hin zur Rezeption. „Hier ausfüllen!“ Ich bekomme einen oktavheftgroßen Zettel und notiere einige persönliche Daten. „Sie allein?“ 
Ich lächele gewinnend. „Ich bin nie ganz allein, wissen Sie ...“ 
Der Herr rollt die Augen. „Da haben Sie Denkfehler gemacht! Große Denkfehler! Falsch gebucht!“
„Ja aber -“
„Haben Sie ECONOMY gebucht! Bett nur einsvierzig breit!“
„Entschuldigung, hier steht doch deutlich ‚Doppelzimmer‘!“
„Aber ECONOMY!“
„Ich schaue es mir mal an!“

Ich pilgere über einen langen, dunklen Flur. Also, einen SEHR langen, SEHR dunklen Flur. Dann eine Treppe hoch, und das mit meinem Knie. Es riecht nicht mehr nach Essen. Eine Mischung aus muffig und Chlor dringt an mein Näschen. Erwartungsvoll schließe ich die Tür auf.

Ja, danke. DAS hier ist jedenfalls kein Doppelzimmer. Denkfehler. Ist ECONOMY! 
Ich pilgere zur Rezeption zurück. Immerhin, mein Arzt hat mir mehr Bewegung verordnet. Aber an der frischen Luft! Hätte ich mir bloß ein paar belegte Brote als Wegzehrung mitgenommen!

„Sehen Sie? Denkfehler! Haben wir Normal, ECONOMY, und noch schlechter!“ 
„Also normal, wenn ich bitten dürfte!“ 

Ich wette, dass der Schuppen nicht ausgebucht ist, aber er lässt mich schmoren. Ein Lächeln erhellt seine Züge: „Ah, hier - doch nicht.“ und wieder stiert er finster auf den Bildschirm. Endlich findet er einen Raum in der Herberge. „Ist normal, nicht ECONOMY!“
„Vielen Dank!“
„Vierzig Euro! Ist nicht ECONOMY!“

Das Zimmer ist akzeptabel. Es müsste renoviert werden, aber ... ach, hören wir auf, zu meckern. Im Bad entdecke ich einen Hinweis: Das Hotel gehört zu den „Akzent“-Hotels. 
Das passt.

Wie wird es weitergehen?


ECONOMY 2

Wie wird es weitergehen?, schrieb ich gestern. Na denn! 

Tag 1

Von wegen Denkfehler. Ich habe mich noch einmal vergewissert, bei Trivago. Das ECONOMY-Zimmer wurde beworben mit dem Foto eines der besseren Zimmer, das ich jetzt behause. Ich habe dies dem Herrn mit dem osteuropäischen Akzent heute genussvoll unter die Nase gerieben. Einen Denkfehler hätte ich zuletzt 1984 gemacht. Dies ist kein Denkfehler. Dies ist Betrug.
( Ich denke, dass wir in diesem Leben keine Freunde mehr werden, der osteuropäische Rezeptionist und ich! )

Dieser endlos lange Gang ... so ist es vermutlich, wenn man stirbt. Ich höre es schon. „Geh ins Licht!“ Nur die Treppe am Ende des Tunnels führt nach oben, womit ich nicht gerechnet hätte. 

Das Bad verfügt über eine Badewanne, in die ich klettern muss. Ich hasse das. Dafür sind die Handtücher brandneu. Schade, dass der Duschkopf voller Kalk ist. Und nachdem ich das heiße Wasser aufgedreht habe, ähnelt der Raum einem Hamam. Kein Wunder. Der Abzug ist so verdreckt, dass er beim besten Saugen nicht funktionieren kann. Der Wasserdruck und die Temperatur schwanken so vor sich hin. Das liegt an dem Herren im Nebenzimmer. Hoffentlich ist er bald fertig mit Duschen. 

Die Wanne ist leider nicht mit irgendetwas Rutschsicherem ausgelegt. Ich taste nach dem Seifenspender. Moment mal! Wieso taste ich? Ach so! Weil es stockdunkel ist. Der Duschvorhang, der meine Lenden umspielt, ist in einem optimistischen, dunklen olivgrün gehalten. Genau das Material, in dem man Leichen einwickelt, um sie unentdeckt aus dem Haus zu schleppen, mit einer Kardanwelle zu beschweren und im See zu versenken. Na gut. Vielleicht ist es besser, wenn man nicht zu viel sieht. Plötzlich wird das Wasser sehr heiß, autsch! Der Nebenmann ist endlich fertig mit dem Duschen.

So, jetzt aber mal was Nettes. Frühstück. Ein dekoratives Schild mit der Aufschrift „Cappuccino, Espresso, Latte“ appelliert an niedere Instinkte. Diese Begehrlichkeiten werden sofort enttäuscht. Es gibt nur einen labberigen Kaffee. Der Samowar für das Teewasser ist defekt. Die ältere Dame, die lächelnd einen ‚Guten Morgen‘ wünscht, ist wirklich nett, und bemüht. Es gibt kein heißes Wasser für Tee, erläutert sie entschuldigend, und sie kämpft darum, lauter kleine Kännchen heranzuschleppen. Zitrone? Hamwa nich. „Scrambled Eggs?“ fragt sie mich bescheiden mit ihrem schleswig-holsteinischen Akzent. Ich überlege einen Moment, ob ich auf Englisch antworten soll, entschließe mich dann aber doch für das deutsche Idiom. Danke nein, ich bevorzuge die fast zu Tode gekochten Eier.  Das Frühstück ist ansonsten - wie sage ich es? - anders, als ich es von zu Hause her gewohnt bin. Ach, was soll’s. Mein Eiweißbrot habe ich dabei, und Ei, Schinken und Käse sind da. Alles gut. 

An den Nebentischen ein Bayer, und zwei heitere russische Paare. Charascho. Nastarowje! Genau, Freunde! So und nicht anders muss man das Leben sehen. Bei mir wirkt noch der Denkfehler nach. Worüber beklage ich mich? Dass mein Lachs fehlt, und der Sahnemeerrettich? Zitrone? ( Ich habe heute welche im Supermarkt gekauft. Sorry, aber ich brauche Zitrone im Tee! ) Der mittelalte Gouda? Die Walnüsse? Und das Bündner Rauchfleisch, das ich so liebe? 
Ist es nicht viel wichtiger, dass die Frau sich wirklich freundlich bemüht, die Unzulänglichkeiten des Büffets durch emsiges Bemühen und freundliche Bemerkungen, sogar auf Englisch, wettzumachen? 

Auf dem Flur begegne ich, ins Hotel zurückkehrend, Ayseren, ein kordiales, kugelrundes Zimmermädchen, die mich überrascht betrachtet. „Zimmer aufgeräumt! Du nicht schlafen?“ 
Ich erkläre ihr, dass ich gern mein Bett mache, weil ich es unwürdig finde, dass das jemand für mich tut. Sie rollt die Augen, „Guuut, guuut! Du verheiratet?“ 

Wer weiß, was morgen passiert. Ich wette, Ayseren hat eine Tochter im heiratsfähigen Alter. Ein Mann, der sein Bett selbst macht, und Ordnung hält? 
Andererseits: Würde eine wirklich gute Partie in diesem Hotel wohnen?


ECONOMY 3

Tag 2

Fragen über Fragen. Auch von euch, liebe Leser. Zum Beispiel, woher ich weiß, dass der Mann Bayer ist. Weil er die ganze Zeit in sein Handy jodelt! „Griass Eahna, Frau Huber! Ois recht, dahoam? Sauber! Des is schee!“ Und auf dem Parkplatz steht ein Golf mit GAP dran.

Oder, ob Ayseren die beim Bettenmachen eingesparte Zeit für die Reinigung des Abzugs verwendet hat. Nein, Leute, da muss ich sie in Schutz nehmen. Das ist eindeutig keine Arbeit für das Zimmermädchen. Da sollte der Haustechniker einen Blick drauf werfen. Aber wenn ich das dem Herrn mit dem osteuropäischen Akzent vorschlüge, weiß ich nicht, was passiert. Ich glaube, dass er gestern schon im Geiste Maß genommen hat, wieviel von den olivgrünen Duschvorhängen er braucht, um mich zu entsorgen. Sicherheitshalber habe ich heute Nacht die Kette vor die Tür gelegt. 

Heute bin ich früh aufgestanden, um meinem Nachbarn beim Duschen zuvor zu kommen. Ja, ich bin so. Es ist ein wenig so, als ob man die Liegen am Pool mit Handtüchern reserviert, bevor die Engländer kommen, oder? Und dann habe ich, als ich ihn höre, das heiße Wasser ein-, zweimal auf und wieder zugedreht. Ich bilde mir ein, ein ‚Autsch‘ gehört zu haben. Hehehe! 

Es ist still geworden, im Frühstücksraum. Mein Garmischer ( oder Partenkirchener? ) Bayer ist abgereist. Die russischen Pärchen haben sich gestritten. Ludmilla zischt Oleg wütend an. Der reagiert beschwichtigend. Na, da kommt er bei ihr gerade an die Richtige! Er hat sich voll daneben benommen, gestern Abend, und das ist absolut unverzeihlich. Warum hat sie nicht auf ihre Mutter gehört! Die hat damals gleich gesagt, nimm nicht Oleg, nimm Fjodor! Der ist bei der Post, und kann einer Frau etwas bieten! 

Alexej und Irina hingegen wechseln kein Wort miteinander. Irina konturiert ihre pinkfarbenen, vermutlich aufgespritzten Lippen. Auch sonst erinnert sie mich an die Katzenberger, mit ihren cremefarbenen Overknees. Sie kann jeden haben. Jeden, wirklich. So attraktiv ist er nicht, das braucht er sich gar nicht einzubilden. Nur weil er Kohle hat? Ach bitte! Und warum steigen sie dann nicht in den ‚Fünf Jahreszeiten‘, oder dem ‚Pazific’ ab? Warum schleppt er sie in diese Absteige, am A... der Welt? Glaubt er etwa, dass sie so billig ist? Da hat er sich aber getäuscht. Großer Fehler. Gleich heute Abend wird sie .... 
Alexej schaut auf seine Rolex. Ob die echt ist? Ich kann Irina gut verstehen. Ich würde ihn auch gern fragen, warum. Schade, dass ich kein Russisch kann!

