Liebe Freunde, liebe Leser,

laßt uns kurz über das kleine Projekt sprechen, das ich gern mit euch zusammen erarbeiten würde, einen Facebook-"Roman", dessen Entwicklung und Fortgang ihr mitbestimmt. Ich hatte vor, drei Ideen vorzugeben.

Den (Arbeits-)Titel
Die ersten drei Sätze
Ein Set an Personen

Die Figuren sollen beschrieben werden durch ihr Aussehen, durch Eigenschaften ( Ängste, Schwächen, Stärken, Eigenarten ), durch ihr Reden und Handeln, durch Motivation und Ziel ihrer Handlung, durch ihre Vergangenheit, und idealerweise auch durch eine Entwicklung im Lauf der Geschichte.

Ich fände es sehr schön, wenn ich nicht alle Charaktere ausdenken müßte. Wenn jemand eine Idee hat ( jemand, den ihr gut kennt, oder vielleicht sogar ihr selbst! )- her damit! 

Das wäre mein Ansatz. Einverstanden? Gegenvorschläge? 

Hauptsache, es macht Spaß. Ob es lustig wird, romantisch, bewegend, bierernst, traurig ... das wissen wir noch nicht. Wer weiß, wo die Reise hinführt! 


Kapitän Eddo Jonte Kruskopp

Weißhaarig, feingeäderte, rote Bäckchen, blaue Augen. Weißer Bart ( "Schifferkrause" ). Untersetzt, ca 175 cm groß, 93,3 kg schwer. Diabetiker. 72 Jahre alt, Sternzeichen Krebs. Frau vor 7 Jahren verstorben, ein Sohn, der 48 Jahre alt ist. Trägt am liebsten Buscherum und Troyer, sonst Hemd und eine blaue Strickjacke mit Lederflicken an den Ellenbogen. 

Kann wunderbar Geschichten erzählen, Seemannsgarn. Viel Humor. Denkt nicht logisch-analytisch, kann nicht schwimmen und leidet unter einer Thalassophobie, also Angst vor dem Meer.  Außerdem wird er leicht seekrank. Sein Vater war Admiral im 2. Weltkrieg und zwang seinen Sohn, in seine Fußstapfen zu treten. Eigenart: zwirbelt seinen Bart, wenn er erzählt. Und er geht nie ohne seine geliebte Prinz-Heinrich-Mütze aus. Er ist nicht der Schnellste und kann stundenlang bewegungslos dasitzen und seinen Gedanken nachhängen. 

Wünscht sich dringend eine neue Partnerin, beflirtet die anwesenden Damen. Ist vermögend, was er aber geheim hält. Er möchte seinem Sohn, der ihn für senil hält, eine Überraschung bereiten, auch wenn ihn Onnos Ungeduld mit ihm verletzt.




Elisabeth Freifrau von Hayn

Altes thüringisches Adelsgeschlecht. Sehr distanziert und vornehm. Hervorragend gekleidet, meist pastellfarbene Kostüme mit weißen Seidenblusen. Auffällig ist eine Brosche, die eine Nachbildung einer Fabergé-Brosche darstellt, Blumengesteck mit Perlen und Brillianten. 

Haare grau, der Friseur spendiert ihr gelegentlich etwas blaue Tönung. Blasse Gesichtshaut, blaue Augen, sehr faltig. Die Lippen preßt sie meist zusammen. Sie lächelt nur selten. Sternzeichen Skorpion.

Zwei Töchter, Ellinor und Viktoria, die sich bekriegen. Beide hoffen auf ein reiches Erbe beim Tod der Mutter, die 79 Jahre alt, aber sonst kerngesund und so gut wie pleite ist. Ehemann Heribert ist seit 17 Jahren tot und in der Familiengruft beigesetzt. Vegetarierin. 170 cm, 65,2 kg. 

Leider raucht sie und verwendet eine Zigarettenspitze mit einem Mundstück aus Elfenbein und einem silbernen Aufsatz, der einem feuerspeienden Drachen nachempfunden ist. Zudem ist sie, was aber niemand weiß, dem Alkohol sehr zugetan. Einmal in der Woche geht sie zum Glascontainer in der Kastanienallee, um sich der Flaschen zu entledigen. Und danach ins Casino. 

Sie ist sehr sarkastisch und verdient das Geld, das sie benötigt, mit Rommé-Spiel. Und manchmal im Casino.





Fräulein Friederike "Friedel" Kipp

Wirklich keine Schönheit. Die Haare waren offenbar mal schwarz, sind jetzt von vielen weißen Strähnen durchzogen und am Hinterkopf zu einem Knoten zusammengebunden. Die Haare sind immer leicht fettig, weil sie nur einmal in der Woche gewaschen werden. 

Im Gesicht irritierte, teilweise fleckige Haut, besonders im Bereich der Nase, die ihrerseits sehr groß und in grotesker Weise unförmig wirkt. Die Kleidung ist sehr billig, vom Discounter oder Billigmarkt, meist Rock zu Stützstrümpfen und orthopädischen Schuhen, und Pullover. Schuhe besitzt sie nur zwei Paar: in einem hellen Creme-Ton, und in dunkelbraun.

Fräulein Kipp besteht auf der Anrede "Fräulein". Früher hörte sie auf "Schwester Friedel", da sie Krankenschwester auf der chirurgischen Männerstation war. Sie ist 61 und wurde wegen eines Rückenleidens vor einem Jahr in Frührente geschickt. Unverheiratet, keine Kinder. 173 cm, 87 kg. Sie trägt eine dunkle, eher häßliche Hornbrille, die ihre braunen Augen vergrößert, da sie weitsichtig ist - rechts +10,5, links +10,0 Dioptrien.

Sie ist sehr temperamentvoll und hat sich den Tonfall der Krankenschwester nicht abgewöhnt. Sie kann sehr laut werden ( Sternzeichen Widder ), meint es aber nicht böse. Sie ist sehr praktisch und von den meisten Situationen, die andere als ekelhaft oder erschreckend empfänden, unbeeindruckt. Sie liebt Marzipan und ernährt sich praktisch von Mon Chéri - ein Wunder, daß sie nicht dicker ist.

Ihr Traum ist eine Weltreise - und, wenn es dazu nicht reicht, wenigstens eine Kreuzfahrt. 




Frau Dr. med. Heide In den Birken

Hausärztin, 40 Jahre alt. Sehr schick, geschmackvoll gekleidet. Sogar ihre weißen Kittel sind extra für sie angefertigt. Ihre dunkelbraunen Haare hat sie zu einem Bob schneiden lassen, ihr Make-up ist dezent und unaufdringlich, morgens benötigt sie nicht länger als 10 Minuten dafür. Sie wirkt kühl, gefaßt, perfekt und so, als sei sie jeder nur denkbaren Situation gewachsen. 

Sie hat etwas, daß sehr vertrauenerweckend, zuverlässig und anziehend wirkt - aber leider ist sie auch sehr arrogant und herablassend. Ihr Lebensgefährte, kein Mediziner, kein Akademiker, hat sich trotz der Zwillinge von ihr getrennt, die Kinder wollten mit ihren 12 Jahren beim Vater bleiben. Zur Trennung kam es durch die Einladung zu einer Feier, bei der Daniel zufällig hörte, daß der Gastgeber ihn und Heide nicht hatte einladen wollen, weil die Gäste nur aus Hochschulabsolventen bestanden, und "da paßte er nicht dazu."

179 cm, 64 kg ( genauer weiß sie es nicht, aber sie ißt so diszipliniert, daß sie unmöglich zunehmen kann ). Sie ändert gern die Augenfarbe mit getönten Kontaktlinsen. 

Sie ist eine hervorragende Ärztin, aber auch sehr von sich überzeugt. Nach Dienstschluß trifft man sie in Swingerclubs, hierfür hat sie sich extra einen Domina-Dress aus schwarzem Lackleder anfertigen lassen. 

Sternzeichen Jungfrau. Traum: Sex in der Praxis. Mit einer bestimmten Patientin ... hoppla !?



Schwester Beate Thormählen

53 Jahre alt, verheiratet mit Jasper Thormählen, 181 cm, 78,3 kg. Meist schlecht gelaunte, nicht unattraktive Krankenschwester, sogar Stationsschwester auf der Pflegestation des städtischen Seniorenheims. Leidet unter heftigen Migräneanfällen, die sie mit reichlich Schmerzmitteln bekämpft. 

Sie trägt die straßenköterblonden Haare als praktische Kurzhaarfrisur, früher hatte sie sie lang, aber das Fönen dauerte ihr zu lange. Sie verachtet Make-up und modische Accessoires und ist ständig auf Diät, was eigentlich gar nicht nötig wäre. In der Sonne wird sie schnell braun, sogar von der Nachttischlampe, wie sie gern selbst scherzhaft sagt. Sie liebt die Farbe grau, was sich leider in ihrer Privatkleidung widerspiegelt - meist lange Hosen, flache Schuhe, Bluse und Strickjacke. Sie sammelt Puppen, mit denen sie redet, als wären es ihre Kinder.

Raucherin, schwärmt für Fernsehserien. Sie würde gern mal in einer mitspielen, zum Beispiel in ihrer Lieblingsserie "Lindenstraße". Sie ist unzufrieden mit sich und ihrem Leben, kinderlos, verbittert. Mit Jasper, der Klempner ist, läuft seit Jahren gar nichts mehr. Den Krankenpflegeschülern und Schülerinnen sowie Praktikanten auf Station macht sie das Leben zur Hölle. Sie kann hervorragend kochen und backen und träumt davon, ein kleines Restaurant zu betreiben, oder eine Kneipe. 

Sie ist heimlich verliebt. Und wenn der Mann ihr auch nur das geringste Zeichen gäbe ... morgen verließe sie Jasper und zöge zu ihm. Aber leider ...




Spiridon Stankovic

18, Schüler, Sohn serbisch-stämmiger Eltern. Ein guter Schüler, das Abitur in einem Jahr wird er spielend schaffen. Er sieht gut aus, mit seinen schwarzen Haaren ( modischer Undercut ), seinem freundlichen Lächeln, das perfekte Zähne zeigt, und seinen dunklen Augen. und er hat etwas, was die Mädchen in seiner Klasse mit dem Wort 'niedlich' beschreiben und diese dahinschmelzen läßt. 

Er ist mit einem Herzfehler, einem Loch in der Herzscheidewand, auf die Welt gekommen, dies wurde operiert, und jetzt ist alles in Ordnung. Trotzdem macht seine Mutter Gordana sich beständig Sorgen um ihn. Er hat ein großes Talent für Sprachen. Naturwissenschaften und Mathematik sind so gar nicht sein Ding. 

Sein Vater Zvonko arbeitet als Kfz-Mechatroniker in einer freien Werkstatt und hat mit seinem Meister schon über eine Lehrstelle für seinen Sohn gesprochen. Spiridon möchte jedoch lieber studieren. Intelligent genug ist er ja. Zvonko ist stolz auf seinen Sohn, was er ihm leider viel zu wenig sagt. Im Gegenteil, er gibt ihm das Gefühl, seinen Ansprüchen nicht zu genügen, damit der Junge sich noch mehr Mühe gibt. Aber Spiridon ist enttäuscht darüber.

Kein Wunder, daß er kifft und ziemlich viel Alkohol trinkt. Neulich hat ein 'Freund' ihm in der Disco statt Ecstasy Crystal Meth angeboten, so zur Probe.... 

Sein Traum ist ein Hund. Seine Eltern trauen ihm aber leider nicht zu, daß er für diesen die Verantwortung übernehmen kann. Und er möchte Politiker werden. Oder wenigstens Anwalt. Oder beides.




Pfarrer Korbinian Heydenreich

Korbinian stammt aus einer kleinen Gemeinde, sein Vater ist Bürgermeister, seine Mutter Grundschullehrerin. Als er - mit 13 - merkte, daß er sich mehr zu Männern als Mädchen hingezogen fühlte, bekommt er schreckliche Angst, seinen sehr konservativen Eltern diese Wahrheit zu verkünden. 

Es erscheint ihm als gute Idee, den Zölibat, die Ehelosigkeit von Priestern, auszunutzen und Pfarrer zu werden, so kann er sich und seinen Eltern sein coming out ersparen. 

Als er die Priesterweihe empfängt, schenkt seine Mutter ihm ein Brustkreuz, das er fast immer trägt, und mit dem er herumspielt, wenn er verlegen ist.

Inzwischen ist er 45, bei seiner Gemeinde sehr beliebt, und lebt im Pfarrhaus mit einer Haushälterin, Frau Stanglmair, zusammen. Frau Stanglmair ist verschwiegen. Sie hat noch nie auch nur ein einziges Wort darüber verloren, daß noch eine dritte Person im Pfarrhaus wohnt. Ein Lukas Wild. Ein hübscher Kerl, 33 Jahre alt. Und offenbar sehr vertraut mit dem Herrn Pfarrer. 

Korbinian Heydenreich ist ebenfalls sehr attraktiv, geht zweimal in der Woche ins Fitnessstudio ( dort haben Lukas und er sich auch kennengelernt ). Kurze, blonde Haare, kornblumenblaue Augen, markantes, männliches Gesicht. Wenn er lacht, bekommt er in der linken Wange ein Grübchen. Er ist mit seinen 187 cm eine beeindruckende Erscheinung. Auf der Waage war er noch nie, deswegen kennen wir sein Gewicht nicht. Ach ja: seine Rechte Brustwarze ist gepierct. 