„Scrambled Eggs?“ Ach ja, ich vergaß. Wir sind in Schleswig-Holstein. „Yes, please!“, entgegne ich, und „Thank you!“ 
Die ältere Servierkraft schaut glücklich aus. Es ist eben ein internationales Hotel, und sie ist, obwohl nicht mehr die Jüngste, den Anforderungen immer noch gewachsen. „War anstrengend heute!“, wird sie dem langjährig Angetrauten heute Abend sagen, wenn sie endlich die Schuhe abstreifen und in etwas Bequemes schlüpfen kann. „Engländer. Russen. Und keiner kann Deutsch!“ Dabei wird sie, auf der roten Couch sitzend, rhythmisch die Füße kreisen lassen. Das tut gut! 

Gut gelaunt - wir erinnern uns: Heute gab es Tee MIT Zitrone! - breche ich in Richtung Parkplatz auf. Ayseren kommt mir entgegen, mit einer jüngeren Frau im Schlepptau. Ob das ihre Tochter ist? Fröhlich nickt sie in meine Richtung, und ich winke ihr vorsichtig zu. „Guter Mann, Hatice“, erläutert sie der jungen Frau. „Gaaaanz guter Mann. Gaaanz sauber!“ 

Der osteuropäische Rezeptionist telefoniert. Er schaut sehr betont NICHT in meine Richtung. Ha! Du machst mir nichts vor, mein Lieber! Ich weiß, dass du mich aus den Augenwinkeln beobachtest, und glaubst ich merke das nicht! Ja, dreh' dich ruhig weg von mir! Denkst du, dass ich nicht erkenne, dass du im Spiegelbild der Scheibe der Vitrine jeden meiner Schritte verfolgst? Mit wem telefonierst du da? Was sagst du? Er spricht mit diesem Akzent, aber ich glaube, verstanden zu haben, dass er neue Duschvorhänge bestellt. 
Ihr wisst Bescheid. Sollte mir etwas zustoßen - der Rezeptionist war’s. Auch, wenn es wie ein Unfall aussieht! 

Der Tag beginnt. 

Ich begebe mich noch einmal kurz auf das Zimmer. Plötzlich öffnet sich die Tür von 109, dem Zimmer also, das mir als erstes angeboten wurde. Ein reizendes, älteres Ehepaar aus dem Schwäbischen wankt heraus. Ich grüße höflich, und kann mir die Frage nicht verkneifen, „Na, auch ECONOMY gebucht?“ Der ältere Herr entgegnet zittrig, „Hano, mir hen do oin Denkfählr gmacht, des war ned so gschickt, gell?“ Mir fällt auf, dass das Ehepaar gar nicht so alt ist. Sie wirken nur so, nach der Nacht in diesem Zimmer. Ich umarme beide, wünsche viel Kraft für die Zukunft, und verabschiede mich mit einem optimistischen „Adele!“


ECONOMY 4 

Kurzer, hochdramatischer Epilog

Die kalte Sichel des Mondes taucht die Landschaft und die Oberfläche des kleinen Sees in ein silbernes Licht. Lautlos gleiten Fledermäuse durch die Zweige der Bäume. Es liegt Schrecken in der Luft, Entsetzen, das die Natur zu lähmen scheint. Die Bäume und Gräser scheinen innezuhalten vor Angst. Einzig der klagende Schrei eines Käuzchens zerreißt die atemlose Stille. 

Mit leisem Knarren öffnet sich die Tür zum Zimmer 121. Eine rotunde Frau und ein Herr mit osteuropäischem Akzent schlüpfen behände durch den Spalt. Mondlicht drängt  durch den nicht ganz geschlossenen Vorhang. Auf dem Bett liegt ein Mann, schön, muskulös, seine elastische, feinporige Haut schimmernd im Kegel des fahlen Lichts. Helle Locken umspielen seine markantes Profil.

Alles geht ganz schnell. Die Frau zieht ein Fläschchen aus ihrem Dekolleté, tropft reichlich von der blauen Flüssigkeit auf ein Tuch, das sie schnell dem wehrlos dort Liegenden auf die edlen Gesichtszüge presst. Dieser setzt sich zur Wehr, mit heftigen Bewegungen, die der Geschmeidigkeit der Tigerkatze ähneln. Alsbald erlahmen seine Kraft, sein letzter Kampf. Der Herr mit dem osteuropäischen Akzent entrollt einige olivgrüne Duschvorhänge, in die das verbrecherische Duo nunmehr den selbst im Tode noch hinreißend attraktiven Körper hüllt. 
„Is' schade, weißt du? War gaaanz sauber. Aber warum nicht Hatice heiraten? Hatice guuutes Mädchen, immer Baklava kochen und so! Vielleicht nicht mögen Baklava - Hatice kochen Köfte! Schade!“

Der Herr mit dem osteuropäischen Akzent kneift die bösartigen Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und presst die schmalen Lippen aufeinander. Er zupft an seinen Ohrläppchen, die angewachsen sind, und jedermann weiß, dass das ein sicherer Hinweis auf Heimtücke ist. „Hab ich nicht mehr ertragen Gemecker von Gast“, stößt er hasserfüllt hervor. „Kann dich kosten Job, wenn erfährt Chef! Jetzt - alles gut. Keine Denkfehler mehr - weil nicht mehr denken! Hahaha!“

Die wirklich sehr runde Frau kratzt sich mit dem Zeigefinger am Kopf. „Was machen? Wohin bringen?“
„Zu anderen Gästen“, antwortet der Herr kalt und bestimmt. 

So setzt sich die kleine Prozession in Bewegung, die Treppe hinunter, über den Parkplatz, durch den Park bis hinunter zum See. Zum Abschied befestigt der Herr mit dem osteuropäischen Akzent eine alte Kardanwelle an dem Paket, bevor sie es mit geübtem Schwung - „Auf drei! Eins ... zwei ... DREI!“ - in das dunkle Wasser werfen, wie schon manch anderen Gast zuvor. Zunächst treibt das Bündel auf der Oberfläche. Plötzlich kippt es unter erheblichem Glucksen, und versinkt in der Tiefe. Etliche Luftblasen steigen auf. Konzentrische Wellen umrahmen das nasse Grab, wie eine flüchtige, vergängliche Markierung.

Dann kehrt Stille ein. Totenstille.

Die kalte Sichel des Mondes taucht die Landschaft und die Oberfläche des kleinen Sees auch weiterhin in ein silbernes Licht. Lautlos gleiten Fledermäuse durch die Zweige der Bäume, als wäre nichts geschehen. Bleiern lastet das Entsetzen auf den Blättern. Kein Lüftchen regt sich. Einzig der klagende Schrei eines Käuzchens zerreißt die atemlose Stille. Sonst erinnert nichts an den Gast, der seinem Denkfehler erlegen ist. 
Im Dorf geht die Legende, dass immer bei Vollmond sich die Geister der hier entsorgten Gäste aus dem See auftauchen und in den Herbergen und Garküchen der Umgebung spuken. Aber auch sonst, wenn man genau hinhört, vernimmt man aus den Tiefen des Wassers ein seltsames Flüstern ( einige von den Älteren behaupten, mit osteuropäischem Akzent ) - „ECONOMY, ECONOMY!“


Du hast ganz recht, Polonius! 

Ich habe in meinem Leben viel Geld verschenkt, und viel Geld verliehen. Ich bin kein geiziger Mensch. Das wird jeder, der schon mal mit mir aus war - was Essen, ins Kino, irgendwas im Supermarkt einkaufen - bestätigen können. Wenn sich die Fachkraft für das Gastronomiewesen auf mein Zeichen hin nähert und das Sprüchlein „zusammen oder getrennt?“ aufsagt, bin ich in der Regel derjenige, der die Zeche begleicht. 

Noch vor gut zweieinhalb Jahren habe ich einer „Freundin“ ( daran glaubte ich damals zumindest ) einen höheren Betrag geliehen. Sie war verzweifelt, wusste nicht aus noch ein, lief mit eingefallenen Wangen und tiefen Ringen unter den Augen herum. Weinte bitterlich. Saß depressiv auf meiner Couch, ein Bild des Jammers. 

Na gut. Vor gut zweieinhalb Jahren konnte ich es mir, dachte ich wenigstens, erlauben. Große Freude. Ich sei ein reiner Engel. Ein Heiliger. Ein Freund, wie man ihn sich nicht besser vorstellen kann. Wahnsinn. Nie, hörst du, nie würde sie mir das vergessen. Nein wirklich. Ein Engel. 

Nach gut einem Jahr stand ich vor einer unerwarteten Ausgabe. Ich erlaubte mir, höflich nachzufragen, ob es möglich sei, wenigstens die Hälfte des Betrags zurückzuzahlen. Was? Jetzt schon? Und so überraschend? Was ich denn glaubte? Sie lebte am absoluten Existenzminimum! Ob ich kein schlechtes Gewissen hätte? 

Nein, das hatte ich nicht. 

Sie kam. Die Lippen schmal, aufeinandergepresst. Wut in den Augen. Da! Dann nimm doch dein Scheißgeld, du Verräter! Ich kann dir nur die Hälfte geben. Schäm dich! Aber ich würde schon sehen. Unrecht Gut gedeihet nicht, das sei ja allgemein bekannt. 

Seither habe ich von ihr nichts mehr gehört. Sie, die früher sicher einmal die Woche hier aufschlug, blieb verschwunden. Nicht mal pflichtschuldige Glückwünsche zum Geburtstag. Neulich begegnete ich ihr in der Stadt. Das heißt, ich wäre ihr begegnet, wenn sie nicht auf dem Absatz kehrt gemacht hätte und geflohen wäre, als wäre der Leibhaftige hinter ihr her. 

So viel zum Thema „Engel“. 

Im letzten halben Jahr bin ich genau 8 ( acht! ) Male, mal mehr, mal weniger direkt, wegen großzügiger, zinsloser, unbefristeter Darlehen angesprochen worden. Teilweise von Menschen, deren Freundschaftsanfrage ich vor kurzem akzeptiert hatte. Es ging darum, Schlepper zu bezahlen, um die kranken Eltern aus Syrien herzuholen, Hunde aus Spanien nach Deutschland zu holen, Druckkosten für Bachelorarbeiten und Studiengebühren zu übernehmen, Steuerschulden, Krankenversicherungsbeiträge und Handyrechnungen zu bezahlen. Zuletzt, indirekt, heute. Deswegen schreibe ich das hier. 
Hätte ich das Geld verliehen, würde ich, hochgerechnet, auf rund € 14.000.- Außenstände blicken. 

Wieso? Du bist doch Arzt! Da musst du doch Kohle haben ohne Ende! Was stellst du dich denn so an? 
Liebe Freunde, ich bin ja keinem Rechenschaft über meine finanzielle Situation schuldig. Ich arbeite nicht mehr, Rente bekomme ich noch nicht. Macht euch keine Sorgen: Hunger hatte ich noch nicht. Aber ich muss verdammt gut mitrechnen - was ich euch auch empfehlen würde. 

Ich habe übrigens trotzdem versucht, jedem einen guten Ratschlag zukommen zu lassen, und über mein privates Netzwerk Kontakte herzustellen.

Im ersten Akt vom „Hamlet“ sagt Polonius „Kein Borger sei, und kein Verleiher nicht! Sich und den Freund verliert das Darlehn oft ...“ 

Ja, genau. Recht hast du, Polonius. Das hat nichts mit Freundschaft zu tun. Im Gegenteil. Ganz im Gegenteil. Und ich bitte die, die meine Nähe suchen, um daraus - im wahrsten Sinne des Wortes - Kapital zu schlagen, von mir Abstand zu nehmen. Wir werden uns gegenseitig enttäuschen. So viel ist sicher. 


Deutschland, Deutschland über alles? 

Na! Der Tag fängt ja gut an! Ich klappe das Buch der Gesichter auf, und lese als erstes von einem Freund den Post, dass er dies „antideutsche Geseiere“ nicht mehr hören könne. Dabei hatte ich noch gar nichts gesagt. Er bezog sich dabei sicher auf die Kritik am Spiel der deutschen Nationalmannschaft. Ich habe ja auch schon oft gemeckert, und ehrlich? Die einzigen Spieler, denen ich Erfolg gönne, sind Kroos und Reus. Bei Hummels sind immer die anderen schuld, Müller ist ein narzisstischer Schreihals, der von mir sehr gemochte Boateng foult sich so durchs Leben, und zu Gündogan und Özil hab ich mich ja schon eingelassen. Die sind mir irgendwie zu - „antideutsch“?

Der Freund - inzwischen Ex-Freund - hat recht. Das war bei mir schon immer so. Ich wurde bereits zu Schulzeiten vom Direktor meiner Schule wegen ketzerischer Äußerungen als „vaterlandsloser Geselle“ beschimpft. Ich habe mich immer mehr als Europäer mit deutschem Pass empfunden. Wie denn auch sonst? Die Familie meines Vaters stammt aus Königsberg/Danzig, also Russland und Polen, mütterlicherseits kamen unsere Vorfahren aus Dänemark. Für welches „Vaterland“ soll ich denn jubeln? Ich bin doch fast automatisch „antideutsch“!

Antideutsch, was für eine widerwärtige Vokabel aus einer Schublade, die ich diesem wackeren AfD-Gegner nicht zugetraut hätte. Ich war nie „stolz“ darauf, Deutscher zu sein. Weder habe ich dazu etwas beigetragen, noch etwas dafür geleistet. Ich bin zufällig in Stade geboren und in Cuxhaven aufgewachsen. Ja und? Es gibt einiges, was ich mit Deutschland verbinde. Wunderschöne Landschaften. Großartige, pulsierende, lebendige Städte. Geist, Kreativität, Kultur ohne Punkt und Komma. Goethe, Beethoven, Liebermann. Sogar die deutsche Geschichte, die zumindest bis vor kurzem noch bewies, dass man sich weiterentwickeln und aus grauenvollen Fehlern lernen kann. Die Wissenschaft wird knapp gehalten, sowohl von den Kirchen, als auch dem Finanzminister, und trotzdem leisteten wir Bemerkenswertes. 

Besondere nationale Eigenschaften zeichnen uns aus. Tüchtigkeit, Pünktlichkeit, Ordnung. Und der ganze Rest! Muss man nicht alles wiederholen. Wir sind großartig. Einmalig. Wunderbar. Übrigens genau wie die Franzosen, die Österreicher, die Holländer, die Engländer, die Spanier ... wir haben unsere Schwerpunkte, unsere Traditionen. Wir haben ein erschreckend gutes Organisationstalent und für jeden Husten ein Gesetz. Wir können auch kochen, sind bunt, und sogar lustig. Genau wie die Polen, die Italiener, die Schweden, die Iren, die Griechen und Portugiesen. Wir sind nicht besser oder schlechter als unsere Brüder und Schwestern. Wir sind genau gleich. 

Und das Beste ist: Wir dürfen an uns Kritik üben. Wir dürfen Parteien scheiße finden. Eisbein und Sauerkraut nicht mögen. Uns über Waffenexporte aufregen, Helene Fischer verachten, und den sächsischen Dialekt unmöglich finden. Es ist gestattet, Lagerfeld zu boykottieren, RTL und die „Bild“-Zeitung als Platform der Dummen anzusehen. Und die Spielweise der deutschen Nationalmannschaft und darüber hinaus einzelne Spieler zu kritisieren. 

Antideutsch, soso. Dann bin ich also ein Volksschädling. So einer, dem Umvolkung und schleichende Islamisierung egal sind. Ein linker Realitätsverweigerer. ( Erstaunlich, was in antideutsch so drinsteckt, gell? Ich bin übrigens meinem Schreibprogramm sehr dankbar, dass die Vokabel „Umvolkung“ als Fehler markiert wird! ) 
Nun, dazu bekenne ich mich leichten Herzens. Ich kann zwar Verantwortung übernehmen für die Weltkriege und das, was dahin geführt hat. Für AfD, Pegida und besorgte Bürger. Schämen werde ich mich nicht dafür, weil alles meine Geschichte ist. Und ich werde kämpfen dafür, dass das nie wieder passiert. 

Ich kann allerdings nur stolz sein auf Leistungen, die ICH selbst erbracht habe. Auf das, was ich bin, und das, was ich getan habe. Mein Leben. Ich darf mich freuen, dass „unsere Jungs“ weiter sind. Ich darf trotzdem kritisieren, nörgeln und hinterfragen, und schimpfen. Und mich ärgern, das Fouls nicht als solche geahndet werden. Antideutsch seiern, also. 

Mein Ex-Facebook-Freund hat Glück gehabt. Er muss sich ab sofort nicht mehr über mich ärgern. 


Die Mannschaft

Ich bin nicht Oliver Kahn. Auch nicht Olli Welke, oder Thomas Hitzlsperger. Und schon gar nicht Béla Réthy, oder was weiß ich noch für ein Experte, der genau weiß, warum die Deutsche Nationalmannschaft nun endlich in der Vorrunde ausgeschieden ist. 

Ich schau ganz gerne Fußball, und ganz besonders Welt- und Europa-Meisterschaften. Und ich habe mir da so meine Gedanken gemacht. Und falls jemand mich niederschreien möchte, oder mich einen Deppen nennt - erspart euch gern diese Mühe. Es zwingt Euch niemand, nicht zu lesen, gell? Hört bitte hier auf, und scrollt einfach weiter. 
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Der Niedergang begann schon ziemlich früh. Russland als Austragungsort? Das Land mit dem Staatsdoping? Das sich über das Völkerrecht hinwegsetzt? In dem man LGBT-Menschen gefahrlos zusammenschlagen kann, weil sie von Staats wegen so gut wie rechtlos sind? In dem unliebsame Menschen mit Rizin, Nowitschok und Radioaktivität, gelegentlich auch durch eine schöne, altmodische Kugel aus dem Weg geräumt werden? Na prima. 

Dann das immer noch diskutierte Foto mit Mesut, Recep und Ilkay. Freunde fürs Leben. Recep fand es super, Ilkay nicht so schlimm, und Mesut verschlugs die Sprache. Nicht wirklich geschickt, im Gegenteil. Schlecht beraten. Besonders, wenn man bedenkt, das Emre die zauberhafte Einladung zum Gruppenbild mit Diktator ausschlug.

Die im Vorfeld der Meisterschaft erledigten Testspiele zeigten die Mannschaft wahrlich nicht in Form. Es wurde beschönigt, bagatellisiert, wegerklärt bis zum Abwinken. Alles schmeckte nach zweckmäßigem, aufgesetzten Optimismus. 

Das, was ich an unseren Mannschaften immer besonders gemocht habe, war das, was auf dem Bus steht, der die Jungs befördert. „Die Mannschaft“, ist dort zu lesen. Genau. Es war EINE Mannschaft. Jahrelang. Einer für alle, alle für einen. Auch wenn mal jemand außer Form spielte, einen schlechten Tag hatte - er wurde von den Mitspielern stabilisiert, und aufgefangen. Ein wunderbares Gefühl von Zusammengehörigkeit und des füreinander Einstehens lag in der Luft. Und das hatte eine Sogwirkung. Man empfand plötzlich Stolz, sprach von Sommermärchen, hängte erstmals wieder SchwarzRotGold heraus. 

Auch dies klappte diesmal nicht. Neuer. Ja, das geht. Nicht doch lieber Ter Stegen? Nee, passt schon. Özil und Gündogan. Was ist jetzt mit denen? Ist das unsere Mannschaft, oder sind die mit dem Kopf woanders? Und so, wie sie gespielt haben, frage ich mich das noch immer. Hummels. Irgendwie der einzige auf dem Platz, der den totalen Durchblick hatte. Sagt Hummels. Die anderen machten Fehler. Hummels auch, aber nicht so Schlimme. Fand Hummels. Müller? Ganz toll. Bei Bayern München, wenigstens. Und laut. Er kann sich wunderbar darstellen, und tut das auch gern. Nur beim Tore schießen? Kroos. Wunderbar. Mit Reus der Beste auf dem Platz. Nur irgendwie klappte das nicht wirklich, mit dem Zusammenspiel vom Rest der Mannschaft mit den beiden.

Und so zerbröckelte unsere Mannschaft, deren Stärke eben nicht war, dass da ein Ronaldo, ein Neymar, ein Messi von 10 weiteren Leuten umschwärmt wurde, sondern dass 11 tief miteinander verbundene Spieler eine großartige Leistung erbrachten.

Habt ihr das letzt Spiel vom Iran gesehen? Die hatten keine Chance gegen Portugal. Verloren, noch bevor das Spiel angepfiffen wurde. Aber sie haben gekämpft. Sich den Arsch aufgerissen. Sie WOLLTEN WIRKLICH was reißen. Schade, dass sie es nicht geschafft haben. Ich mag den Staat genauso gern wie Russland. Aber diesen wunderbaren Männern hätte ich sogar den Titel gegönnt.

Diesen Geist habe ich bei uns ebenfalls vermisst. 
Ich glaube, Herr Löw hat sich da etwas vercoacht. An seiner Auswahl der Spieler kann ich keine Kritik üben. Ich bin ja kein Experte. Aber lauter einzelne Spieler sowie zwei Grüppchen machen eben keine Mannschaft. 