Er ist ein Showtalent, hat eine schöne Singstimme, und beherrscht die Gitarre. Viel lieber wäre er Sänger oder Schauspieler geworden. Schade eigentlich. Aber ist er nicht eigentlich Schauspieler - streng genommen? 



Tristan Richter

Der Werbegrafiker Tristan ist 48 Jahre alt, 178 cm groß und exakt 75 kg schwer. Seine Haare sind, wie seine Eltern immer gesagt haben, fuchsrot, er allerdings hört kastanienbraun lieber.

Ein zerbrechlicher Mensch, der Jüngere von zwei Geschwistern. Die Kindheit verläuft harmonisch, aber ab der Pubertät beginnt er, im Schatten des großen Bruders zu stehen. Mit 13 erleidet er einen Schlaganfall, was den Verlauf seines Lebens erheblich ändert. Aus dem heiteren Jungen wird neben einer körperlichen Behinderung ein scheuer, in sich gekehrter Mann, der trotz hervorragender Leistungen und einem liebenswerten, sympathischen Wesen ständig von Selbstzweifeln geplagt wird. Dem Vater ist seine Behinderung zuwider, für die Mutter ist sie Grund zur Überfürsorglichkeit. 

Er arbeitet fleißig und erfolgreich für eine renommierte Werbeagentur. Er hat eine Tochter, die ihn demnächst zum Großvater machen wird. Er ist ein liebevoller, allerdings auch strenger Vater und versucht, die Fehler aus seiner eigenen Erziehung zu vermeiden. Seine Frau hat sich nach einem Selbstmordversuch, den er mit 26 unternimmt, von ihm getrennt. Die Tochter wird vom Gericht der Mutter zugesprochen, der Kontakt zu ihr und auch zu seiner ehemaligen Gattin hat sich in letzter Zeit positiv entwickelt. Aus diesem Zusammenbruch geht er stärker hervor, aller vorher war. 

Beim Gehen ist er auf einen Stock angewiesen, dieser hat einen sehr aparten silbernen Knauf mit prächtiger Schmiedearbeit. Er legt diesen Stock nur ungern aus der Hand. 

Er hat nur die Sehnsucht, wahrgenommen zu werden. Materielles bedeutet ihm nichts. 



Florentin Forchheimer

49, Schauspieler. 185 cm, 80,5 kg. Haare braun, gepflegte Erscheinung, höfliche Umgangsformen. 

Er stammt aus ärmlichen Verhältnissen, ist in einer Vorstadt in einer Hochhaussiedlung aufgewachsen. Der Vater hatte genug damit zu tun, durch harte Arbeit deny Lebensstandard zu halten, die Mutter war sehr ehrgeizig, ihr Sohn solle es besser haben. 

Der Junge findet sein Leben lang keinen Zugang zu seinem wahren Selbst. Er orientiert sich allein an dem, was sich im Äußeren abspielt, und an der rationalen Stimme seines Verstandes. Impulse, die aus dem Herzen kommen, werden ignoriert und unterdrückt. Er schafft sich ein eigenes Idealbild, oder besser gesagt: ein Traumbild von sich und der Welt, um auf diese Weise Unabhängigkeit von der Bewertung anderer zu erlangen und den Schmerz durch psychische Verletzungen zu umgehen. Die Idealisierung der eigenen Person und der eigenen Fähigkeiten führt dazu, daß Florentin nicht mehr erkennt und spürt, wer er eigentlich ist. 

Aufgrund mangelnden Selbstwertgefühls und eine starke Empfindlichkeit gegenüber Kritik hat er oft darüber nachgedacht, seinem Leben ein Ende zu setzen. 

Seine auffällige Selbstbewunderung und übersteigerte Eitelkeit, verbunden mit übertriebenem Selbstbewusstsein nach außen hin, machen ihn unerträglich im Umgang. Menschen ziehen sich zurück von dem "Mann mit der Fliege' - seinem bevorzugten Kleidungsstück. Letzteres dient ihm dazu, sein geringes Selbstwertgefühl zu kompensieren. Darüber hinaus kann er sich schlecht in andere Menschen einfühlen und erträgt es nicht, wenn in seiner Umgebung andere sich gut verstehen. In Beziehungen bleibt er oberflächlich, seinen Charme setzt er nur ein, um aus anderen Menschen Nutzen zu ziehen.

Er gehört zum  Ensemble einer mittelgroßen Bühne; sein Traum ist eine Karriere beim Film. 


Demeter Frei


Sternzeichen Waage, 54 Jahre alt, allerdings gut und gern 10 oder 15 Jahre jünger wirkend, als ihr biografisches Alter vermuten läßt. Auch die Frage nach Größe und Gewicht läßt sich schwer beantworten. Sie strahlt eine ungeheure Sinnlichkeit aus, was sie tut, tut sie mit Leidenschaft. Sie ist eine starke Frau, ein Vollweib. Ihr Lächeln ist wissend, ihr Blick voller Erkenntnis. 

Ihr Auftritt ist immer extravagant, sie liebt das große Entrée, ihre Kleidung ist weich, fließend, in hoffnungsvollem grün oder optimistischen orange, sie liebt Seidenschals. Ihre Haare sind meist kupferrot ... also, heute sind sie es, und wer weiß schon, was morgen ist ...! 

Sie fühlt sich überall auf der Welt zu Hause. Ihre Eltern, beide Lehrer, haben ihr humanistische Werte vermittelt, Liebe, aber auch schonungslose Offenheit und Direktheit, die ihr schon oft als Frechheit ausgelegt wurde. Sie hat jeden Kontinent bereist, und das ist ein Wunder, weil ihre ausgeprägte Flugangst dem im Wege steht. 

Demeters kleine Schwester, Hestia, stirbt im Alter von 14 an einer Leukämie-Erkrankung. Dieses Ereignis ist nur schwer zu verkraften, weil die Eltern in ihrem eigenen Schmerz befangen sind und nicht als Haltgeber zur Verfügung stehen. In ihrem Schmerz ist sie auf sich selbst gestellt. Eine Zeit lang gibt sie sich Schuld an Hestias Tod. Sie hat eine Kette von ihr, mit einem kleinen, silbernen Anhänger, die sie wie einen Schatz hütet und niemals ablegt. 

Aber auch eine Globetrotterin sehnt sich irgendwann nach Geborgenheit ...


( Auf Wunsch einer lieben Freundin habe ich die Demeter noch nachträglich hinzugefügt. Demeter ... komischer Name, nicht? Die griechische Göttin der Fruchtbarkeit, des Getreides. Sie ist die Mutter, die Weise der Erde und des Meeres. )


Das weiße Haus an der Chaussee


"Herein!"

Mein Gott, warum kam dieser Mensch denn nicht endlich herein! War er denn taub? Oder hatte jemand irrtümlich an ihre Tür geklopft? Hatte er die ersten beiden Aufforderungen, ihr Zimmer zu betreten, nicht gehört? 

"So kommen sie schon herein, oder verschwinden sie!"

Diesmal hatte sie deutlich gereizter gesprochen.
Die Tür öffnete sich vorsichtig einen Spaltbreit. 

"Wie oft soll ich es denn noch sagen? Ich sehe gern mehr als die Nasenspitze eines Menschen. Nun los. Kommen sie herein. Ich schlage sie nicht. Falls nötig, beiße ich lieber!"

Ein junger Mann betrat zögernd das Zimmer. Jemand, den man aufgrund seines guten Aussehens unmittelbar sympathisch findet. Bevor man zögernd innehält. Mißtrauisch zweifelnd. Kann denn ein so junger Mensch sympathisch sein? Jemand, der sich in seinem Leben noch nie um mehr Sorgen gemacht hat, als über das Kinoprogramm, oder die Geschmacksrichtung seiner Eiscreme? 

"Ich bin Spiridon", sagte Spiridon. 
"Ich mach hier ... ich mach hier mein Praktikum."
"Aha."
"Sie sind Freifrau von Hayn?"
"Ich habe keine Ahnung. Steht das auf dem Schild an der Tür?"
"Ja!"
"Dann wird es wohl so sein."

Elisabeth von Hayn betrachtete ihr Gegenüber grimmig. Der Junge schaute verwirrt aus. Unsicher lächelte er die grauhaarige Dame an. 

"Wie wird man eigentlich Freifrau?"

Gegen ihren Willen verzog sich ihr Mund zu einem Schmunzeln. 

"Das ist gar nicht so schwer. Man muß nur einen Freiherren oder Baron heiraten. Erledigt." 
"Soll ich Frau Freifrau zu ihnen sagen?"

Der Junge hatte Charme, ohne Zweifel. Er zeigte sich beeindruckt. Auf eine angenehme, zurückhaltende Weise. Auf dem rechten Ärmel seiner dunkelblauen Jacke prangte eine Applikation mit einer amerikanischen Flagge, Jeans und Turnschuhe komplettierten das Bild. Seine schwarzen Haare waren frisch geschnitten, hinten und an den Seiten extrem kurz, wie die jungen Leute das heute trugen.

"Frau von Hayn reicht aus."

"Euer Hochwohlgeboren, darf ich sie zu Tisch geleiten? Oh, sie haben Besuch, meine Liebe!"

Ein netter älterer Herr hatte seinen bärtigen Kopf durch die noch immer geöffnete Tür gesteckt.

"Dieser reizenden Aufforderung kann ich nicht widerstehen, Herr Kapitän!" 

Frau von Hayn erhob sich und betrachtete ihre gepflegte Erscheinung im Spiegel. Sie richtete ihre Brosche.

"War noch was?"

Der Angesprochene schüttelte eingeschüchtert den Kopf. 

"Sind sie der neue Praktikant?"
"Spiridon, Herr Kapitän. Ich wäre auch noch zu ihnen ... "
"Schon gut, mein Junge. Das verschieben wir jetzt. Sie sehen, ich bin beschäftigt! Schöne Frauen darf man nie warten lassen!"



So Haare wie die hätte ich gern, dachte Schwester Beate. Nur Waschen, einmal mit den Fingern durch, Kopf schütteln, und fertig. Wenn sie ihre Haare kürzer tragen, wirken sie voller, hatte dieser neue Figaro in der Stadt zu ihr gesagt. Und: Sie haben eben feines Haar. 

Feines Haar! Das sagten die Friseure immer, wenn sie den Umstand, daß sich auf dem Kopf der Klientin nur dünne, kraftlose Fusseln befanden, höflich zu umschreiben suchten. 

Ob es ein Volumen-Shampoo sein dürfte, zum Waschen, hatte er frech grinsend gefragt. Beschämt hatte sie genickt ...

"Guten Morgen, Schwester Beate! Na, wie geht es denn Frau Weber und Herrn Rodewaldt?"

Frau Dr. In den Birken verkörperte den Begriff 'Perfektion'. Sie hatte sich selbst mehrfach kritisch geprüft und war außerstande, einen Fehler an sich zu entdecken. Ihr Äußeres war bestechend, ihr Geschmack unfehlbar. 

Sie war gut in ihrem Job. Verdammt gut, sogar. Viele Freunde hatte sie nicht. Eher Bewunderer und Schmeichler. Da gab sie sich keinen Illusionen hin. Aber an der Spitze war man eben einsam, nicht wahr. 

Schwester Beate zog die Patientenkurven aus der fahrbaren Hängeregistratur. 

"Das Fieber von Frau Weber ist gesunken, und sie hat das Abendessen bei sich behalten. Herrn Rodewaldt schicken wir nachher zum Herzecho. Soll ich sie anrufen, Frau Doktor, wenn der Befund da ist?"

"Gott zum Gruße, meine Damen!"

Heide In den Birken und Beate Thormählen schraken zusammen. Sie hatten nicht bemerkt, daß ein schwarz gekleideter, attraktiver junge Mann das Dienstzimmer betreten hatte. 

"Herr Pfarrer Heydenreich! Also wirklich! Sich derart anzuschleichen! Gehört sich denn sowas? Ich bin nur einen Schritt vom Infarkt entfernt!"

Korbinian Heydenreich fuhr sich verlegen mit der rechten Hand durch die blonden Haare und strahlte die beiden Frauen an. 

"Ich bitte um Vergebung, Schwester Beate! Es kommt nicht wieder vor! Gottlob haben wir so eine fähige Ärztin in unserer Mitte, nicht wahr? So, ich gebe mich dann mal meinen Pflichten hin! Herr Alexander erwartet seine Krankensalbung!"

"Brauchen sie Hilfe, Hochwürden?"
"Vergelt's Gott, Schwester Beate. Alles Routine!"

Er belohnte Krankenschwester und Ärztin mit seinem jungenhaften Lächeln und machte sich auf den Weg. 

Versonnen sahen die beiden ihm nach. 
Die Frau Doktor räusperte sich.

"Haben sie das Grübchen gesehen? Und diese blauen Augen? Wie kann ein so schöner Mann bloß Priester werden? Reine Verschwendung! Sollte verboten werden!"

Bevor Frau Dr. In den Birken das Dienstzimmer verließ, kontrollierte sie ihre Erscheinung im Spiegel. Perfekt. Wie immer. Sie schüttelte noch einmal den Kopf in der Absicht, ihre Frisur aufzufrischen. 

Neidvoll beobachtete Schwester Beate, wie jedes einzelne ihrer braunen Haare an den ihm vorbestimmten Ort zurückzufallen schien ... 
Wo hatte sie bloß ihre Kopfschmerztabletten? 