Ein Weltuntergang ist es nicht. In vier Jahren ist ja wieder WM. Und da schaffen wir es bestimmt ins Halbfinale, und scheiden dann gegen die Niederlande aus.


[ Unvorsichtigerweise bin ich Mitglied einer Gruppe geworden. „Self Publishing“. ( Das erklärt immerhin die Abkürzung SP. Aber was ist mit all den vielen anderen, die ich noch nie gehört habe? ) Heute habe ich mich verabschiedet. BFs werden wir in diesem Leben nicht mehr. Deswegen habe ich CU gesagt, und BBS. ] 


Langer Abschied - Kurz gesagt! 


Als ich begann, mich zu fragen, was wohl das Akronym DANKE zu bedeuten hätte, wusste ich, dass ich in dieser Gruppe fehl am Platz bin. 


Ich habe ja nichts gegen Abkürzungen. Ich habe als Dr. med. oft mit HWI und PCA zu tun gehabt, Patienten mit ESWL, TURP, TURBl und NX behandeln müssen. BPH und NeoPL waren sozusagen mein tägliches Brot. Dann erkrankte ich selbst an KHK und SAS und zog mich aus dem Berufsleben zurück - zugunsten des Schreibens. 


Ich habe in diese Gruppe hineinschnuppern dürfen, vielen Dank dafür. Ich habe feststellen müssen, dass meine kleine Welt noch zu beschränkt ist, um folgen zu können. Es gab ja einige Abkürzungen, bei denen ich fast so etwas wie Erleichterung verspürte. BoD, ISBN, DSGVO. Ja, kenne ich. Wunderbar. Und ich war gutgelaunt, und bereit, den Globus sanft und voll Güte zu streicheln. 


Aber dann kamen die Einschläge. SP und SPI. L&K, VÖ, CS. und dann die ganzen Dinger mit K am Anfang: KKA, KU, KNV, KDP, KG. Man will sich ja nie blöder machen, als man ist, aber man steht da und fragt sich heimlich, ob die Abkürzung TB tatsächlich Taschenbuch bedeutet, und VÖ Veröffentlichung - oder ob gerade die Insider lachend zusammenbrechen, ob der Dummheit des unerfahrenen Terminologen.


OMG! Ich weiß, ich weiß. LOL, oder sogar ROFL. Ich verabschiede mich, und versuche, statt lässiger Abkürzungen Wörter und Begriffe zu finden, ausgeschrieben, und dem Laien verständlich. Und zwar ASAP. 


CU.



[ Menschen vertragen keine Kritik. Ich will mich da gar nicht ausnehmen. Gestern wagte ich mich aus meiner Deckung hervor, und schrieb einen netten, heiteren Text - der über diesem hier steht! - über die in einer Gruppe üblichen, mir nicht geläufigen Abkürzungen. Und entfesselte damit einen Sturm. Shitstorm, nennt man das wohl. Ja, das kann schon mal passieren! 😂😂 ]

Wo steht der Quark? 

Es gibt noch Erdbeeren. Das muss man einfach ausnutzen. Die Zeit ist immer so schnell wieder vorbei, und als Indiz dafür nehme ich immer die kleinen Schilder an den roten Verkaufshäuschen mit der Aufschrift „Himbeeren“. Dann spätestens weiß man: Eile ist geboten. 

Nun steht das Körbchen mit den köstlichen Früchten auf dem Beifahrersitz. Was gibt es dazu? Quark und Sahne, oder? Gute Idee. Der Tag war heiß, eine stickige Schwüle legt sich über den Abend. Da kommt etwas Erfrischendes gerade recht. Und da ist auch schon der Supermarkt.

„Guten Abend! Wo steht der Quark?“ Ich lächele die junge Frau höflich an, die damit beschäftigt ist, Dosen mit Mais und Bohnen ins Regal zu räumen. Sie schaut kaum auf. „Guten Abend? Guten Abend? Wollen Sie mich verarschen? Guten Abend, also wirklich!“ 

Sie ächzt unter der Last der Arbeit. Eine Kundin nähert sich. „Hat der eben wirklich guten Abend gesagt?“ Die Fachkraft nickt. „Einfach so: Guten Abend, man stelle sich das vor!“ Die Kundin scheint schockiert. „Hören Sie, Sie Flegel! Glauben Sie etwa, dass Sie sich alles erlauben können, nur weil Sie das Geld haben?“ 

Schuldbewußt blicke ich auf den Boden. „Ich wollte aber doch nur wissen, wo der Quark -“ In diesem Moment biegt ein älterer, rotgesichtiger Herr um die Ecke. „Soso. Quark, also. Das kennen wir ja. Heute ist es Quark, morgen vielleicht schon Camembert! Und? Was kommt als Nächstes? Butter, vielleicht?“ Ja, da hat er recht. Das hatte ich nicht bedacht. „Hören Sie: Ich sag es Ihnen ganz sachlich, und ohne Beleidigung. Sie sind ein Arschloch. Suchen Sie sich einen anderen Supermarkt, in dem Sie Chaos stiften können!“

Eine junge Mutter steuert einen Kinderwagen durch das Labyrinth der Regale. Sie hat den Lärm mitbekommen, und sieht mich vorwurfsvoll an. „Quark? Wie können sie bloß? Ist Ihnen denn der eigene Quark wichtiger? Geht es Ihnen denn immer nur um Sie? Denken Sie denn nie an die Kinder?“ Das beschämt mich. „Aber, ich wollte doch nur - Erdbeeren -“ 

„Typisch! Auch noch Erdbeeren, das passt ins Bild! Na los! Dann gebt dem feinen Herrn seine Erdbeeren!“, ruft ein schlanker junger Mann mit einer Nickelbrille. „Oh Gott, wenn Sie wüssten, wie Sie mich ankotzen! Kommt in diesen Markt, und informiert sich nicht vorher! Zu blöd, um mal in Google zu gucken, was?“ Voll Verachtung schleudert er mir diese Worte entgegen. Ich schäme mich wirklich. Die Leute haben ja recht. 

„Meine Güte, sie Trottel“, meldet sich eine Dame mit einer schicken Kurzhaar-Frisur. „Wo wird er wohl stehen, der Quark? Hm? Haben wir in der Schule nicht gut aufgepasst, was? Quark! Soll ich Ihnen eine Zeichnung machen? Wie kann man nur so dämlich sein! Also wirklich!“ 
„Er hat sogar ‚Guten Abend‘ gesagt“, meldet sich die Supermarkt-Mitarbeiterin zu Wort. Der schicken Kurzhaar-Frisur verschlägt es die Sprache. Wenigstens fast. „Na, da hört sich doch verschiedenes auf! Hören Sie, Sie - FATZKE! Ich bin eine anständige Frau, die pünktlich Steuern zahlt und zwei Kinder zu anständigen Menschen erzogen hat! Wie reden Sie denn hier?“ 

„Der will sich nur wichtig machen, glaubt es mir!“, ruft der schlanke junge Mann. „‚Guten Abend‘, also wirklich! Ich kenne solche Typen aus anderen Märkten!“
Die junge Frau mit dem Kinderwagen greift ein. „Ich hab mal zwei Semester Psychologie studiert. Ich weiß, was bei dem Kerl falsch läuft. Er hat ein Narzissmus-Problem!“ 

Mir wird das Ganze unheimlich. „Entschuldigen Sie, ich -“
„Da hört ihr es! Ich, ich, ich! So geht das den ganzen Tag! Narzissmus-Problem! Was ich euch sage!“ Das Gesicht der jungen Frau strahlt triumphierend. 

„Was ist denn hier los?“ Die Frau im weißen Kittel hält einen Kaffeebecher in der Hand. Offensichtlich kommt sie aus ihrer Pause. Mit letzter Kraft stoße ich hervor, „Quark! Wo steht der Quark?“ Sie lächelt. „Im Kühlregal, neben dem Joghurt. Kaum zu verfehlen!“

Ich arbeite mich durch die Menschenmenge. Unverhohlener Hass schlägt mir entgegen. Ich höre noch, wie ein besorgter Vater zu seinen Sprösslingen sagt, „Seht ihr, das passiert, wenn man ‚Guten Abend‘ sagt, und dann noch nicht mal weiß, wo der Quark steht!“ Der Größere von den beiden schaut mich mit bewundernder Abscheu an. „Papa, gibt’s den auch als Action-Figur? Wie die Monster aus dem Gruselfilm?“

Ich renne aus dem Markt, so schnell ich kann. Zuviel Quark ist gar nicht gut. Und die Erdbeeren schmecken ja auch ohne Quark! 


Am Ende der Fahnenstange

Das war’s dann, oder? Merkel bei Kurz, Seehofer bei Orban, Orban bei Merkel, Seehofer bei Kurz. Ab jetzt ist es amtlich. Es wird eilig noch ganz viel beteuert. Natürlich sind die Internierungslager keine Gefängnisse. Alle können sich frei bewegen. Sie dürfen nur die Lager, Pardon!, die Zentren nicht verlassen. Weil sie ja fiktiv nicht eingereist sind. Das gilt 48 Stunden. Ja, wir müssen uns schützen. Die EU-Außengrenzen sichern. Um den Domino-Effekt zu verhindern. Orban hat es ja gleich gesagt. Und Kurz und die FPÖ auch. Und Seehofer, Dobrindt, Scheuer auch. Und eigentlich ja auch Merkel, bereits 2015. Hab ich heute morgen im Fernsehen gehört, und dann stimmt’s bestimmt. Und Herr Meuthen, Frau Weidel und Herr Gauland sowieso. 

Tja, liebe Geflüchtete. Glaubt nicht, dass wir nicht merken, dass ihr versucht, über den Westen reinzukommen. Schweiz/Deutschland ist sowieso dicht, und für die Abriegelung von Frankreich bzw. Benelux/Deutschland werden gerade Vorkehrungen getroffen, und Kontrollpunkte eingerichtet. Die Westfront steht. Lebensrettung wird neuerdings zum Straftatbestand, und wer so blöd ist, es trotzdem zu versuchen, soll die Leute dahin zurückbringen, wo der Pfeffer wächst.

Problem gelöst. Die paar notwendigen Vereinbarungen sind schnell getroffen. Die SPD wird sich mit rhetorisch-feinsinnigen Interpretationen dessen, was sie mal vor langer, langer Zeit im Koalitionsvertrag forderten, irgendwie aus der Affaire ziehen. 

So geht also Politik. Wer Kinder hat, und ihnen erklären möchte, was Politik und internationale Diplomatie sind, findet reichlich Beispiele. Nein. Die Lösung kann wirklich nicht darin bestehen, dass die Welt nach Deutschland umzieht. Was? Ja, genau. Bekämpfung der Fluchtursachen. 

Rüstungsexporte stoppen. Überfischung der Meere. Ausbeutung von Bodenschätzen. Kritischer Umgang mit fossilen Brennstoffen. Armut bekämpfen, Frieden fördern, die Menschenrechte stärken und die Lebensbedingungen generell verbessern. Kennen wir doch alles. Zumindest die griffigen, eleganten Schlagworte. Ich kann das nicht mehr hören, wirklich. Was schert mich das Leid anderer Leute, sagt man in Hamburg. Solange wir gut daran verdienen? 

Das Kind liegt im Brunnen. Und uns bleibt nichts übrig, als zuzusehen, wie Menschen deportiert werden. Wir nennen es nur Abschiebung. Wie sie in Lagern konzentriert werden. Wir nennen es nur Transit- bzw. Ankerzentren. 

Und wir Bürger?  Wir halten die Schnauze. Ist ja klar. Mein Arbeitsplatz in der Firma, die Waffen produziert, ist ja in Gefahr, wenn die Waffen nicht mehr verkauft werden. Nee, Kinder, ich muss da wirklich an mich selber denken. Und allein die Mobil-Geräte! Wie soll das denn gehen, wenn wir Afrika nicht die seltenen Erden abluchsen? Wir könnten fair bezahlen, sicher. Aber dann kosten die Dinger so viel mehr, und wir wollen doch alle das neue iPhone, oder? Ist sowieso schon teuer genug. Und was dieser Asyltourismus und die Antiabschiebeindustrie schon gekostet haben! Und für unsere deutschen Mütter und Väter ist kein Geld mehr da, wenn sie neue Hüftgelenke oder Stützstrümpfe brauchen! Und dafür hat man nun jahrelang einbezahlt! 

Ja, das war’s dann, mit Humanität. Subsidiarität. Nächstenliebe. Verantwortung. Christentum. Von diesen schönen Utopien, mit denen wir uns so gern belügen, ist nichts übergeblieben. Alle Ideale lösen sich in Luft auf. Alles Geschichte. Geblieben sind gnadenloser Utilitarismus und Pragmatismus. Herr Söder hätte sich das Kruzifix sparen können. Ein gerahmter 500-Euro-Schein oder ein Barrel Öl wären aufrichtiger gewesen. 

Und was ist mit uns? Zu spät, Freunde, zu spät. Wir protestieren höflich, und zivilisiert. Man möchte sich ja nichts nachsagen lassen. Wir stehen am Flughafen, angesichts der Maschine nach Kabul, und halten Papptäfelchen hoch. Von den Kanzeln der Republik hallen hohle Reminiszenzen an das, was wir waren. Wir beruhigen unsere schlechten Gewissen. Hier, das Hemd zieh ich sowieso nicht mehr an. Das spende ich für die Flüchtlinge. Weil ich ja doch ein guter, großzügiger Mensch bin. 

Ich würde gern eine Lösung anbieten. Ich weiß bloß keine. Hat jemand eine gute Idee? Ich hätte ja gedacht, man bekommt das mit Wählen hin. Aber das hätte ich mir auch sparen können. Die Schwarzen und die Roten verlieren, koalieren, und machen weiter, als sei nichts gewesen. Die Gelben sind viel zu dicht an den Blauen. Und für die Grünen und die richtig Roten reicht es nicht. Das war wohl nix. 

Und wie kann ich sonst, als Einzelperson, Fluchtursachen bekämpfen?  Hilft es, bei McDonalds auf Plastikdeckel und Trinkhalme zu verzichten? Im Dezember keine Erdbeeren zu essen? Den Thermostaten an die Heizung zu bauen? Im Supermarkt regional zu kaufen? Den Müll zu trennen? Öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen? Bestimmte Firmen und Konzerne zu boykottieren? Mal darauf zu achten, welches totalitäre System ich durch meine Urlaubsbuchung fördere? Welches faschistische Land ich durch Einschalten des Fernsehers bei der Formel 1 und anderen großen Sportveranstaltungen indirekt unterstütze? 

Ich gebe mich ungern mit Verhältnissen zufrieden, die ich für mich als falsch erkenne. Aber ich habe auch keine Ahnung, wie ich an diesen etwas ändern kann. Bleibt wirklich nur Resignation? 

Ich weiß es nicht. 


„Fortsetzung folgt!” oder „... immer zweimal im Leben.”

Wir haben immer schallend über sie gelacht. Nicht boshaft, oder mit schlechten Hintergedanken. Wir hatten sie ja lieb, mit ihren platten Spruchweisheiten. Unser Lachen war gutmütig. Ach Oma, was du da wieder für'n Quatsch erzählst. Und sie antwortete immer, warte nur ab. Komm du erstmal in mein Alter! Dann siehst du die Dinge auch anders! 

Ja, und nun ist es soweit. Ich bin in ihrem Alter. Und? Na bitte. Nichts passiert. Außer, dass ich manchmal an ihrem Grab stehe, und immer noch lachen muss, unter meinen Tränen. 

Warum ich das erzähle? 

Erinnert ihr euch an gestern? Das Fitnessstudio? Felix? Den Kaffee? 

Ein Blick in den Kühlschrank beweist: Quark ist aus. Sahne. Und es soll Matjes geben. Also: Fisch, und Apfel. Zwiebeln sind noch da, und Speck, und Kartoffeln auch. 

Also: Schnell zum Supermarkt. Ich liebe Supermärkte. Zack, zack, liegt alles im Einkaufswagen, und dann steht man stundenlang an der einen geöffneten Kasse. „Was machst du denn hier?”
Ich fahre zusammen. Ein Junge strahlt mich an. Einen Kopf kleiner als ich. Mit quadratisch-kompaktem Körperbau. Und beneidenswert gleichmäßig schwarzer Hautfarbe. 
Ich muss grinsen. „Sag mal - überwachst du, ob ich mich anmelde?“ 
Er inspiziert meinen Einkaufswagen. „Sahne? Nicht gut für dich!” 
„Besser als Schokolade“, verteidige ich mich lahm. „Sag mal - hast du Zeit? Gegenüber ist eine Eisdiele!“
„Eis? Nicht gut für Dich!“
„Ich will ja auch keins essen. Du hast mich gestern zum Kaffee eingeladen, ich Dich heute auf ein Eis. Gut?“

Er wählt den Erdbeerbecher. Ich einen einfachen, großen, schwarzen Kaffee, ohne irgendwas. 
„Sag mal: Es ist Mittag! Was machst du hier eigentlich? Musst du nicht arbeiten?”
Er schüttelt den Kopf. „Abschlussklausuren. Ich bin mit der Schule durch.”
„Abi?“
„Realschule. Ich will erstmal meinen Sportkaufmann machen.“ 
„Reicht Dir das denn, Felix?“
Er schaut mich an. Das erste Mal, dass ich in seinem Gesicht einen Anflug von Traurigkeit entdecke. Na gut. Nachdenklichkeit. „Ich muss Geld verdienen. Mein Vater fährt für eine Spedition, Mama putzt. Rate mal, wo!“
Er lacht. „Und dann hab ich noch zwei kleine Schwestern. Und ganz viel Verwandtschaft in Ghana, die alle einmal im Monat zur Filiale von Western Union in Accra pilgern, um die Kohle zu holen, die Papa schickt!“

Dir Situation kenne ich durch meine Patienten. Sehr schwierig, und kaum zu lösen. 

„Aber wenn du Abi hättest, und studierst, oder irgendwie eine dollere Ausbildung machen würdest?“ 
„Wäre schon schön! Dann würden mich auch die Eltern meiner Freundin nicht so komisch angucken!“ 
„Wie - komisch?“
„Ich weiß nicht, ob du es bemerkt hast, aber - ich bin schwarz!“ 
„Ach was! Ja, jetzt, wo du's sagst! Hey, bist du Rassist? Es ist 2018! Das kann doch kein Thema sein!“

Felix rührt in seinem Eisbecher, dass den Erdbeeren schwindelig wird. „Ist es. Glaub mir. Hast du eigentlich WhatsApp?”
Hab ich. Sogar Telegram. Ich biete auch noch Facebook an. Er grinst. „Das ist nur für alte Leute!“

Ich erfahre viel von Felix. Seinen Ängsten und Problemen. Seinen Träumen. Seinen Konflikten. Er erzählt. Manchmal fragt er nach meiner Meinung. Ich halte mich vorsichtig zurück. Er soll lieber erzählen. 
Sein Vertrauen haut mich um. Aber ich hülle mich in Schweigen. Kann sein, dass dies hier zufällig jemand liest, der ihn kennt. Und Manches gehört einfach nicht an die Öffentlichkeit. Nur so viel: Er ist ein Wahnsinnstyp. Aber das wusste ich schon, seit gestern. 

„Was ist denn jetzt? Kommst du?“ 
„Ihr seid viel zu teuer für einen armen alten Rentner!“
„Mir kommen die Tränen! Also: Erstmal registrier' ich dich unter ‚Schnuppertraining‘. Und dann kriegst du Familienrabatt.“
„Wie? Familienrabatt?“
„Ich erkläre dich hiermit zu meinem Opa!” Er schaut mich an. Endlich lacht er wieder. „Zu meinem sehr, sehr blassen Opa!“ Der freche Kerl!

Tja, Oma. Ganz offenbar bin ich in deinem Alter. Und ich sehe viele Dinge anders. Da hast du recht behalten. Was sagst du da? Man sieht sich immer zweimal, im Leben? 

Wie hast du das wissen können? 

So, ich bin dann mal weg. Turnschuhe kaufen. 


„Noch 'ne Fortsetzung“ oder „Jetzt wird’s ernst!“

Scarlett Johansson ( dieser sieht die junge Frau täuschend ähnlich ) macht bei mir den „medical check“. Sie sieht besorgt aus. Diesen Gesichtsausdruck kenne ich seit 2008. „Der Blutdruck ist ok, aber ihr Herz?“ Ich beruhige sie. „Was erwarten Sie denn auch von jemandem, dessen anstrengendste Tagesaufgabe es ist, sich morgens die Socken anzuziehen?“

Sie verzieht das ebenmäßige Gesicht. „Wissen Sie, ich bin Krankenschwester. Lauter Extrasystolen!“ Ich weiß das. Ich fühle die Dinger ja, besonders wenn sie in Salven kommen. Charmant lächelnd, mein unbestimmtes Grandseigneur-Image pflegend, versuche ich, ihre Sorgenfalten zu glätten. „Ach was! Das kennen Sie doch bestimmt! Ich wette, dass das allen Männern so geht, denen Sie ein Stethoskop auf die rasierte Brust pressen!“ Sie verzieht keine Miene.