Kapitän Eddo Kruskopp hatte Frau von Hayn galant den linken Arm zum Einhaken gereicht. Sie schritten, derart verbunden, zum Restaurant des Hauses. 

"Windstärke 8, meine Dame, Windstärke 8! Golf von Biskaya!"
"Contenance, Herr Kapitän, Contenance! Sie haben seinerzeit ihr Schiff in den sicheren Hafen von Bilbao gesteuert. Vielleicht bugsieren sie mich alte Fregatte jetzt zu einem Tisch mit Aussicht?"

Kapitän Kruskopp salutierte.
"Ihr Wunsch ist mir Befehl, Madame! - Was halten sie von diesem Fensterplatz?"

Er rückte seiner Begleiterin den Stuhl zurecht, bevor er selbst Platz nahm.



"Kartoffelsuppe! Toll!"

Ein Experte hätte sofort bemerkt, daß dieser Satz mit Atemstütze gesprochen wurde. Die Stimme klang wunderbar, ein warmer, voller Bariton. 
Der Herr war elegant gekleidet. Zu seinem Sakko trug er eine große, rote, weißgepunktete Fliege. 

Kapitän Kruskopp und Frau von Hayn betrachteten ihn mit Argwohn. 
"Er guckt die Suppe an wie Hamlet den Schädel von Yorick", stellte die Dame fest. 

"Zittre nicht, ich freß dich doch!", ertönte es von oberhalb der Fliege.
Wieder Bariton, wieder Atemstütze. 

"Der Mann ist ja außer Rand und Band, meine Liebe!"
Der Seemann schüttelte den Kopf. 
"Hätte ich hier was zu sagen, ließe ich ihn Kielholen. Eine schöne, altmodische Behandlung für histrionische Persönlichkeitsstörungen!"
"Ich habe leider meine Encyclopaedia Britannica nicht bei mir, Herr Kapitän. Könnten Sie mir das freundlicherweise übersetzen?"
"Vergeben Sie mir. Eine Bezeichnung für theatralische Eitelkeit."

Das Paar beobachtete, wie der Herr mit der Fliege der Löffel in die Suppe tauchte und begann, sie zu verzehren. Offenbar mit Genuß. 

Zwei Personen betraten das Restaurant: Pfarrer Korbinian Heydenreich, und eine nicht wirklich gut aussehende Dame mit großem Haarknoten. Sie war sehr kostengünstig gekleidet. Ihr Gesicht verbarg sich hinter einer überdimensionierten Hornbrille, die ihre Augen grotesk vergrößerte. 

"Da hinten ist ein schöner Tisch frei, Schwester Friedel! Darf ich vorausgehen?" 
"Ach ja, Hochwürden! Der schöne Ausblick! Gottes Schöpfung, wie wunderbar!"

Schwester Friedel Kipp folgte dem Hirten auf dem Fuße, bis dieser plötzlich wie angewurzelt stehen blieb. 

"Nein! Also das gibts doch nicht! Florian? Florian Forchheimer? In dieser Umgebung?"

Der Angesprochene genoß die Unterbrechung. Er erhob sich mit einer affektierten Geste. 
"Wie nett! Man erkennt mich! Also habe ich wenigstens einen Fan!" 
"Aber lieber Herr Forchheimer, ich habe sie so oft gesehen, Marquis von Posa, Franz Moor, Atalus in 'Weh dem, der lügt', zuletzt Henry St.John in 'Das Glas Wasser'!"
"Zu viel der Ehre, Herr ... "
"Heydenreich! Pfarrer Korbinian Heydenreich!"
"Zu viel der Ehre, Herr Pfarrer! Ich setze nur meine gottgegebenen Gaben mit  meinen schwachen Kräften ein, so gut ich kann!"
"Schwache Kräfte? Ha! Habe nun, ach! Philosophie, Juristerei und Medizin, und leider auch Theologie durchaus studiert, mit heißem Bemühn. Da steh ich nun, ich armer Tor! Und bin so klug als wie zuvor!"
"Hochwürden! An ihnen ist ja ein Schauspieler verloren gegangen! Da erwächst mir ja Konkurrenz von ungeahnter Seite!"
"Nicht doch, Herr Forchheimer, nicht doch! Ich stehe ja im Dienst der Mutter Kirche. Auch wenn ich zugeben muß, daß ich den 'Kleinen Hey' ..."
"Hahaha! 'Barbara saß nah am Abhang', wie?"

Der Mime lachte affektiert. 

"Aber Sie haben mir noch nicht erzählt, was sie hierher geführt hat?"
"Nun, ich bin das Kulturprogramm für diesen Monat. Ein Zyklus von Lesungen, heiter, besinnlich, romantisch. Ein kleines Engagement, aber man muß froh sein. Das ist die Miete für den Monat. Die Zeiten sind hart!"

Plötzlich geriet die pensionierte Krankenschwester in sein Radar. 
"Wie uncharmant von mir, ihre reizende Begleitung zu übersehen! Vergeben sie mir bitte, Gnädige Frau!"

Pfarrer Heydenreich legte seinen Arm um seine Begleiterin. 
"Das ist meine Schuld! Ich muß Abbitte leisten! Das ist Frau Friederike Kipp, Bewohnerin des Hauses. Ehemalige Krankenschwester!"

Schwester Friedel nickte. 

"Kein Problem, Herr Forchheimer. Wir sehen uns ja bald wieder! Ich bin schon angemeldet, für alle Abende!"
"Ich werde dafür sorgen, daß sie in der ersten Reihe sitzen, Frau Kipp. Darf ich ihnen eine Autogrammkarte ... ? Was soll ich schreiben? Für Schwester Friederike?" 
"Schreiben sie 'Für Schwester Friedel'. Ist auch kürzer!" 

Das Paar am übernächsten Tisch erhob sich. Der Kapitän und die Dame des Hochadels hatten die Szene indigniert betrachtet. Frau von Hayn bewahrte Haltung.
"Normalerweise würde ich den Kopf schütteln. Aber in meinem Alter würde man mir sofort Tabletten für die Parkinsonsche Erkrankung verordnen!"

Kapitän Kruskopp lachte. 

"Die Kartoffelsuppe dürfte inzwischen eiskalt sein. Geschieht ihm recht, wenn sie mich fragen!"



"Faîtes vos jeux, Mesdames et Messieurs!"

Der Croupier wartete einen Moment geduldig, bis die gut gekleideten Casinobesucher die farbigen Jetons auf dem grünen Filz des Spieltisches platziert hatten. Dann griff er in das Drehkreuz des Kessels, versetzte diesen in Schwung und ließ die Kugel mit einer geschickten Handbewegung gegenläufig hineingleiten. 

"Nach diesem Spiel wechselt die Hand!"

Eine reizende, ältere Dame, frisch vom Friseur mit einem dezenten Blauton in den Haaren, näherte sich dem Tisch. Professionell betrachtete sie die Permanenzen. 

"Guten Abend, Madame von Hayn! Bitte nehmen sie doch Platz!"
Einer der Croupiers erhob sich zu Ehren der offenbar wohlbekannten Frau im pastellfarbenen Kostüm. Ein Stuhl wurde gerückt, Madame nahm Platz. 

"Zerospiel mit der 19, 36 zwei Nachbarn, und Quarrée 25/29!"

"Rien ne va plus!"

Gespannt betrachteten die Damen und Herren den Lauf der elfenbeinfarbenen Kugel, die mit einigem Geklapper auf die Zahl 13 fiel. 

"13, noir, impair, manque!"

Frau von Hayn strahlte. Der Croupier schob mit seinem Rechen, mit dem er zuvor die verlorenen Einsätze vom Tisch gemäht hatte, einen kleinen Stapel der bunten Plastiktaler in ihre Richtung. 
"700, Madame!"
"Zwei Stück für die Angestellten!"
"Merci, Madame!"


Der Angestellte bediente sich an dem Plastikgeld und warf die beiden Stücke in den kleinen Metallschlitz vor ihm. 

"Haben sie einen Wunsch, Madame?"
"Bitte noch einmal das Zerospiel mit der 19!"

Der Croupier nahm noch 5 Jetons vom Stapel und schob den Rest nunmehr vollends zur Spielerin hinüber.

Erneut wurde der Kessel, diesmal von dem gegenüber sitzenden Herrn, in Bewegung gesetzt.

"32, rouge, pair, passe!"

"So, Madame, Cheval 32/35 für sie ... 340!"
"Ein Stück für die Angestellten!"
"Merci, Madame!"

Madame hatte viel Glück. Endlich einmal wieder. Als sie aufbrach, befanden sich ungefähr 2700 Euro in ihrer Handtasche, in der sie zuvor 500 Euro als Spielkapital verwahrt hatte.

Vor dem Casino setzte sie sich auf eine Bank, entnahm ihrem Etui eine Zigarette, fügte sie in die Zigarettenspitze und genoß den Anblick des Qualmwölkchens, das sie um sich herum verbreitete.

Erstaunlich, dachte sie, welche Dinge mir Freude bereiten. Dabei sind beides schlechte Angewohnheiten. Das Rauchen, sowie das Spielen. Aber hier gibt man mir das Gefühl, jemand zu sein. Im weißen Haus bin ich doch mehr oder weniger nur Insassin. 

Ja, das weiße Haus! Die Bewohner nannten es scherzhaft "Glassarg". Es war ein Altersheim ... nein, das sagte man ja heute nicht mehr. Arbeiter wurden ja auch nicht entlassen, sondern "freigesetzt". Und Probleme gab es auch keine mehr, nur "Herausforderungen". Nein. Es handelte sich um eine Seniorenwohnanlage. Eine feudale Seniorenwohnanlage, mit Unterhaltungs- und Bildungsangeboten, Reisen, einem sehr guten Restaurant und einem Café. Man durfte das eigene Mobiliar mitbringen. Und bekam jede Hilfe, wenn man sie denn benötigte. 

Es gab Gästeappartements, wenn Angehörige sich entschlossen, die Eltern, Großeltern, Onkel und Tanten zu besuchen. Und ein Teil des Hauses war als Wohnheim für die Mitarbeiter reserviert.

Nein, sie hatte Glück gehabt, im weißen Haus ein Appartement zu bekommen. Sie hatte sich bald nach Heriberts Tod auf die Warteliste setzen lassen, und nach fünf Jahren war es dann so weit.

Ihre Nachbarn waren zu ertragen, der Kapitän, die pensionierte Schwester.  Und dann der scheue, nette junge Mann, der am Stock ging. Man konnte sich nicht beklagen. 

Es wurde langsam kühl.

Sie würde den Taxifahrer bitten, an einem Supermarkt kurz zu halten. Sie benötigte dringend noch eine Flasche Cognac. 




Eigentlich war Tristan Richter viel zu jung, um in das weiße Haus einzuziehen. Allerdings war die Wohnung, in der er bis zu seiner Scheidung wohnte, nicht behindertengerecht, und da er für den Träger der Wohnanlage viel gearbeitet hatte - Zeitungsanzeigen, Prospekte, Programmhefte für kulturelle Veranstaltungen - war man übereingekommen, ihn dort einziehen zu lassen. 

Er war bescheiden bis zur Anspruchslosigkeit, freundlich, ruhig. Mit seiner Behinderung hatte er sich arrangiert, er haderte nicht mehr mit seinem Schicksal. Es war ohnehin ein Wunder, daß er wieder zeichnen konnte, auch wenn der Computer ihm eine Menge abnahm. Aber die Feinarbeit leistete er von Hand. 

Er wollte sich noch Gummibärchen im Supermarkt kaufen. Außerdem sollte er sein Marcumar aus der Apotheke abholen. Er zog eine Jacke an, kämmte sich seine roten Haare. Zum Friseur mußte er auch demnächst. Er lächelte über seine Sommersprossen. Die hatte er schon als Kind gehabt.

War das da vorn nicht seine Nachbarin?

"Guten Abend, Frau von Hayn!" 
"Haben sie mich erschreckt! Guten Abend, Herr Richter! Oh, Gummibärchen! Das ist harter Stoff!"

Er amüsierte sich. 
"Nervennahrung, Frau von Hayn. Ich kann am besten nachts arbeiten, und da rutscht mein Bluzuckerspiegel immer ins Bodenlose! - Oh, einen edlen Tropfen haben sie da!"
"Leider nicht für mich! Ein Geschenk!"

Die hochwohlgeborene Dame errötete. 

"Gehen wir ein Stück des Weges gemeinsam?"
"Ich muß leider noch zur Apotheke. Ein andermal gern!"

Sie verabschiedeten sich.

Frau von Hayn begab sich mit dem Fahrstuhl in die 2. Etage. Der Flur war dunkel, deswegen fiel der Lichtkegel, der von ihrer Zimmertür ausging, sofort auf. Hatte sie vergessen, ihre Tür zuzusperren? Das war ihr ja noch nie passiert! 

Vorsichtig drückte sie mit dem Zeigefinger gegen das Holz, das geräuschlos zur Seite schwenkte.

"Kann ich ihnen bei ihrer Suche behilflich sein?"

Noch während sie den Satz sprach, war ein Laut des Erschreckens zu hören. 
Fast verlor der Eindringling das Gleichgewicht. Spiridon hatte auf den Knien vor dem geöffneten Kleiderschrank balanciert und offenbar die Taschen durchsucht. 