Schwester Scarlett fällt ihr Urteil. Mindestens 2 Wochen nur Balance, Cardio und Walken auf dem Laufband. Kurz. Ohne Belastungsstufen. Dann noch mal Check. 

An der Tür auf der Rückseite der Halle mit den Laufbändern steht ‚Body Shaping‘. Ich bemühe mich, witzig zu sein. „Da arbeitet ein Chirurg?“ Ihre vollen Lippen produzieren ein gequältes Lächeln. Das ist überhaupt auffällig. Überall ernste Gesichter. Ihr kennt diesen Ausdruck von Börsenmaklern, Bundeskanzlern, Bankern, die euren Kreditantrag ablehnen. Wohlgeformte, schöne junge Menschen jeden Geschlechts stehen posierend vor überdimensionalen Spiegeln und betrachten sich, als handele es sich mindestens um Picassos ‚Guernica‘. Dabei hätten sie Grund, zum Lächeln. Aber das hier ist kein Spaß. Das ist bitterer Ernst. Das ist Überlebenskampf. 

Schwester Scarlett übergibt mich an Kylie Minogue, die mit mir die Balance-Übungen machen soll. Schreck lass los! Ein Brett, das an der Unterseite rund ist. Da soll ich drauf stehen? Überraschenderweise geht das gar nicht so schlecht. Rings um mich herum liegen auf Thermo-Matten schlanke, ästhetische Muskelpakete, die mit Sit-ups und Push-ups und Crunches und Squats versuchen, das in Form zu bringen, was bereits in Form ist. 

Der Sportunterricht meiner Schulzeit fällt mir ein. Im Sommer Laufen, Weitsprung, Kugelstoßen. Im Winter Geräteturnen, das, wovor ich am meisten Angst hatte. Nein, ich habe die Rolle über den Barren noch nicht mal mit Hilfestellung geschafft. Auch den Aufschwung am Reck nicht. An dem Ding hing ich wie eine überreife Pflaume, und alle johlten. Und wenn Volley- oder Basketball gespielt wurde, war ich immer der, der noch zuletzt dastand, und die Mannschaft, die mich verkraften musste, stöhnte ein „Auch das noch! So ein Mist!“ in die schweiß- und testosteronschwangere Atmosphäre der Turnhalle.

Wo ist eigentlich Felix? Da quäle ich mich hier ab, seinetwegen, und dann ist er noch nicht einmal da, um mich mit ‚Way to go, Buddy‘, oder was man da eben so ruft, anzufeuern. Naja. Mein Spaziergang auf dem Laufband ist nicht wirklich anfeuerungswürdig. Da bin ich bei Rewe und Real aber deutlich schneller, besonders, wenn es darum geht, vor der Kasse noch den einen oder anderen Rentnerkollegen zu überrunden!

Mein Blick schweift heiter über erstaunliche, erotisch-attraktive Körper. Strampelnde Körper auf Fahrrädern, die sich mühen, und dennoch nicht vom Fleck kommen. Rennende Körper, die sich keinen Meter vorwärts bewegen. Körper, die Dinge hochheben, nur, um sie im nächsten Moment wieder fallenzulassen. Körper, die scheinbar steigen, ohne wirklich hochzukommen. Menschen sind komisch. 

Inmitten dieser ist, auch wenn sie in allen sorgfältig eingeölten Braunschattierungen dieser Welt glänzen, ein schwarzer Körper leicht zu entdecken. Auch wenn er an Ausdruck den anderen gleicht. 

Ich winke ihm zu, verliere beinahe Balance und die Koordination auf dem Band und kann mich in letzter Sekunde an den seitlichen Haltestangen festklammern. Er winkt zurück, begleitet von einem fadendünnen Lächeln. Irgendwas stimmt nicht. 

„Na? Gefällt's dir?” 
Ich bemühe mich, meiner Begeisterung Ausdruck zu verleihen.
„Sagenhaft! Toll, wirklich! Dies Adrenalin, das meinen zerbrechlichen Körper flutet! Die Freude an der Bewegung! Endorphine, Endocannabinoide, soweit die Rezeptoren reichen! Jeder Muskel wird bewegt - sogar die, die völlig überflüssig sind, weil man sie nie braucht! Einfach wunderbar! Wieso sind nicht alle Menschen hier - ?”
„Lügner! Du findest es voll ätzend!“
Vielleicht habe ich es doch etwas übertrieben. Bin ich so leicht zu durchschauen? 

Aber was ist mit Felix? Mit der Trauer in seinen Augen? Sein Gesicht ist bedrückt, die Körperhaltung kündet von Hoffnungslosigkeit. „Felix, was ist los? Du siehst sowas von scheiße aus!“
„Ich will nicht drüber reden.“
„Ist ok. Aber wenn du willst, melde dich. - Es ist was mit Leah, oder?“
Er schaut mich verblüfft an. „Woher -?“
„Woher ich das weiß? Vor 40 Jahren war ich selber 20. Und meistens unglücklich verliebt. Das schreit übrigens nach Eisbecher mit Erdbeeren.”

Ich lasse ihm die Zeit. Er kann mich mit WhatsApp erreichen. Facebook ist eben nur für alte Leute. Leute, die nicht ins Studio gehen. 

Ich erwäge seit Kurzem, mein Profil dort löschen. 


„Fortsetzung - die 5.,  oder?“ oder „Ein Platz an der Sonne“

Ich hatte gar nicht geglaubt, dass Felix sich melden würde. Wir waren auseinandergegangen, wie halt Kumpels auseinandergehen. Kameraden. Männer. Ok, ich pack’s dann!  Servus, Tschüß, mach’s gut, wir sehen uns, alles klar, schönen Abend noch. Verlegen-distanziertes Schulterklopfen. Pass auf dich auf! Gezwungen heiter, mit falschem Lächeln, das man auch aufsetzt, wenn jemand fragt, wie geht es dir, und man antwortet, ja, nee, muss ja. Seien wir zufrieden. 

„Hast Du mal Zeit, zu telefonieren? Wegen L.?“  Das stand in der weißen, also seiner, Sprechblase. In meine Grüne schrieb ich „Nicht doch lieber Erdbeerbecher?“ Dann folgte, nach einer kleinen Ewigkeit, ein „Ok. 13 Uhr? Da hab ich Pause!“ Und stylish, wie ich bin, entschied ich mich für das coole ‚Daumen hoch‘-Emoji. Wie man das so macht, unter jungen Leuten. Auf WhatsApp, zumindest. Nicht auf den sozialen Netzwerken, auf denen nur ältere Leute unterwegs sind. Ziemlich lässig, oder?

Es ist ungeheuer schwierig, das Folgende aufzuschreiben, in heiter-unterhaltsamem Ton, mit einem Augenzwinkern. Ich schreibe gern lustig und detailgetreu, aber das bietet sich hier nicht an, denn das ginge nicht, ohne Gefühle, Vertrauen, Respekt zu verletzen. 

Deswegen bleibe ich bei oberflächlichen und eher zusammenfassenden Andeutungen. Das was ich hörte, rührte mich zu Tränen. Seine Liebe, seine scheue Bewunderung für dies schicke junge Mädchen aus der besseren Gesellschaft, die jeden, wirklich jeden hätte haben können, und hinter der alle her waren. Der Moment, in dem er es vollbrachte, ihr zu verdeutlichen, wie er für sie empfand. Genau das, was man Sonntag abends ab 20:15 Uhr im ZDF sehen kann.

Aber auch die dann akut einsetzende Realität in Gestalt ihrer Freunde und, ganz besonders, ihrer Eltern. Unverständnis, rassistisch, voller sexueller Anspielungen der peinlichsten Sorte. 

Ich weiß, dass sich das sehr pathetisch anhört, aber ich hätte bezweifelt, dass es so etwas überhaupt noch gibt. Reinheit. Arglosigkeit. Redlichkeit. Oder? Wie geht es euch damit? Komm! Die Kids sind doch alle so abgewichst, so ausgebufft. Cool. Nur auf ihren Vorteil bedacht. Und dann steht man jemandem gegenüber, der die personifizierte Unschuld verkörpert. 

Es fehlt mir nicht an Worten, die Gespräche, die Leah’s Mutter mit ihm führte, zu protokollieren. Die Perfidie der Logik, die innerhalb dieses anmaßenden, falschen Weltbilds existiert und dieses zusammenhält, ist so immens wie verdorben. Dieser höfliche, emotionslose Rassismus der gehobenen Mittelschicht, der sich in keiner Weise vom vorsichtigen, aalglatten Antisemitismus dieser Klasse unterscheidet, ist widerwärtig. 

Mir sind in meinem Leben solche Sätze immer wieder begegnet. Sie beginnen in der Regel mit „Ach wissen Sie, ich habe ja nichts gegen [Schwarze, Juden, Homosexuelle, Moslems, Politiker]. Das sind ja auch Menschen. Beziehungsweise, fast. Aber wir müssen doch auch an Leah denken, an ihre Zukunft, nicht wahr! Die Gesellschaft ist leider noch nicht so tolerant, wie sie es eigentlich sein sollte. Und eine derartige Mesalliance könnte meiner Tochter Türen vor der Nase zuschlagen, durch die sie - aus Karrieregründen - nun mal gehen muss. Das verstehen Sie doch sicher, oder? Wenn Sie unsere Tochter wirklich lieben, wie sie behaupten, gibt es nur einen Weg, das zu beweisen. Sie müssen sich von ihr trennen. Außerdem bezweifele ich, dass Sie ihr das Leben bieten können, das sie gewohnt ist!“

Da sitzt er nun vor mir, ein bildhübscher Junge, dessen Tränen in einen Erdbeerbecher tropfen. Er hat ihn nur pro forma bestellt, ohne ihn wirklich zu wollen. Immerhin gibt, wie dem Raucher die Zigarette, der Löffel ihm Halt. Der Löffel,  mit dem er die rosa Kugeln aus Speiseeis mit gezielten Stichen ermordet, stellvertretend für eine Mutter, die die große Liebe ihrer Tochter hintanstellt, angesichts von eitlem Geld und Gloria. 

Warum hassen Mütter ihre Kinder? Und warum lassen die Kinder sich dies gefallen? Ich würde die Dame gerne fragen, „Gnädige Frau [Damen dieser Art lassen sich gern mit ‚Gnädige Frau‘ ansprechen], liegt es daran, dass SIE Ihrer Tochter ihr Glück nicht gönnen, weil Sie selbst unglücklich geworden sind, inmitten Ihres Wohlstandes, Ihrer Wichtigkeit, Ihrer Mitgliedschaft im Country Club, im Lions Club, oder bei den Rotariern? Trotz Tennisclub, und dem Seglerverein? Hat IHRE Mutter sie auch schon gehasst, wie Sie jetzt IHRE Tochter? Wie ist eigentlich Ihr Handicap beim Golf? Respekt! Aber gerade dann, wenn ihre gesellschaftliche Stellung so gefestigt ist, müsste es doch möglich sein, ihrem Kind das NICHT zu verwehren, das SIE nie hatten, obwohl Sie selbst sich immer danach gesehnt haben. Oder?“

Ja, das würde ich sie wirklich gern fragen. Ich reiße gern mein großes Maul auf. Besonders, wenn ich wütend bin. Ich bin nicht bereit, schweigend hinzunehmen, wenn jemand, den ich gern habe, verletzt wird. „Sag mal, Felix“, taste ich mich heran, „meinst du, wir sollten mal gemeinsam mit Leah und ihrer Mama darüber diskutieren?“

Er erstarrt, blickt mich ungläubig und mit einer Art überraschtem Entsetzen an. „Du meinst -“
„Na ja“, erkläre ich. „Ich bin ja der Gesellschaftsschicht dieser Dame verhältnismäßig nahe. Und mehr als vernichtende Blicke und bösartige Phrasen kann sie mir nicht um die Ohren hauen. Ich lasse dann einfach mal den Dr. med. heraushängen. Und benehme mich untadelig, auch wenn's schwerfällt. Trotzdem denke ich, solltest du vorher mit dem Mädel klären, wo ihr beiden, und wie sie zu dir steht.“

Dann passiert etwas, was mich einfach umhaut. Wirklich. Ich schreibe das hier auf, und ich habe Schwierigkeiten, das Display meines iPad scharf zu sehen, weil ich heulen muss, wenn in mir die Situation wieder aufsteigt. Und ich hoffe, dass ihr, die ihr das hier lest, verstehen könnt, was ich in diesem Augenblick empfand. 

Felix zieht eine Brieftasche hervor, öffnet sie, und zieht ein verknicktes Foto heraus. „Ich hab das noch nie jemandem gezeigt“, flüstert er. „Nicht mal Leah.“ 
Und, nach einer winzigen Gedankenpause, fragt er mich, „Kann man so jemanden lieben?“

Ich begreife in diesem Moment schlagartig alles. Sein ganzes Leben. Seine Nöte, seine Ängste. Da ist die Antwort auf die Fragen, die man nicht stellt. Sein Kampf darum, jemand zu sein, wahr und ernst genommen zu werden. Einen Platz zu finden, der ihm gehört, an dem er willkommen, geliebt und zu Hause ist. 

Ich würde ihn gern in den Arm nehmen, was mir nicht gelingt, weil es in diesem Moment auch nicht wirklich passt. Ich bin völlig bewegungsunfähig. Erstarrt in Gefühlen und Gedanken. In meinem Kopf dreht sich alles. 

„Natürlich kann man“, antworte ich leise. „Man kann nicht nur. Man muss.“

Ich gebe ihm sein Foto zurück. Das Foto, auf dem ein kleiner, pechschwarzer Junge abgebildet ist, der etwas linkisch und verlegen auf dem Spielplatz einer Stadt steht, mit gesenktem Kopf,  fernab von den anderen Kindern. Allein. Wie verloren.

Und sehr, sehr dünn.


„Letzte Fortsetzung, unwiderruflich! ...“ oder „ ...es sei denn, es gibt etwas Wichtiges!“

( Eigentlich schlafe ich um diese Zeit. Und schreiben kommt so spät, dass es eigentlich so früh ist, auch nicht infrage. Für grammatische oder Rechtschreibfehler bitte ich um Nachsicht. )

So unterschiedlich können die Motivationen sein, ein Fitnessstudio zu besuchen. Die einen tun's zur Gewichtsreduktion und für die Beweglichkeit, die anderen fürs Selbstbewusstsein. Um mehr zu erscheinen, als man ist, von seiner Dimensionierung her. Um mehr Platz für sich in Anspruch nehmen zu können. Um nicht jeden gleich an sein Innerstes, seine Schwächen, den zarten Kern heranzulassen, und diesen gleichsam mit einer isolierenden Schicht zu umgeben. Und um mit mehr Stärke den Unbilden des Lebens gegenübertreten zu können.

Mein Angebot, mit Leah und im Verlauf auch mit ihrer Mutter zu reden, ist anmaßend. Felix ist, das bemerke ich deutlich, hin und her gerissen zwischen Zuversicht und Hoffnungslosigkeit. Das Gefühl, dass alles sowieso sinnlos ist, scheint zu überwiegen. Und sicher ist das auch richtig so, entsprechend meiner eigenen Lebenserfahrung. 

Das Weltbild von Eltern zu verändern ist, wenn diese zugunsten ihrer Kinder nicht bereit oder in der Lage sind, sich an die sich verändernden Gegebenheiten anzupassen, schier unmöglich. Das habe ich ja selbst erfahren müssen, und zur Strafe mein Elternhaus verloren. Mir allerdings war es immer wichtiger, meinen Lebensplan zu verfolgen, und meine Ziele zu verwirklichen, als das Leben meiner Eltern zu leben. Würde das bei Leah auch der Fall sein?

Moment mal! Felix und ich - wie lange eigentlich kennen wir uns? Wie bitte? 8 Tage? Macht ihr Witze? Ich werde mal ein Drehbuch schreiben, genau zu dieser Geschichte, und ich werde miese Kritiken bekommen. Ich lese es schon. „Völlig unrealistisch“ und „eindimensional strukturierte Figuren“, wird dort stehen, und die Rentnerin Karin P. aus M. wird wütend in einem Internetforum ihre Einlassung veröffentlichen, dass sie ihre Fernseh- und Rundfunkgebühren lieber für Geschichten mit Happyend bezahlt. 

Ääähh - wie war das? Kein Happyend? 

Ach, es war ein deprimierender später Abend. Ein betrunkenes dreijähriges Kind hätte gemerkt, dass Leah zwar unfassbar hübsch war, tolle Figur, elegante Bewegungen, unfehlbarer Geschmack bei der Auswahl ihrer Garderobe. Auch nicht dumm, nein, wirklich nicht. Aber ausgestattet mit der Empathie eines Sherman-Panzers und anstelle eines Herzens mit einem Taschenrechner vermochte sie nicht, den Eindruck eines verzweifelten Mädchens, dem die bösen Eltern den Umgang mit dem Bad Boy verbieten, aufrechtzuerhalten. Es war für jeden - außer für Felix - sofort ersichtlich, dass Sie den Umgang und die, sagen wir mal, körperliche Nähe zu dem attraktiven Jungen ziemlich prickelnd - also gut, ziemlich geil fand. Aber das hatte sie gehabt, und das war’s dann auch. 

Das passte nicht wirklich. Er bedeutete ihr nicht mehr als ein Toyboy. Sie war die Welt für ihn. Ich bin sogar überzeugt davon, dass es gar nicht so vieler mütterlicher Überredungs- und Manipulationskünste bedurfte. Ich bitte hier in aller Form um Entschuldigung, gnädige Frau. 

Ich würde so gern jemandem die Schuld zuweisen. Das ist so erleichternd, wenn man den Bösen als Solchen identifiziert hat. Es schafft Ordnung im Weltbild. Alles löst sich in Einfachheit und Wohlgefallen auf. Aber das ist nicht so. 

Leah hat Felix kennengelernt und ist - ja, auch eine Frau darf das! - ihren Trieben gefolgt, ohne mit ihm Zukunft-Kinder-HausmitGarten zu verbinden. Sie hat Beute gemacht. So hat ihre Mama sie halt erzogen. „Nimm, was du kriegen kannst, mein Schatz, aber sei nicht dumm. Mach dich nicht abhängig, und verfolge deine Ziele konsequent. Spiele mit den Kerlen, bevor sie mit dir spielen. Und verliebe dich bloß nicht, wenn es sich vermeiden lässt. Hormone spielen einem böse Streiche. Fall nicht darauf herein.“ Was man halt so sagt, wenn man selbst verbittert ist.

Diesem durch den sozialen Stand vorgezeichneten Leben steht Felix gegenüber, der Junge, der um jeden Dreck kämpfen muss, wegen der ärmlichen, bildungsfernen Verhältnisse, aus denen er stammt, und seiner Hautfarbe. Bei diesem Kampf kommen ihm drei Eigenschaften zugute: Seine Intelligenz, sein Aussehen, und seine Fähigkeit, zu lieben. Letztere findet er im Augenblick als höchst lästig, das weiß ich. Dabei ist sie sein eigentliches Kapital. Aber das begreift er schon noch. Und wenn nicht, werde ich es ihm sagen. Immer wieder.

Warum hat man bloß immer das Gefühl, jetzt DEN Menschen getroffen zu haben, der vermutlich die unweigerlich letzte Chance ist, im Leben. Und wenn der plötzlich weg ist, wird man NIEMALS WIEDER jemanden finden, der zu einem passt und dumm genug ist, sich an einen zu binden. 

Ausgehend vom philosophischen Ansatz meiner Großmutter, dass auf jeden Pott ein Deckel passt, und dass, wenn man gerade 20 ist, man noch so vielen Frauen begegnen wird, die als potenzielle Partnerinnen infrage kommen, ist das alles kein Drama. Das wird schon, keine Sorge. Lern was draus. Schau einfach, ob ihr gemeinsame Ziele habt, im Leben. Und wenn es nur dies ist, miteinander alt zu werden. Und noch nicht einmal dann gibt es Garantien auf Glück. Auch wenn’s wahrscheinlicher wird.