"Ich habe vor Monaten meinen silbernen Süßstoffspender verlegt. Haben sie den gefunden, Herr Praktikant?"

Spiridon Stankovic schüttelte stumm den Kopf. Seine Wangen brannten. 

"Rufen sie jetzt die Polizei?"
"Ich weiß nicht. Sollte ich?"

Der Junge bewegte sich nicht. 
"Nun schauen sie mich nicht an wie ein hypnotisiertes Kaninchen! Suchen sie lieber weiter nach dem Süßstoffspender!" 
Spiridon sah sie ungläubig an. 
"Nun los schon! Ich hänge sehr an ihm! Es ist ein Geschenk meiner Töchter. Das erste, für das ich kein Verlängerungskabel benötige. Er ist so groß wie eine Streichholzschachtel." 

Der Junge grub sich systematisch durch die Taschen und Möbel. 

"Verzeihen sie meine Neugier, aber: Was haben sie denn sonst so gefunden? Irgendwas von Wert?"

Er schüttelte den Kopf. 

"Ich war ja noch gar nicht so lange da!"

Es klang fast wie ein Vorwurf.

"Entschuldigen sie bitte. Wenn ich nächstens sehe, daß jemand sich Zutritt zu  meiner Kemenate verschafft hat, gehe ich ins Café!"
"Ich habs! Hier, unter der Kommode lag es!"

"Es muß mir aus der Tasche gefallen sein", sinnierte Frau von Hayn. 
"Hier! Es ist sogar noch Süßstoff drin!"

"Kann ich dann gehen?"

Frau von Hayn zog die Augenbrauen hoch. 
"Unter keinen Umständen. Außerdem heißt das, darf ich dann gehen. Aber das nur am Rande. Bitte setzen sie sich."

Spiridon tat, wie ihm geheißen.

"So, und nun erzählen sie der liebenswerten Freifrau, was mit ihnen los ist. Weswegen wollten sie mich bestehlen?"

Es sprudelte förmlich aus ihm heraus. Er wäre kein Praktikant, das war gelogen. Er müßte Sozialstunden abarbeiten. Verurteilt wegen Diebstahl und Drogenbesitz. Wiederholt. Und er hätte Schulden bei seinem Dealer, und der hätte ihm gedroht. 

"Ich stech dich ab, hat er gesagt!"
"Warum nehmen sie das Zeug überhaupt?"
"Machen doch alle!"
Ich nicht, hatte sie gerade sagen wollen ... das Wort blieb ihr im Hals stecken. Die Spielbank, die Zigaretten, der Alkohol ... war sie besser als dieser junge Mensch?

"Wieviel?"
"Wieviel was?"
"Wieviel schulden sie ihrem - Dealer?"
"280 Euro."

Frau von Hayn ergriff ihre Handtasche und zog ein paar Geldscheine heraus.
"Sie gehen dorthin, und zahlen ihre Schulden. Trauen sie sich zu, auf das Gift zu verzichten, oder brauchen sie eine Therapie?"

"Ich versuche es ... aber ... "
"Kein aber. Haben sie eigentlich nie darüber nachgedacht, für das Geld, das sie ausgeben, zu arbeiten?"
"Mit dem polizeilichen Führungszeugnis? Wer nimmt mich denn?"
"Das ist wahr. Gut. Sie werden für mich arbeiten. Bis der letzte Cent bezahlt ist. Und der gesetzliche Mindestlohn gilt bei mir nicht, lassen sie sich das gesagt sein!"




"Endlich kommst du nach Hause! Das Essen halte ich seit einer Stunde warm! Wo bist du bloß solange gewesen?"
"Schatz, sei nicht böse! Ich war ... Sag mal, rieche ich da etwa ... ist das?"
"Genau. Meine Pfifferlingsrahmsauce. Mit Cognac. Dazu ein Steak. Und Kartoffelkroketten."
"Du hast dir so viel Arbeit gemacht - danke!"
"Die Kroketten sind hinüber. Ich werfe dann mal die Steaks in die Pfanne!"

Korbinian folgte Lukas in die Küche, die die Haushälterin, Frau Stanglmair, blitzsauber aufgeräumt hatte. 

"Der Tag war anstrengend! Erst die Krankensalbung, dann das junge Paar, das in 6 Wochen heiraten will, und noch zwei Trauergespräche. Das Zweite hat mich besonders mitgenommen. Es ist schwierig, wenn Kinder vor ihren Eltern sterben! Um so mehr, wenn sie noch kein Jahr alt sind!"
"Oh mein Gott, warum das denn?"
"Plötzlicher Kindstod. Das Kind lag morgens leblos in der Wiege. Furchtbar."

Lukas wischte sich die Hände an einem Küchentuch ab und ging auf Korbinian zu. Er nahm ihn in den Arm und drückte ihn fest. Korbinian ließ seinen Kopf auf Lukas' Schulter sinken und schmiegte sich an ihn. Seine Wärme, sein Stärke hielten ihn. Übrigens seit Jahren schon.

Lukas löste die Umarmung.

"Hochwürden, ich muß die Steaks wenden!"

Korbinian lachte. 
Danke, daß du bei mir bist, dachte er. Er dachte es nur. Es zu sagen, kam ihm zu kitschig vor. Stattdessen fragte er, "Trinken wir Wein?"
"Gern! Geht der Spätburgunder? Den Lemberger müßtest du aus dem Keller holen!"
"Spätburgunder klingt gut. Du, das müssen wir uns aber morgen wieder abtrainieren!"

Korbinian deckte den Tisch. Die Pfifferlingssauce schmeckte sensationell. Was er für ein Glück hatte!


Jasper saß mit der Fernbedienung in der Hand vor dem Fernseher und verfolgte gebannt die Vorabendserie. Beate Thormählen betrat das Wohnzimmer. Endlich zu Hause! 
"Na, ihr Süßen? Wart ihr den auch schön brav den ganzen Tag? - Und ihr?"

Sie hatte sich zunächst den Puppen im Schrank zugewandt, dann denen, die sie auf der Rückenlehne der Couch drapiert hatte. Sie zupfte an der porzellanenen Sammlerpuppe  herum, setzte die Cabbage Kids auf, und staubte die historische Käthe-Kruse-Puppe, die sie bei einer Nachlaß-Versteigerung erstanden hatte, vorsichtig ab.

"So, meine Schätze, jetzt seid ihr wieder schön!"
"Ist noch Bier da?"

Aha, Jasper war noch am Leben.

"Im Kühlschrank! Ich hab frisches Bauernbrot und Bergkäse besorgt. Laß uns was essen!"
"Gleich! Ich guck das hier nur noch zu Ende!"

Der Bergkäse war wirklich köstlich. 
"Wie war dein Tag?"
"Wie immer."
"Bei mir auch. Das Übliche!"

Sie aßen schweigend.

"Am Wochenende hab ich frei! Sollen wir mal ins Kino...?"
"Geht nicht. Bundesliga. Dortmund gegen die Bayern."
"Ach so. Naja, vielleicht ein andermal!"


Mit leisem Klirren berührte die Teekanne das Stövchen. Ein Apfelkuchen stand bereit, zusammen mit Sahne, Zitrone und Kandis für den Tee. Der Tisch war liebevoll gedeckt, mit Herbstlaub garniert. Zwei kleine Kerzen in gläsernen Haltern spendeten ein heimeliges Licht.

"Wenn ich den Herren bitten dürfte ..."

Spiridon setzte sich unsicher auf den ihm zugewiesenen Stuhl. 

"Sie mögen doch Apfelkuchen? Ich hätte sonst auch noch Kekse ..."

Der Junge schaufelte Schlagsahne auf seinen Teller.
"Selbst gebacken?" 

"Was glauben sie? Natürlich selbst gebacken. Man weiß doch nie, was in dem gekauften Zeugs drin ist! Billiges Weizenmehl! Pfui Spinne!"
"Schmeckt prima", strahlte er Frau von Hayn an.

"Das freut mich. Sie brauchen aber nicht so zu schlingen. Es ist noch genug da. Und wenn sie fertig sind, erzählen sie mir aus ihrem Leben."

Spiridon erzählte. Seine Eltern hatten Serbien verlassen, kurz nach seiner Geburt. Er war mit einem Herzfehler zur Welt gekommen, der hier medizinisch behandelt werden konnte. Er erzählte vom Tod seines Großvaters, den er sehr geliebt hatte, der Überfürsorge seiner Mutter. Er war ein guter Schüler, kurz vorm Abitur. Sein Vater redete ihm zu, seinen Traum vom Studium aufzugeben und Kfz-Mechatroniker zu werden. 

"Wenn ich ihnen einen Rat geben darf: studieren sie. Suchen sie sich eine Arbeit, um es finanzieren zu können, wenn ihre Eltern sie nicht unterstützen können. Beantragen sie staatliche Leistungen. Aber studieren sie. Sie sind zu intelligent. Sie werden unglücklich sein und ihr Leben lang vom Gefühl geplagt werden, etwas verpaßt zu haben. Mein Vater hat mir, als ich in ihrem Alter war, geraten, mir immer Menschen zu suchen, die mich weiterbringen. 'Sieh zu, daß du die Dümmste im Raum bist!', war sein Lieblingssatz." 

Die Kanne mit dem Tee war leer geworden. Die alte Dame bot an, noch einmal Wasser aufzusetzen. Spiridon winkte ab. 

"Danke nein, Frau von Hayn. Ich soll doch noch was für sie arbeiten, oder? Sie wissen doch. 280 Euro."
"Haben sie die an ihren Lieferanten weitergegeben?"
  
Der Junge bejahte. 

"Das ist recht. Dann gehen sie jetzt nach Hause. Und passen sie morgen in der Schule gut auf!" 
"Ja, aber ich soll doch noch was für sie machen!"

Elisabeth Freifrau von Hayn lächelte verschmitzt. 
"Das haben sie doch schon."

Er sah sie überrascht an. 
"Soll ich dann morgen wiederkommen?"
"Selbstverständlich."
"Ist ok!"

Spiridon fühlte sich seltsam berührt. Er kannte dies Gefühl nicht. Das hatte er noch nie erlebt. Daß jemand sich für ihn interessierte...



Die Frau Doktor hatte ihre Kleidung abgelegt, sich geduscht, mit Bodylotion gesalbt und Parfum betupft. Nun stand sie vor ihrem systematisch geordneten Kleiderschrank, dem sie ein gewagtes Leder-Outfit entnahm. Sie schlüpfte hinein. Wie in einen Handschuh, dachte sie. 

Noch schnell das Make-up. Helle Grundierung, dunkler Lidschatten, knallroter Lippenstift. Sie schüttelte den Kopf. Die Haare gehorchten aufs Wort. 

Perfekt. Absolut perfekt. Nie hatte sie besser ausgesehen. Obwohl ... sie sah immer heiß aus. 

Na denn. Auf in den Club.







Auch das noch. Er freute sich immer, wenn er niemandem begegnete. Und jetzt? Dabei hatte er doch nur einen kurzen Spaziergang machen wollen. Da stand, als hätte sie auf ihn gelauert, die pensionierte Krankenschwester. 

"Guten Abend, Frau Kipp!"
"Fräulein Kipp, bitte! Na, Herr Richter? Wie geht es uns denn heute?"
"Danke der Nachfrage, Fräulein Kipp ... entschuldigen sie, ich bin etwas in Eile ..."
"... und das ist gar nicht gut, nach einem Schlaganfall! Das treibt nur ihren Blutdruck in die Höhe, und Zack - platzt wieder ein Gefäß in unserem Kopf!"
"Schön, daß sie es so anschaulich beschreiben. Danke für ihre Sorge!"
"Es nützt ja nichts, um den heißen Brei herumzureden, nicht wahr. Ich bin immer sehr für Direktheit!"

Tristan umklammerte den silbernen Knauf seiner Gehhilfe. Eine Sekunde lang flackerte in seiner Fantasie die Idee auf, die Dame, die ihn neugierig durch ihre häßliche Hornbrille betrachtete, mit einigen gezielten Schlägen zur Strecke zu bringen. Er erschrak bei diesem Gedanken.

"Wie lange ist ihr Suizidversuch eigentlich her?"
"Ich möchte wirklich nicht ..."
"Ach, nicht so schüchtern! Nennen wirs beim Namen! Diese Dinge gehören aufgearbeitet! Wenn sie ihr Herz ausschütten möchten ... sie wissen ja, wo ich wohne!"
"Ich muß jetzt wirklich ..."
"Es wird schlimmer, bevor es besser wird! Worum ging es denn? Partnerschaftsprobleme? Depressionen? Geldsorgen?"
"Frau Kipp, ich möchte das doch lieber mit meinem Therapeuten besprechen. Vielen Dank. Und guten Abend."
"Fräulein Kipp, bitte!"

Ja. 'Fräulein', du Ziege, dachte Tristan. Warum kannst du mich nicht einfach in Ruhe lassen?

Er nahm die Treppe. Es war ein Kampf. Abwärts schlimmer als aufwärts. Eine Mitbewohnerin hatte ihm geraten, rückwärts hinunter zu gehen, das sei einfacher. Aber er genierte sich. 

Er litt ohnehin unter den mitleidsvollen Blicken der Mitbewohner. Er mochte nicht bedauert werden. Und irgendwie schien man zu glauben, daß die Gehirnblutung seine intellektuellen Fähigkeiten beeinträchtigte. Er hatte durch den dummen Selbstmordversuch, der durch eine Indiskretion bekannt geworden war, noch dazu beigetragen, daß um ihn herum getuschelt wurde. Gespräche verstummten plötzlich, wenn er sich auf Hörweite genähert hatte. 

Für seinen Vater war er eine Enttäuschung. Darunter litt er am meisten. Sein Vater hätte gern einen Sohn gehabt zum Angeln gehen, Fußballspielen, im Sportstudio Gewichte stemmen. Das war nun Hagen. Sein großer Bruder. Er selbst zählte nicht. 

Trotz allem hatte er sich durchgebissen. Er hatte trotz seines Handicaps die Ausbildung zum Werbegrafiker gemacht, und er war gut. So gut, daß eine große Agentur ihn einstellte. Er hatte viele Aufträge. Er hatte sogar die Zusatzausbildung für Produktdesign - verflixt! Der Entwurf für den neuen Schoko-Karamell-Riegel! Fast vergessen!

So. Nur einmal um das Haus herum, und dann an das Zeichenbrett zurück! 


Die kleine Villa lag außerhalb der Stadt, an einer Kreuzung zweier Bundesstraßen. Rote Lampen illuminierten den Garten, aus den Fenstern drang hier und da etwas gedämpftes Licht durch nicht ganz zugezogene Vorhänge. Kein Schild wies darauf hin, ob sich hinter der etwas langweiligen Fassade ein Restaurant, eine Bar, ein Nachtclub verbarg. 

Der Parkplatz rechts neben dem Haus war voll besetzt. Frau Dr. In den Birken war des Suchens müde. Sie stellte ihr schickes Cabriolet auf einen Platz, der mit einem Schild als 'Privat' ausgewiesen war. 

Die leicht bekleidete junge Frau am Empfang kassierte die 90 Euro Eintritt und zog den Mitgliedsausweis durch den Scanner. 
"Oh, ihr 9. Besuch! Beim 10. ist freier Eintritt!"
"Wie schön", sprach huldvoll die Ärztin.
"Hier sind übrigens meine Autoschlüssel. Ich stehe auf dem privaten Parkplatz. Nur falls ich jemanden störe."
"Danke, ich gebe das weiter. Oh, das Buffet kann ich ihnen sehr empfehlen! Wir haben den Caterer gewechselt! Lauter Delikatessen!"

An der Bar saßen - unbekleidet - drei ältere Herren, die an Sektkelchen nippten und ihr ungenierte Blicke zuwarfen. Die Einrichtung war eher erdrückend, grauer Samt, schwarzes Ledermobiliar, weiches, rotes Licht. Überall saßen Gäste in Zweier- und Dreiergrüppchen, mehr oder weniger bekleidet. 

Heide bewegte sich in Richtung der Saunalandschaft. Die Räume, die sie passierte, waren zweckmäßig eingerichtet, als Folterkammer, mit großem Bett oder Slings, die von der Decke hingen. Räume, in die man von außen durch Gucklöcher hineinsehen konnte. 

Aus den Lautsprechen erklang House, Love Can't Turn Around. Paare betätigten sich sportlich, zu zweit, zu dritt, zu viert, in unterschiedlichen Kombinationen, und in erstaunlich sportlichen Stellungen. 

Diverse Herren bekundeten Interesse an ihr, mit Worten, und mit Griffen, denen sie sich nachdrücklich entzog. 
Sie hatte nur Augen für eine schlanke, blonde Frau, die mit ihren weißen Dessous das Interesse eines grauhaarigen Herren geweckt hatte. Sie saß auf einem Barhocker. Er stand dicht vor ihr, hatte seine Hände auf ihre Oberschenkel gelegt und seinen Mund ihrem Ohr genähert. Offenbar flüsterte er ihr etwas zu. Sie sah Heide über seine Schulter hinweg an. Heide öffnete ihre Lippen und neigte langsam, ihr Gegenüber fest im Blick behaltend, den Kopf in den Nacken. 

Die junge Frau in Weiß schob die Hände des Herren von ihren Beinen, kletterte von ihrem Sitz und ging auf die Ärztin zu. Ihre Lippen berührten Heides Wange. 
Dann zogen die Damen sich zurück, ohne ein Wort miteinander gewechselt zu haben. 


Spiridon fiel schweißbedeckt und zitternd Frau von Hayn in die Arme. 
"Mein Herz! Mein Herz platzt! Ich krieg keine Luft!"
"Mein lieber Junge, was ist passiert?"

Spiridon keuchte nur. 
"Ich sterbe! Ich schaffe es nicht! Bitte helfen sie mir!"

Frau von Hayn betätigte den Alarmknopf. Jeder Bewohner verfügte über einen derartigen Apparat, mit dem bei Bedarf schnelle Hilfe angefordert werden konnte.
"Gleich kommt jemand, mein Junge! Leg dich hier auf die Couch!"

Schwankend manövrierte das ungleiche Paar sich durch das kleine Appartement.
"Sehen sie! Hier, am Arm!"
"Was ist da?"
"Da bewegt sich was! Unter der Haut! Irgendwas kriecht da!"

Frau von Hayn inspizierte die bezeichnete Stelle. Nichts war zu sehen.
"Alles kommt wieder in Ordnung, Kind. Alles wird wieder gut."

Sie hielt ein Handtuch unter den Hahn mit dem kalten Wasser und legte es auf Spiridons Stirn. Er stöhnte auf und drehte sich unruhig hin und her. Sie ergriff seine zitternde Hand und hielt sie fest.

In diesem Moment kamen die Rettungssanitäter.

"Einen wunderschönen guten Abend", behauptete der Kleinere.
"Was haben wir denn da?"

"Es könnte sich um Drogen handeln", diagnostizierte die alte Dame. 
"Außerdem hat er eine Herzoperation gehabt."

Spiridon wimmerte angstvoll.
"Macht die Tiere aus mir raus! Macht doch dieTiere aus mir raus!"

"Das ist mal eine gute Idee", meinte der größere Herr in der orangefarbenen Jacke gemütvoll.
"Dann machen wir jetzt mal die Tiere raus, als erstes." 
Und zu seinem Kollegen gewandt: 
"Wir legen schon mal den Zugang, dann kann der Notarzt gleich loslegen und braucht nicht nach der Vene zu graben, falls er kreislaufmäßig wegkippt! Hm, keine Einstiche! Was konsumieren sie den so?"

"Kiffen, Exstasy. Und Kräuter. Strawberry quick!" 
Die Herren sahen sich an. 
Der Junge flehte japsend.
"Ich krieg keine Luft!"

Der Kleinere setzte wortlos eine Sauerstoffmaske auf eine blaue Gasflasche und legte sie um den Kopf des Jungen. 
"Blutdruck 150 zu 90."

Der Notarzt sah genervt aus. 
"Jetzt auch noch Drogen. Na prima."

"Ich bin Freifrau Elisabeth von Hayn, Herr Doktor. Können sie helfen?"
Die Sanitäter hatten schon zwei Ampullen aufgebrochen und in die Spritzen aufgezogen. 

"Bin schon am Werk, gnädige Frau", grinste der Mediziner. Es klang ironisch. 

Die Wirkung war fantastisch. Spiridons Unruhe wich, er atmete ruhiger.

"So, ich schreibe eine Einweisung für die Psychiatrie. 4 Wochen Entzug, und ihr Enkel ist wie neu. Bis zum nächsten Mal."

Die Dame sah ihn verblüfft an. 
"Wie meinen sie das?"
"Wie ich es gesagt habe. Drogensüchtige werden doch sowieso wieder rückfällig."

Frau von Hayn sah im direkt in die Augen.

"Das kommt gar nicht in Frage. Und wenn es das Letzte ist, was ich tue. - In welche Klinik schicken sie meinen ... Enkel? Ich beabsichtige, ihn zu begleiten!"



Der Kapitän steckte seine Kopf durch die Tür. Er verfolgte im Fernsehen eine interessante Dokumentation über botanische Gärten in Deutschland, als er plötzlich ein Martinshorn hörte, und in seinem Fester den Reflex des blauen Blinklichts wahrnahm. In einem Haus wie dem diesen war das selten ein gutes Zeichen. 

Die Stimmen auf dem Flur, unter denen er die Frau von Hayns ausmachen konnte, verhießen noch weniger Gutes. 

Um nicht neugierig zu erscheinen, widerstand er der Versuchung einige Zeit, auf den Gang herauszutreten. Als er dann aber das metallische Geräusch, mit dem die Trage sich öffnete, bemerkte, hielt er es nicht mehr aus. 

Gottseidank. Seine Nachbarin wurde nicht fort transportiert. Wer lag da, schweißbedeckt und zitternd? War das nicht der Praktikant? 

"Halten Sie mich nicht für neugierig, gnädige Frau, aber ... was ist passiert? Benötigen Sie die Hilfe eines alten Mannes?"

Elisabeth von Hayn wirkte angestrengt, aber gefaßt. 

"Es ist alles gut, Herr Kapitän. Ich begleite meinen Enkel ins Krankenhaus!"

Eddo Jonte Kruskopp hob verblüfft den Kopf.

"Ah ja, ihr Enkel! Dann will ich nicht weiter stören!" 
"Sie stören nie, lieber Herr Kruskopp. Wenn sie erlauben, melde ich mich kurz, wenn ich zurückkomme."
"Ich bitte ausdrücklich darum, gnädige Frau!"

Ein tolles Weib! Sie sah wunderbar aus, war blitzgescheit und gewitzt, hatte Stil und Geschmack - warum konnten sie nicht jünger sein! Warum mußte man überhaupt altern? Im Kopf war man doch noch jung! Und albern! Und beweglich! 
Vorn Sterben hatte er keine Angst. Das war ja unabänderlich. Aber daß man nicht mehr dazugehörte, nicht mehr für voll genommen wurde, als seniler alter Schwätzer - das tat weh. 

Auch er war ja mal jung gewesen. Jung und unvernünftig. Damals tat man noch, was der Vater befahl. Deswegen verschlug es ihn zur christlichen Seefahrt, auch wenn er Angst vor dem Wasser hatte und nicht schwimmen konnte, sein bestgehütetes Geheimnis. 
Onno sollte es besser haben. Seinen Sohn hatte er zu nichts gezwungen. Er war Beamter geworden, Stadtplaner. Dröger Bürokrat. Und an Weihnachten und zu Ostern kam er dann, mit seiner Gattin, und seinen Enkelkindern, auf Pflichtbesuch. Ehrlich? Er war froh, wenn sie wieder gingen. 

Und trotzdem liebte er ihn ... 

Er hatte in seinem Leben nur zwei Menschen wirklich geliebt: Seine Aaltje, die ihn viel zu früh verlassen hatte, und Onno. 

Er nahm das Foto zur Hand, von damals, als Onno fünf Jahre alt war. Bart und Haare waren schwarz. Er war jung und stark. Zu seiner Linken seine Frau, zart, aber zäh, mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen. Er grinste. Damals hatte sie ihm, nachdem die Aufnahmen gemacht waren, gesagt, sie hätte nicht gewußt, ob man überhaupt beim Fotografen lächeln durfte. Vielleicht hätte das die Bilder ruiniert.
Onno stand zwischen den beiden, an der Hand seiner Mutter. Mit kurzen Hosen, die kleinen Speckbeine in weiße Strümpfe gezwängt. Eine etwas zu eng gewordene Strickjacke, und ein Hemd, das er für ihn aus Amerika mitgebracht hatte. 

Warum verlor man alles, im Lauf des Lebens? Warum wurde man immer einsamer? 
Mein Gott, wie sehr er Aaltje vermißte! Wie sagten die Syrer? 'Wenn ich deine Worte auf meine Wunden lege, sind sie sofort geheilt'. Ja, so war sie. Sie vermochte, sein Herz zu heilen.

Die Messinguhr schlug 5 Glasen. 1. Nachtwache, dachte er. Zeit für mein Insulin! 

Nach einer halsbrecherischen Fährt durch die Stadt erreichten sie das im Pavillonstil errichtete Krankenhaus. Zielsicher steuerten die Sanitäter die psychiatrische Abteilung an. Sie zogen die Trage mit dem Patienten aus dem Wagen, dann halfen sie der vermeintlichen Großmutter vom Beifahrersitz. 

Das Notfallprotokoll wurde dem Diensthabenden ausgehändigt, Personalausweis und Krankenversichertenkarte fanden sich in der Geldbörse des Patienten. 

"Sie sind die nächste Angehörige?", fragte der Arzt skeptisch. 
"Gewiß", erwiderte Frau von Hayn. Sie gab für den Notfall Namen, Adresse und Telefonnummer an. Zudem bat sie darum, die Eltern des jungen Mannes zu verständigen, auch um Sachen zum Anziehen zu bringen.
"Wir reden nicht miteinander", erklärte sie mit gerunzelter Stirn.
"Können sie mir sagen, wie das hier weitergeht?"

Der Stationsarzt konnte. Es ginge um die Entgiftung und ggf. Substitutionstherapie.

"Es wäre schön, wenn er nur Marihuana, Amphetamin und Legal highs konsumiert hätte, dann kann man sich die Substitution sparen. Und dann ist er nach drei bis vier Wochen sauber. Er soll sich dann aber um einen Therapieplatz bewerben. So schnell wie möglich."
"Können sie das nicht gleich miterledigen? DieTherapie, meine ich?"

Frau von Hayn zeigte sich erstaunt.