Aber das verschieben wir auf morgen, ok? Schluß mit den Eisbechern, alter Fresssack! Sag mal: Ist das ein Bauchansatz, der sich da hinter Deinem T-Shirt abzeichnet? „Sport würde dir guttun, Felix!“
„Ey! Das ist mein Satz!“
„Red nicht. Ich will Schweiß sehen. Wenn dein Gesicht schon nass sein muss, dann bitte Schweiß. Oder Blut. Keine Tränen, hörst du? Du Weichei!“ Er sieht mich eine Sekunde lang erstaunt an. Ich halte seinem Blick stand. Er lächelt. Ich nehme ihn in den Arm. Endlich passt's. 
„Morgen im Studio? Du hast noch Schnupperstunden offen!“
„Morgen im Studio. Und die nächste Frau stellst du mir gleich vor, ok?“
„Mach ich, Opa!“
„Jetzt wirst du schon wieder frech. Aber das ist ein gutes Zeichen!“

Ja. Ein wirklich gutes Zeichen.



„Felix, die 7.“ oder „Kleiner, aber notwendiger Epilog“

Ich hab's ihm erzählt. Ich habe ihm erzählt, dass aus unserer Begegnung ein Sechsteiler geworden ist - eigentlich, mit diesem Text hier, sogar ein Siebenteiler. Er hat mich ungläubig angesehen, und dann gelesen. 
„Du spinnst ja total. Wofür du alles Zeit hast! Ich will auch kein Mitleid“
„Wieso, Mitleid?“
„Wegen Leah!“
„Kriegst du auch nicht. Bei dir stehen die Mädels Schlange. ‚Bitte ziehen Sie eine Nummer!‘ Reich werden könnte ich mit dir!“ 

Er lacht verlegen. Diese Schüchternheit ist es, die ihn so unglaublich sympathisch macht. Und attraktiv. Jemand, der charakterlich und optisch 'ne glatte 10 ist, und glaubhaft vermittelt, dass er sich dessen nicht bewusst ist? 

„Du weißt aber schon, dass ich die alle gar nicht will, oder?“
„Ja, na klar. Aber Leah war auch ein Fehlgriff, oder?“
„Sag nix gegen Leah! Sie kann nichts dafür. Ich bin eben nicht ihre Liga!“
„Felix, du bist blöd. SIE ist nicht DEINE Liga.“
„Sag mal - machst du dir Notizen? Schreibst du das jetzt auch auf?“
„Was hast du denn gedacht? Na klar!“

„Ich werd' verrückt! Du hast das alles aufgeschrieben? Wen interessiert das?“
„Also, gelesen haben es durchschnittlich 300-400 Leute. Also nicht so viele. Das werden aber noch mehr, in den nächsten Wochen. Die Autorenseite und meine Homepage haben Zähler. 
Ich schreibe eben Sachen gern auf, um sie nicht zu vergessen. Und weil ich Spaß dran habe. Sachen, die mich glücklich machen, oder wütend, oder traurig. Wenn ich wütend und traurig bin, ist das für mich so eine Art Therapie. Ich verbanne meine negativen Gedanken auf ein Blatt Papier.“
„Und das hilft?“
„Immer!“
„Ich hab dich glücklich gemacht, stimmt’s?“ 
„Sagen wir: Nicht direkt unglücklich!“
„Wahnsinn! Aber nicht, dass Fanpost -“
„Natürlich nicht. Du heißt ja auch nicht Felix, und Leah nicht Leah. Und wir verraten niemandem, wo das Studio steht. Sonst kommen wohlmöglich noch Leute, die mich im Tracksuit mit nahtreduzierter Verarbeitung, elastischem  Armbündchen und Klimaregulierung sehen wollen.“

Felix lacht. Es klingt tückisch.
„Wieso, Opa? Du siehst doch gut aus - für dein Alter!“

So ist die Jugend heute. Damit muss man sich abfinden. Zu meiner Zeit - also, WIR hatten noch Respekt. Ehrfurcht, manchmal.

Komisch. Eine gute Woche, und so viel Vertrautheit. Soviel Selbstverständlichkeit. So viel Nähe. Felix ist ein Freund. Er ist es nicht geworden. Er war es von Anfang an.

Und das ist alles, was wichtig ist. Und alles, was zählt.


Fortsetzung mit Fufu. Ist so. 

Ich kann noch nicht mal genau sagen, was ich erwartet habe. Irgendwie - etwas mehr Afrikanisches, glaube ich. Eine Maske und zwei gekreuzte Speere an der Wand. Oder ein Löwenfell auf dem Boden, über dessen Kopf man, wie bei Dinner for One, immer wieder stolpert. Oder so eine Schnitzerei aus Ebenholz. Eine Elefantengruppe. Oder ein Krieger, vor einer Trommel hockend. Nichts von alledem. Stilmöbel aus hellem Kiefernholz. Reinstes IKEA. Allein das bunte Motiv des Teppichs, und das festtäglich-farbenfrohe Outfit der Hausfrau mit passendem, in die Haare gewundenem Tuch, erinnern an das Herkunftsland von Felix' Familie. 

Im Flur fällt mir ein Kruzifix an der Wand auf, und da auf dem Flurschränkchen, wo bei Mama in Cuxhaven eine glasierte Tonschale in Form eines Fisches stand, bereit, Haustür- und Autoschlüssel, Kassenzettel vom Supermarkt, Kleingeld aus der Manteltasche aufzunehmen, steht, bedeckt mit dem typischen blauen Schleier, die vermutlich nicht mehr wirklich jungfräuliche Gottesmutter mit Kleinkind, dessen baby-untypischer Blick und die zur Segnung erhobenen Hände mich eher beunruhigten. 

„Wir sind katholisch“, wispert Felix entschuldigend. 
„Macht ja nichts!“ Ich bin heute extrem großzügig. Und ich möchte alles vermeiden, was den kraftfahrenden Vater, der gerade das Wohnzimmer betritt, gegen mich aufbringen könnte. Mit ausgestrecktem Arm hält er mich in seiner Begrüßung auf Abstand, und er zeigt mir lächelnd ein Gebiss, um dass man ihn beneiden könnte. Strahlend weiß, regelmäßig, prachtvoll. Alles an ihm kündet von Stärke. Ich beobachte seine Bewegungen, die, im Gegensatz zu denen seiner Frau, geschmeidig, ja, elegant, fließen. Seine Stimme klingt in vollem, warmem Bass. Nur wenn er lacht, kiekst seine Stimme. Er wirkt, als habe er zum Frühstück statt Tee eine Tasse reinsten Testosterons geleert. 

Er lacht gern. „Ich glaube, er mag dich“, stellt Felix entspannt fest, als Papa kurz das Zimmer verlässt. „Ich hab dir doch gesagt: Wir bringen den Alten grundsätzlich Respekt entgegen!“ 
( Notiz an mich: Der Flegel! Bei nächster Gelegenheit heimzahlen! ) „Du Arsch“, stoße ich zwischen den Zähnen hervor. 

Vor zwei Tagen haben wir das hier vorbereitet. Ich habe Felix die Sache mit Abitur und Studium nahegelegt. Trotz Verwandtschaft in Accra. Und das mit der kaufmännischen Ausbildung ist nicht schlecht. Aber mit Abi, und Studium der Wirtschaftswissenschaften, Sportmanagement oder Sport und Gesundheit? Klingt besser, oder? Und ich weiß, dass jetzt jeder versuchen wird, mich mit der Rassismuskeule zu erschlagen. Aber wir sind in Deutschland, und mein Felix hat für dies Land, so wie es sich augenblicklich darstellt, eine provozierende Hautfarbe. Deswegen muss er leider beweisen, dass er besser ist, als die anderen, und darf sich nicht im Mittelfeld bewegen. Ich hasse den Gedanken, dass ein so wunderbarer junger Mensch wir er unterschätzt werden könnte. 

Dies alles sage ich seinem Vater. Nachdem ich ihn zu seinen großartigen Kindern ( auch seine kleinen Schwestern wuseln durch die Wohnung, halten sich aber mehr in der Küche auf und helfen Mama, Fufu und Chicken zu kochen. ) gratuliert habe. Ich ziehe alle Register. Ich frage ihn, ob er selbst nicht auch den Traum gehabt hätte, zumindest einen White-collar-Job zu machen. Sein Sohn könnte noch weiter kommen. Der erste in der Familie, der studiert. 

Süßkartoffeln, Bananen, Kichererbsen, Reis, Fleisch - der Tisch biegt sich. Und ständig wirft mir jemand etwas auf den Teller. Widerstand ist zwecklos. Ich wollte, dass wir anderen Menschen und Kulturen nur halb so viel Gastfreundschaft entgegenbrächten, wir diese uns. Die Mama hört uns schweigend, aber sehr konzentriert zu. Die kleinen Schwestern spielen zufrieden in einer Ecke des Zimmers und sind mir fast etwas zu brav. 

Ich erfahre viel. Zum Beispiel, dass die Verwandten, die Arbeit haben, 80-100 Euro im Monat verdienen. Renten und Versicherungen gibt es nicht. Ärzte und medizinische Versorgung müssen bar bezahlt werden. Felix' Vater hat es „geschafft“. Er lebt im reichen Europa. Alle Verwandten haben zusammengelegt, um ihm den Weg zu ermöglichen. Dafür schuldet er ihnen was. Und er und seine Frau verdienen selbst nicht viel, als LKW-Fahrer und Reinigungskraft. Da kommt das Geld, das Felix heimbringt, gerade recht. Der Junge soll eine Ausbildung machen, und so schnell wie möglich verdienen. Studieren kostet. Und dauert. 

Aber man kann - dafür bin ich der lebende Beweis - auch neben dem Studium arbeiten. Und es gibt Bafög. Und Studienstiftungen. Ich bin nicht gewillt, aufzugeben. Mein Gastgeber lächelt, aber er bleibt fest in seiner Haltung. 

Ich muss aufbrechen. 
„Lieben Sie Ihren Sohn?“, frage ich ihn.
Er schaut mich verblüfft an, und nickt.
„Sind Sie stolz auf ihn?“
Er nickt erneut.
„Sie wissen, dass er jedes Ziel erreichen könnte. Er braucht nur eins. IHRE Hilfe.“

Ich erkenne Unsicherheit in seinem Blick. Ich glaube, dass uns, Felix und mir, eins gelungen ist: Er wird noch einmal darüber nachdenken. Das ist zwar nicht so viel, wie ich erwartet hatte. Aber besser als nichts. Und ich darf wiederkommen. Und mir einen Teller Fufu abholen. Oder zwei. 

Felix bringt mich noch zur Tür. „Läuft“, behauptet er. Und „Danke.“
„Was war das vorhin mit den ‚Alten‘, und dem Respekt?“
Er grinst frech.
„Ist doch so.“
Ja. Ist so.