"Leider nein. Wir habe dazu viel zu wenig Plätze und Therapeuten. Wir machen hier nur die Entgiftung."
"Aha. - Darf ich noch einmal zu ihm, Herr Doktor?"
"Na klar", nickte der Mediziner. 

Spiridon lag blaß und mit schweißnassen Haaren in seinem Klinikbett. Die geschlossenen Augenlider erschienen etwas dunkler als die Gesichtshaut. Der Mund war leicht geöffnet, aus dem rechten Mundwinkel rann etwas Speichel die Wange hinunter und hinterließ auf dem Kopfkissen einen Fleck.

Die alte Dame streichelte seine Wange.

"Dummer Junge", flüsterte sie. 
"Du dummer Junge."

Aber sie lächelte.

Frau Dr. In den Birken blickte, wach werdend, auf den Platz neben sich. Überrascht stellte sie fest, daß ihre Zufallsbekanntschaft aus dem Club offenbar doch etwas älter war, als sie angenommen hatte. Vermutlich ihr Alter. Die Haare waren blond gefärbt, um den Hals trug sie eine Silberkette mit einem tropfenförmigen Anhänger.

Sie ließ sich in ihr Kissen zurücksinken. Es war ein unglaubliches Erlebnis. Sie war von Höhepunkt zu Höhepunkt geschwebt, und dabei hatte sie unendlich Zärtlichkeit und Sinnlichkeit gespürt. So hatte sie sich noch niemandem hingegeben, bis jetzt. Voller Vertrauen. Lustvoll, vom Kribbeln in ganzen Körper bis zu den rhythmischen Zuckungen im Unterleib, der Beschleunigung des Herzschlages und der Atmung. Sie hatte Hitze gefühlt, unter den Berührungen ihrer Partnerin. Eine Haut wie Samt, weich, trocken, glatt ...
Sie hatte ihre Lust herausgeschrieen ... hoffentlich hatten die Nachbarn nichts gehört! 
Ach, egal. Und wenn schon. Kein Neid, bitte.

Die Frau neben ihr öffnete die Augen. 
"Hey! Guten Morgen, du Schöne!"
"Guten Morgen, Demeter. - Extravaganter Name, oder?"

Demeter lachte.

"Hab Du mal Altphilologen als Eltern! Und dann noch Lehrer! Es ist nicht auszudenken!"
"Du Arme! Kann ich dich mit einem Kaffee über die Namensgebung hinwegtrösten?"
"Ach, ich glaube, ich brauche keinen Trost. Es war wunderbar mit dir."
"Das kann ich nur bestätigen. Es war unbeschreiblich."
"Aber, solltest du zufällig Kaffee machen ... Milch und Zucker, bitte!"

Heide kehrte mit zwei großen Tassen auf einem roten Lack-Tablett zurück.
"Wie wunderbar! Kaffee ans Bett! Was will man mehr?"

Demeter räkelte sich.
"Vorsicht, wirf die Tasse nicht um!"
"Großer Gott, ist der heiß!"

Demeter rührte in ihrer Tasse und pustete auf die Oberfläche, um die Flüssigkeit abzukühlen.

"Darf ich dich was fragen?"
"Alles!"
"Was ist deine natürliche Haarfarbe?"

Demeter schmunzelte.
"Du hast ein sehr gutes Auge, Heide. Der klinische Blick?"
"Das mag sein!"
"Na gut, ich verrate es dir. Kupferrot!"




Florentin probte. Zunächst hatte er gräßliche Grimassen gezogen, die Lippen, zu einem Trichter geformt, kreisen lassen, die Stirn gekraust, die Zähne gebleckt, die Wangen ochsenfroschartig aufgeblasen. 

Dann folgte das Freisingen, auch wenn er nur für eine Lesung engagiert war. Im Dreiklang, mit dem eingestrichenen C beginnend, la-la-la-te er sich einmal hoch und wieder hinab.

Das Sprachtraining aus dem kleinen Hey mit den dazugehörigen Atemübungen beschlossen sein Programm. So würde es gehen. Hoffentlich hatten alle ihre Hörgeräte eingeschaltet. Perlen vor die Säue. Er haßte diese Lesungen, und er haßte Altersheime ... oh, Pardon:  Seniorenwohnanlagen. Der Geruch war unsympathisch. Die alten Leutchen vegetierten teilnahmslos vor sich hin, der Applaus ließ zu wünschen übrig.
Aber was halfs? Er mußte die Miete bezahlen! Neulich hatte er einen Spot in der Fernsehwerbung ergattert, aber auch nur, weil er seinen Agenten angefleht hatte. Sein primadonnenhaftes Gehabe hatte die Kollegen gegen ihn aufgebracht. Unfaßbar. Sie hatten es sich mit ihm verscherzt. Lernen hätten sie können von ihm. Er ging großzügig mit seinem Wissen, seiner Erfahrung um, Rampensau, die er war. Aber nein, die jungen Kollegen wußten alles besser, und schlußendlich hatte er in Absprache mit dem Theaterdirektor seinen Rückzug für unvermeidlich gehalten. 

Sie würden schon sehen, wo sie ohne ihn, sein Talent, seine Erfahrung landeten! Auf den Knien würden Sie angekrochen kommen, ihn anflehen, den Hamlet zu geben. Was hatte der Intendant gesagt? Er solle lieber den Geist des Vaters spielen? Bodenlos! Er war noch keine 50! 

Wenn es ihm doch bloß gelänge, die Filmleute auf sich aufmerksam zu machen. Sein Gesicht, das verriet ihm sein Spiegelbild, das er gern ausgiebig betrachtete, hielt jeder Großaufnahme stand, seine Figur ... naja, dafür gab es ja personal coaches, die einen einen anschrieen und quälten und außer verdünntem Wasser jede Zufuhr von Nahrung verweigerten ... all dies war er bereit, auf sich zu nehmen, für eine Rolle im Film. Es mußte ja gar nicht die Hauptrolle sein. Natürlich war er vom Typ her eher der Held, aber er hätte sich auch mit dem Schurken begnügt. Oder dem Vater des Helden. 

Wofür bezahlte er eigentlich seinen Agenten? Er hatte schon versucht, die Agentur zu wechseln, aber die größeren verlangten zu viel Prozente von seiner Gage....

So. Kästner, Tucholsky, Ringelnatz. Vielleicht noch was Besinnliches als Zugabe. Was Klassisches. Eichendorff. Der alte Garten. Das kam immer gut an. 

"Kaiserkron und Päonien rot,
Die müssen verzaubert sein ...."

"... Denn Vater und Mutter sind lange tot,
Was blühn sie hier so allein?"

Wer erdreistete sich ...
"Ach! Schwester Beate! Charmant! Und beinahe mit Atemstütze! Sie sind ja ein Profi! Haben sie Schauspielunterricht genommen?"
Die Schwester kicherte geschmeichelt. 

"Sie machen mich ganz verlegen, Maestro! Ich bin ein Nichts neben ihrer Kunst! Obwohl, in der Schule, da habe ich mal die Sophie in "Die Mitschuldigen" gespielt! 'Was machen Sie, Alcest! Sie scheinen mich zu fliehen. Hat denn die Einsamkeit so viel, Sie anzuziehen?'"

Florentin Forchheimer fiel auf die Knie und zog ihre Hand an seine Brust.

"Für diesmal weiß ich nichts, was mich besonders zog,
Und ohne viel Raison gibt's manchen Monolog."

Er sah sie schmachtend an.

"Sie lesen in mir wie in einem Buch, Sophie ... äh, ich meine, Beate! Sie habe recht. Es ist die Einsamkeit, diese schlimme, schlimme Einsamkeit! Sie verzehrt mich! Ich kranke an Einsamkeit!"

Er hob ihre Hand, die er festgehalten hatte, an seine Lippen.

"Heilen Sie mich, Beate. Erbarmen sie sich meiner! Ich flehe um die Gnade, von ihnen geliebt zu werden!"

"Maestro, sie vergessen sich! Ich bin verehelicht! Nie und nimmer könnte ich die Ihre sein!"

Der 'Mann mit der Fliege' inszenierte eine Gebärde der Hoffnungslosigkeit. Die Trauer in seiner Stimme klang echt.

"So stoßen sie mich denn fort von ihrem Herzen?"

Schwester Beate dachte an Jasper, der zu Hause vor dem Fernseher saß und Bundesliga guckte. 

"Das habe ich nicht gesagt, Herr Forchheimer ... ich wollte nur ... ich meine ... ich bin nicht mehr frei! Andererseits ... haben sie das im Ernst ... also, wenn ich frei wäre, würden sie ...?"
"Ohne zu Zögern, du liebliche Blume!"

Beate hörte Sophie mahnend sprechen.

"Sie wissen selbst, wie leicht Gelegenheit verführet!"
Aber sie schlug die Warnung in den Wind.



Frau von Hayn zog vorsichtig das Kopfkissen unter dem schlafenden Jungen hervor, indem sie vorsichtig mit der anderen Hand seinen Kopf hielt. Sie ließ ihn vorsichtig hinab, schüttelte das Kissen auf und drehte es um, hob dann Spiridons Haupt erneut an und schon es vorsichtig an Ort und Stelle.

Sie dachte daran, wie oft sie dies getan hatte, wenn ihre Töchter krank waren. Fiebermessen, Wadenwickel, Mentholcreme. Geschichten vorlesen. Den kalten Lappen auf der Stirn auswechseln.

"Hallo Oma!"

Was war das? Frau von Hayn schrak zusammen. 
"Junge, du bist wach?"
Spiridon blinzelte und krauste Stirn und Nase.
"Gerade wach geworden ... Oma!"
"Du Schlingel! Ich zieh dir gleich die Ohren lang!"
"Wieso? Hast du doch selber gesagt, zu den Krankenwagenfahrern!"
"Daran kannst du dich erinnern?"

Spiridon grinste vorsichtig und nickte. 

"Ist doch ok! Hast du mit Mama und Papa gesprochen?"
"Ich hatte bisher nicht den Vorzug, sie kennenzulernen."
"Was mach ich bloß mit der Schule?"
"Auf welche gehst du?"
"Auf das Johanneum!"

"Laß das mal meine Sorge sein. Deine liebenswürdige alte Großmutter wird im Sekretariat eine Bescheinigung der Klinik abgeben, die alles erklärt. Du versprichst mir, gesund zu werden. Und zu folgen, wenn jemand was sagt. Ich sehe nach dir. Und weh dir, wenn ich höre, daß du nicht mitarbeitest an deiner Gesundung!"

Spiridon versprachs.

"Ich bin kein dummer Junge."

Frau von Hayn hielt inne.
"Wer sagt das?"
"Du hast das gesagt."
"Aber du warst bewußtlos!"
"Ich habs gehört!"

Als die Dame die Station verließ, wirkte sie auf die, die sie dabei beobachteten, ausgesprochen heiter.




Heide In den Birken saß am Schreibtisch in ihrer Praxis. Die Patientenliste in ihrem Computer wurde immer länger. Die ersten Namen hatte das System schon mit roten Punkten versehen, die mahnend blinkten. Die Wartezeit überschritt die 40-Minuten-Grenze. Ihr Herz klopfte wie wild, sie hatte Mühe, ruhig zu atmen. 

Die Helferin betrat die Ordination. 

"Frau Dr., die ersten Patienten beschweren sich schon! Sie haben die Neuraltherapie in der 1, die Schilddrüsen-Sono in der 2 und für Frau Clausen die Besprechung der Blutwerte in der 3 ... soweit ich gesehen habe, sind die Fette etwas hoch, sonst nur Normalbefunde. Ach, apropos Befund: das ist das EKG von Herrn Neuwirth. Das müßten sie bitte auch noch ansehen, dann können wir den schon mal nach Hause schicken! Und wenn ich noch um die Unterschriften auf diesen Rezepten bitten dürfte - dann sind es schon wieder 5 Namen weniger!"

Die Frau Doktor war heute nicht in Form. So lange brauchte sie doch sonst nicht! 

Heide In den Birken versah die rosa Formulare mit ihrer Signatur, bewaffnete sich mit der Spritze, die ihr angereicht worden wahr, und brach in Richtung des ersten Behandlungsraums auf. Die Innenflächen ihrer Hand waren feucht, ihr Gesicht brannte.

Demeter hatte versprochen, heute Abend wiederzukommen. 
Würde sie dies Versprechen halten? 
Sie konnte an nichts anderes denken als an diese wunderbare Frau. 
Sie war verwirrt. Völlig durcheinander. Aufgewühlt. 

Nicht etwa, weil sie die Zärtlichkeiten und den Sex mit einer Frau als außergewöhnlich empfand. Das ganz sicher nicht. Immerhin lebte sie im 21. Jahrhundert. 

Nein. Sie war verliebt. 

Sie war vollkommen, blödsinnig, bis über beide Ohren verliebt. Wie konnte ihr das bloß passieren? Ihr? Ausgerechnet! 

Sie hatte sich nie verlieben, in Abhängigkeit zu einem anderen Menschen geraten wollen. Sie war alles andere als eine rückgratlose Molluske. Stärke und Unbeugsamkeit zeichneten sie aus. Sie hatte viel Freunde verloren, im Lauf der Zeit. Neider, die mit ihr nicht mithalten konnten.

Sie war gewohnt, klar, messerscharf und analytisch zu denken. Emotionen waren für Schwächlinge. Sie fühlte sich den meisten Menschen überlegen. Umfassende Bildung, hochqualifizierte Ausbildung, gutes Aussehen, Integrität und das Bewußtsein eines makellosen, unfehlbaren Lebens trugen sie. 
Sie rettete Leben, gab weise Ratschläge, verhinderte vorbeugend Erkrankungen ... Fehler passierten anderen, nicht ihr. 

Und dann trat Demeter in ihr Leben, und sie, die den Ton anzugeben gewohnt war, hatte Angst, daß sie sie nicht wiedersehen würde? 
Sie sei auf der Durchreise, hatte sie gesagt. Sie war nur hierher gekommen, um einen Freund zu besuchen, der Pfarrer war, und um sich in der Universitätsklinik untersuchen zu lassen, sicher ist sicher. Dann wollte Sie weiterziehen. 

"Ahoi, Frau Kipp!" Kapitän Kruskopp grüßte, vom Frühstück herkommend, die pensionierte Krankenschwester. 
"Fräulein Kipp, bitte. Oder Schwester Friedel."
"Na dann: Schwester Friedel! Und? Wie geht es Ihnen? Immer eine Handbreit Wasser unterm Kiel?"

Frau ... Pardon, Fräulein Kipp kicherte albern. 

"Sie mit ihren maritimen Vergleichen! Sehen wir uns heute Abend? Sie wissen schon: die Lesung von Florentin Forchheimer! Ich freu mich schon so darauf! Endlich mal wieder Kultur!"

"Mast- und Schotbruch! Na klar! Eine solche Veranstaltung darf man nicht verpassen. Schon gar nicht in meinem Alter. Man weiß ja nie, wie lange noch ..."

"Ach, Herr Kapitän .... wenns passieren soll, passierts. Fliehen können wir ohnehin nicht davor. Und was das Alter angeht ... denken sie an unseren Herrn Richter! Der war ja noch im Kindesalter, als der Schlag ihn rührte!" 
"Das ist wohl war, Schwester Friedel. Wenn das Schicksal anklopft ..."
"Wenn ersichtlich doch nur öffnen wollte! Ich habe schon versucht, herauszufinden, was der Grund für seinen Selbstmordversuch war. Man hat ja keine ruhige Minute, wenn man befürchten muß, daß er so etwas jederzeit wieder tun könnte, nicht wahr?"

Kapitän Kruskopp runzelte die Stirn.
"Was veranlaßt sie zu dieser Einschätzung, Schwester Friedel?"
"Erfahrung, Herr Kapitän, Erfahrung! Einmal ein Selbstmörder, immer ein Selbstmörder. Sie werden sehen! Allein schon, daß er nichts sagen will! Wäre alles in Ordnung, bräuchte er doch kein Geheimnis daraus zu machen, oder?"
"Sind sie denn sicher, daß wir uns in die persönlichen Belange eines anderen Menschen einmischen sollten?"

Ein vorwurfsvoller Blick, durch ihre häßliche Hornbrille geworfen, traf den Seemann. 
"Wenn wir uns mehr für andere Menschen interessieren würden, gäbe es weniger Leid und Unglück auf der Welt!"
"Das ist wahr, Frau Kipp, aber meinen Sie nicht, daß es reicht, ein Signal zu senden, ohne den anderen zu seinem Glück zu zwingen?"
"Fräulein Kipp, bitte!"
"Heiliger Klabautermann! Wir sehen uns später!"

Ohne ein weiteres Wort zog sich Herr Kruskopp in seine Zimmerflucht zurück. 

"Männer!"

Es klang, als verfügte Schwester Friedel auch in diesem Thema über Erfahrung.


"Du, ich muß da hin, und ich würde mich wirklich freuen, wenn Du mich begleitetest!"

"Ach, Korbi! Was sollen wir erst Konflikte schaffen? Du weißt doch: eifrige Mitglieder deiner Gemeinde haben schon Eingaben an das bischöfliche Ordinariat gemacht, bloß weil sie einen Verdacht hatten. Was glaubst Du, was passiert, wenn wir Hand in Hand bei einer Veranstaltung auftauchen?"

"Lukas, das kann doch nicht so weitergehen? Ich bin so stolz darauf, daß Du mit mir durchs Leben gehst. Ich will Dich nicht verheimlichen, alssei mir irgendetwas peinlich."

"Du vergißt den Zölibat. Partnerschaften sind für Pfaffen nicht vorgesehen. Weder schwul noch hetero."

Korbinian Heydenreich sah Lukas Wild traurig an. 

"Ich bin mit Leib und Seele Priester, aber du bist mir wichtiger. Und mir ist es völlig egal, ob jemand Anstoß nimmt oder nicht. Das hier ist mein Leben. Und ich möchte es authentisch leben. Ich lebe es für mich. Ach ja, und für dich. Und nicht für frustrierte Hausfrauen oder verbitterte Rentner mit hochmoralischen Bauchschmerzen."

Lukas kratzte sich am Kopf. 

"Es ist nicht so, daß ich Dir nicht zustimme. Aber sieh mal: du hast ja noch nicht mal deinen Eltern reinen Wein eingeschenkt. Und da willst du den Kampf mit deinem Arbeitgeber aufnehmen?"

Korbinian grinste.

"Ich bin gewiß, daß mein Arbeitgeber mit mir als Teil seiner Schöpfung ganz einverstanden ist. Nur Teile seines Bodenpersonals sind so im Gestern verhaftet, daß man sich wundert, daß sie morgens überhaupt aufstehen! - Also gut. Ich höre mir den Forchheimer-Abend also allein an. Gehen wir am Samstag wenigstens ins Kino?"
"Was läuft?"
"Eine französische Beziehungskomödie, mit dem großartigen Christian Clavier!"
"Bietest du mir hinterher noch ein Abendessen? Und einen Absacker im 'Tom's'?"
"Erpresser!"
"Umsonst ist der Tod", behauptete Lukas fröhlich. 






Tristan Richter konnte sich der Abendveranstaltung mit Florian Forchheimer nicht entziehen. Wirklich Lust, dorthin zu gehen, hatte er nicht. So sehr, wie er sich wünschte, daß man ihn akzeptieren würde, ihm die Bedeutung zumessen, die er als menschliches Wesen hatte, so sehr haßte er es, unter Leuten zu sein, die seine Geschichte kannten. Er taugte bei solchen Versammlungen nur als Gegenstand für Klatsch und Tratsch, bestenfalls als Objekt für mitleidiges Erstaunen. 

Als er sich, gestützt auf seinen Stock, in den Festsaal hinein balancierte, verstummten die Anwesenden, als hätten sie zuvor über ihn geredet. Das daraufhin einsetzende Gefühl, dies unangenehme Kribbeln in der Magengegend, und den Schweißausbruch, kannte er schon. Er nickte kurz grüßend den Damen und Herren zu, und setzte sich in die letzte Stuhlreihe, möglichst dicht an den Ausgang. 

Kapitän Kruskopp, der mit Frau von Hayn weiter vorn Platz genommen hatte, ging zu ihm.
"Kann ich sie überreden, ihr Boot zu dem sicheren Hafen backbord von der Dame und meiner Wenigkeit zu steuern?", fragte er mit einer kleinen Verbeugung. 
"Wir würden uns freuen!"

Tristan zögerte. 
"Ich möchte nicht stören ..."
"... Herr Richter! Das Verb 'stören' fällt mir zu allerletzt ein, wenn ich an sie denke. Kommen sie, ich helfe ihnen auf!"


Nervosität. Ja, das war der richtige Ausdruck. Nervosität. Das war so, wenn man vor Publikum hintrat. Lampenfieber? Nein, so schlimm war es nicht. Seine Zuschauer bzw. Zuhörer waren ja bis auf einige Wenige so alt und vermutlich so taub, daß sie gar nicht beurteilen konnten, ob seine Darstellungskunst von Leidenschaft getragen war. Oder, ob er nur routiniert sein Handwerk ausübte, als ob man eine CD abspielt. 

Er schaute durch den kleinen Schlitz im Vorhang. Ausverkauftes Haus. An der Seite eine Art Parkplatz für die Rolatoren. Einige im Rollstuhl, zwei hatten Sauerstoffflaschen neben sich stehen, auf kleinen Gestellen mit Rollen. Hoffentlich überlebten sie den Abend. Er blickte auf seine Armbanduhr. Noch 10 Minuten. 

"Bitte, nach Ihnen, Frau Doktor!"
"Kavalier der alten Schule?"

Frau Dr. In den Birken lächelte Pfarrer Heydenreich an. 

"Gelernt ist gelernt", entgegnete dieser.

"Tschuldigung, darf ich mal durch?"
"Durch? Gehen sie doch lieber an uns vorbei, Frau Kipp!"
"Fräulein Kipp, bitte. So viel Zeit muß sein!"

"Diese Brille!", wisperte Korbinian Heydenreich  der Ärztin zu.
"Solche Gläser habe ich sonst nur als Böden von Wasserflaschen gesehen!"

Die Frau Doktor lächelte maliziös.
"Eine anstrengende Person. Rechthaberisch und viel zu laut!"

"Hier! Neben Frau von Hayn! Wollen wir uns hierher setzen, Frau Doktor? Es ist ihnen doch recht, gnädige Frau?"
"Abgesehen von der künstlerischen Darbietung könnte ihre Nähe sich als weiterer Höhepunkt des Abends herausstellen! Gern!"

"Juhu, Frau Doktor In den Birken!" 

Eine Frau im grauen Hosenanzug war hereingekommen.

Schwester Beate Thormählen winkte aufgeregt und fröhlich der Ärztin zu. Ihr letzter Theaterbesuch lag schon länger zurück. Jasper hatte ihre Bemühungen torpediert. Jasper ... unwichtig. Abgehakt. 
Sie war aufgeregt, und Sie war verliebt. Florentin hatte doch versprochen ... erste Reihe? Ja, tatsächlich. Da lag ein Zettel auf dem Stuhl, mit einer gezeichneten Rose ... 

Sie ergriff das Blatt, strahlte, und setzte sich.


Die Dame in Weiß sah auf die Uhr. Um acht Uhr sollte es losgehen, hatte Florentin gesagt. Noch fast 50 Minuten. Sie betrachtete sich im Spiegel. Ihre Haare leuchteten wieder in kräftigem Kupferrot. Zu dem eleganten, weißen Hosenanzug sah das hinreißend aus. Noch den zartgrünen Schal um die Schultern drapiert, wie zufällig .... sie gefiel sich. 

Und jetzt mußte sie in die Seniorenwohnanlage! Sie konnte ein Schmunzeln nur schwer unterdrücken. Das weiße Haus! Und das ihr! Ein Altersheim! 

Andererseits: Florentin war ein hinreißend attraktiver Mann. Sie war ihm im Club begegnet, und sie hatten viel Spaß gehabt. Er müsse sie wiedersehen, hatte er gesagt. Mit Kniefall und theatralischer Geste. Er würde einen Platz reservieren, in der ersten Reihe. Sie sollte nach einer besonderen, nur für sie gemachten Rose Ausschau halten. 

Und dann war da ja auch noch Heide. Erstaunlich. Sie war um die Welt gereist, und ausgerechnet in ihrer Heimatstadt begegnete Sie an zwei aufeinanderfolgenden Abenden derart interessanten Menschen. 

Nun denn. Es wurde langsam Zeit.


"Wie kommst du denn hierher?"
"Wieso? Freu dich doch! Deine Alten kommen doch bestimmt nicht, oder? Ich dachte, ey, vielleicht brauch der was!"
"Hau ab mit der Scheiße! Ich will das nicht mehr!"
"Wieso? Ganz unverbindlich! Kleine Geschenke unter Freunden!"
"Ich brauch das nicht mehr!"
"Na klar. Dann gibts vielleicht jemand, der drauf ist, wenn du nicht willst. Beste Qualität! Extra für meinen Freund!"
"Jetzt hau ab, bevor dich jemand sieht!"
"Keine Sorge. Ich bin hier schon oft gewesen. Ich kenn' das hier wie meine Westentasche. - Na dann: Bis zum nächsten Mal!"
"Laß mich einfach in Ruhe!"
"Nichts zu danken! Bitteschön!"





Der Verwaltungsleiter selbst kurbelte den Vorhang mehrere Male auf und zu. Der Künstler verbeugte sich, warf dem enthusiasmierten Publikum Kußhände zu, und nahm den Beifall entgegen, dankbar, und unendlich bescheiden. 

"Der Mann ist nur schwer zu ertragen. Er ist allerdings wirklich ein guter Schauspieler, und er hat eine wunderbar volltönende Stimme. Wenn er nur nicht so eitel wäre!"

Frau von Hayn sah abwechselnd Tristan und den Kapitän an, die ihr nur beipflichten konnten. Im Gesicht des Kapitäns entdeckte sie etwas, das sie vorher noch nie gesehen hatte.
"Herr Kruskopp ... sind das Tränen in ihren Augen?"

"Ich bitte um Vergebung, Gnädigste! Aber die letzte Zugabe, der Eichendorff ... 'Vater und Mutter sind lange tot ...' das hat mich für einen Moment in glücklichere Zeiten versetzt, als ich noch jung war, und das Leben unendlich schien. Man wird doch immer einsamer, mit den Jahren!"
"Ja, das ist wahr! Sogar, wenn nicht alles rosig war!"

Der Kapitän bejahte dies. 

"Vater war sehr streng. Ganz außerordentlich streng. Er war gewohnt, zu befehlen. Widerspruch gab es keinen, und ich hab eine Höllenangst vor ihm gehabt. Aber er war mein Vater, und ich habe ihn geliebt. Als er starb, habe ich seine Hand gehalten. Stellen sie sich vor, Gnädigste: seine letzten Worte waren 'keine Schwäche zeigen!'"

"Eine sehr spezielle Erinnerung. Eine Bewertung steht mir da nicht zu. Ich kann ihnen aber sagen, Herr Kapitän, daß Tränen läutern. Und mir sind Menschen, die Gefühle zeigen, weniger suspekt."

Der alte Mann verneigte sich kurz. 

"Was halten sie von einem kleinen Sherry vor dem zu Bett gehen?"
"Sie sind ja ein Verführer, mein Herr! Ich nehme die freundliche Einladung an!"


Schwester Beate kam zu spät. 

Naja, wie man's nimmt ... Demeter hatte nach dem Ende der Vorstellung sofort die Künstlergarderobe aufgesucht. Sie war erst kurz nach acht eingetroffen und hatte, um niemanden zu stören, in den hinteren Reihen Platz genommen.

Nach dem letzten Vorhang stürmte sie so eilig hinter die Bühne, daß sie nicht einmal die Rufe von Heide wahrnahm, die auf der anderen Seite des Zuschauerraums saß. Heide folgte ihr gemessenen Schritts. Komisch, wo wollte Demeter so rasch hin? Kannte sie den Künstler? Eigenartig.

Sie wurde allerdings noch von Schwester Beate überflügelt, die mit dem schnellen, energischen Schritt einer Krankenschwester ihr Ziel ansteuerte.

Beate riß die Tür auf. 

"Geliebter ... !"

Weiter kam sie nicht. Ihr Idol, der Mann, den sie liebte, der Anker für ihr Boot war, wie der Kapitän gesagt hätte ... dieser Mann stand, kompromittierend eng umschlungen, mit der kupferroten Dame in Weiß in seiner Garderobe. 

"FLORENTIN!"
"BEATE!"

"DEMETER!"
"HEIDE!"

Inzwischen war auch Frau Dr. In den Birken eingetroffen, und ähnlich wie Schwester Beate war auch sie von der Intimität zwischen der Frau, in die sie sich verliebt hatte, und dem Schauspieler überrascht worden.

"So. Nachdem wir geklärt hätten, wie wir heißen ... wer möchte die Diskussion eröffnen?", fragte Demeter heiter. 

Nach einer Überraschungssekunde begannen alle gleichzeitig mit ihren Tiraden, die mit "Warum hast du ..", "Wie konntest du ..." oder "Was tust du ...?" begannen. 

"HALT! STOP! So geht das nicht!"

Florentin Forchheimer hatte, der Gewohnheit gehorchend, die Technik der Atemstütze eingesetzt, was seiner ohnehin vollen Stimme noch mehr Volumen verlieh.

Alle verstummten. Beate brach in Tränen aus. Heide preßte ihre Lippen aufeinander. Für sie war das bereits ein Gefühlsausbruch. Üblicherweise blieb sie in jeder Situation Herrin der Lage, aber hier? Die Frau, die sie liebte, betrog sie? 

Demeter faßte sich. 

"Heide, entschuldige, aber ... hast du in unserer kleinen Affaire mehr gesehen, als sie bedeutete? Das tut mir wirklich leid! Aber ... Swingerclub? Hallo? Das ist kein Eheanbahnungs-Institut, oder?"

Ein vernichtender Blick traf Demeter Frei. Heide zeigte keine weitere Gemütsbewegung. Gäb's eine Meisterschaft im Sich-zusammenreißen, hätte sie den ersten Preis gewonnen. 

Sie strahlte die Umstehenden an.

"Danke für den bezaubernden Abend!"

Dann ging sie.

Beate war wie betäubt. 

"Wie konntest du mir das antun? Wie konntest du mir das bloß antun? 'Ich flehe um die Gnade, von Ihnen geliebt zu werden!' Das waren deine Worte! Und 'liebliche Rose' hast du mich genannt!"

Und Demeter zugewandt, stieß sie hervor: "Und sie? Sie schmeißen sich ihm einfach an den Hals! 'Liebliche Rose', das waren seine Worte!"

"Ich befürchte, das sagt Herr Forchheimer zu allen Damen!"

Demeter konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, auch wenn sie begriff, daß die Situation für die blasse, wenig attraktive Frau in Grau alles andere als komisch war. Sie ging auf Beate zu und nahm sie spontan in den Arm.

"Kindchen, der Mann ist Künstler! Die hat man nie für sich allein, lassen sie es sich gesagt sein! Aber was ist das denn? Ist das nicht ein Ehering?" 

"Ja", schniefte Beate. 

Ach Gott, Jasper ... 

Mein Gott - JASPER! 

Sie hatte ihm einen Brief geschrieben. Zu Haus auf dem Wohnzimmertisch stand er, an das Glas mit den Salzstangen gelehnt. Sie verließe ihn, für immer. Sie hielte seine Ignoranz, sein Desinteresse nicht mehr aus. Dann hatte sie den Zettel sorgfältig, Kante auf Kante, gefaltet, und in ein Kuvert gesteckt. 

Sie mußte dringend nach Hause ...

Sie sah Florentin noch einmal an, und verließ aufschluchzend die Garderobe. 

Der Bus fuhr sie fast bis vor die Haustür. Die Fahrt hatte nur 18 Minuten gedauert. In ihrem Kopf kreiste nur ein Gedanke: wie würde Jasper reagieren? Sie anschreien? Sie der Wohnung verweisen? Vielleicht hatte er schon die Türschlösser ausgetauscht? Ihre Sachen in einen Plastiksack gesteckt und vor die Haustür gestellt? Wohlmöglich saß schon eine andere Frau an seiner Seite? 

Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Ihre Hände zitterten. Ihre Lippen klebten an ihren Zähnen fest, so trocken war ihr Mund. 

Den bläulichen Widerschein des Fernsehers in ihrem Fenster hatte sie schon von der Straße aus wahrgenommen. Sie schloß zaghaft auf. 

"Da bist du ja endlich!", sagte Jasper. 
"Was tust du, Jasper?"
"Nix. Sportschau gucken."
"Hast du meinen Brief nicht gefunden?"
"Brief? Welchen Brief?"
"Der stand hier!"
"Der Umschlag? Den hab ich benutzt. Hier."

Auf dem Papier standen einige Zahlen. 

"Ein Vierer. Schade. Hätten nicht die anderen beiden auch noch richtig sein können?"


Frau von Hayn freute sich. Der Junge sollte heute entlassen werden. Sie hatte beschlossen, ihn abzuholen, und mit ihm etwas essen zu gehen. 

"Törichtes altes Weib!", schimpfte sie innerlich. 
"Der Junge ist weder mit dir verwandt noch verschwägert. Er schuldet dir nichts, und du schuldest ihm ebenso wenig. Er ist nicht dein Enkel, und du schon gar nicht seine Großmutter."

Sie hatte ihn gern. 
"Ich bin kein dummer Junge", hatte er gesagt. 
Nein, das war er nicht. Unkultiviert, verantwortungslos, verwildert. Aber das konnte man ändern. Wenn er wollte, würde sie ihn fördern, zusehen, daß aus ihm etwas wird im Leben. Und vielleicht würde er mal an sie denken. Oder auch mal einen Strauß auf ihr Grab legen, Allerheiligen, oder Totensonntag. 

"Hat die Nachtschicht sie nicht angerufen?"

Die Stationsschwester zeigte sich bestürzt. 
"Den Weg hätten sie sich sparen können. Spiridon hat sich Drogen beschafft und konsumiert. Er liegt auf der Intensivstation. - Hallo? Frau Stankovic? Gehts ihnen gut? Schön tief atmen!"

Eilends schob sie der alten Dame einen Stuhl zurecht. 
"So, hier sitzen sie hoch und trocken. Ich hole ihnen mal was zu trinken. Kaffee, Tee, Wasser?" 

Frau von Hayn hatte sich wieder gefaßt. 
"Kann ich Spiridon sehen?"

"Zwei Stockwerke höher. Aus dem Fahrstuhl raus, links, und wieder links. Ich melde sie an. Geht es Ihnen wieder besser?"

"Besser ist gar kein Ausdruck!"

Der Junge lag, überwacht mit einem Monitor, mit Infusionen und Sauerstoffsonde im Bett. Eine Schwester hatte eben die Vitalzeichen kontrolliert und in der Akte vermerkt. Der Stationsarzt genehmigte sich gerade einen Schluck Kaffee im Dienstzimmer.
Freundlich lächelte er die alte Frau an.

"Ihr Enkel?"
"Äh, ja. Mein Enkel. Sagen sie bitte, Herr Doktor, wie ist das passiert?"
"Nun, wir denken, er hat Besuch gehabt, der ihm das Giftzeugs mitgebracht hat."

"Hätte man das nicht verhindern können?"
"Dafür reicht unser Personalschlüssel nicht aus. Und wenn die Jungs etwas wollen, dann bekommen sie es auch, das versichere ich ihnen! Seine Chancen, hier Stammkunde zu werden, sind sehr hoch."

Frau von Hayn sah ihn fragend an.

"Glauben sie mir, meine Dame. Früher oder später kommen sie alle wieder. Aus diesem Kreis herauszukommen, schaffen nur ganz wenige. Hoffnungslos."

Elisabeth Freifrau von Hayn richtete sich auf. 
"Die Bedeutung des Wortes 'hoffnungslos' ist mir fremd. Ich werde kämpfen!"

Der Stationsarzt zuckte mit den Schultern.

"Es ist gar nicht so einfach, einem Stachelschwein einen Scheitel zu ziehen."



Lukas stand, lediglich mit T-Shirt und Boxershorts bekleidet, barfuß in der Küche und schüttete eine großzügigen Schuß Barolo in die Gulaschsuppe. Er hatte für Korbinian und sich selbst diesen Imbiß zubereitet, da dem zum Essen keine Zeit geblieben war, und er, Lukas, es haßte, allein zu essen, wohlmöglich vor laufendem Fernseher. 

"Wie war das Stück?"

Korbinian sah Lukas fragend an, dann begriff er. 

"Das war kein Stück. Ein Rezitations- und Leseabend. Sehr gut. Wunderbare Stimme, großartige Interpretation. Sehr attraktiver Mann. Also, für meinen Geschmack."

"Aha?"
"Was, aha!"
"Ich meine nur ..."
"Soso."
"Du machst mich wahnsinnig mit deinen Ahas und Sosos. Dummkopf."

Er nahm Lukas in den Arm und drückte ihn zärtlich. 

"Das duftet! Köstlich! Laß uns die Suppe vernichten!"
In diesem Moment klingelte es an der Tür.

"Es ist halb Elf! Wer kann das noch sein, um diese Zeit?"

Korbinian blieb gelassen. 

"Vielleicht ein seelischer Notfall in der Gemeinde? Ich schau mal nach!"

Er begab sich zur Eingangstür des Pfarrhauses und öffnete.

"Guten Abend, Hochwürden!"

"Mama, Papa ... was macht ihr denn hier?"
"Ist das eine Art, seine Eltern zu begrüßen? Papa hat morgen in der Früh einen Termin auf dem Landratsamt, irgendwas wegen der neuen Umgehungsstraße, und ich habe eine Woche Ferien! Und da haben wir gedacht ... sag mal, das riecht ja besonders gut! Da hat deine Frau Stanglmair sich aber selbst übertroffen!" 

Korbinians Mutter drängte unaufhaltsam in Richtung Küche. 
"Hast du schon gegessen, Liebling? Ich gebe zu, einen kleinen Happen könnte ich schon vertragen, nach der langen Fahrt! Auf der A 9 war mal wieder ein Stau ... oh!"

Das 'Oh' signalisierte dem Pfarrer, daß Gefahr im Verzug war. Er versuchte, die Situation zu retten.
"Mama, Papa, darf ich vorstellen: das ist Herr Wild. Ein - guter Freund. Eigentlich ... ein Studienkollege. Er übernachtet hier."

Frau Heydenreich sah mißtrauisch von einem zum anderen. Generationen von Schülern hatten ihr mehr oder weniger glaubhafte Geschichten von verschwundenen Schulheften oder plötzlichen Erkrankungen erzählt. Sie war es gewohnt, Nebelkerzen unmittelbar als solche zu entlarven. 

"Sie sind Pfarrer, Herr Wild? Gelobt sei Jesus Christus!" 
"Ja, genau", stotterte Lukas.
"Ehre sei Gott in der Höhe."
Das kannte er aus der Weihnachtsgeschichte.

Herr Bürgermeister Heydenreich räusperte sich. Er schien unangenehm berüht. Immerhin hätte die korrekte Antwort lauten müssen, 'In Ewigkeit, Amen.'
"Vroni, ich denke, wir sollten nicht länger stören. Die Herren haben bestimmt etwas Wichtiges zu besprechen."

Der Blick von Veronika Heydenreich verhieß nichts Gutes. Der Freund ihres Sohnes, der in denkbar knappem Textil in der Küche stand, kochte, und mit Sicherheit kein Pfarrer war; ihr Sohn selbst, der verlegen und unsicher am Waschbecken lehnte ... 

"Ja, wir sollten gehen, Quirin. Wir sollten gehen ..." 


Nach dem Gespräch mit dem Stationsarzt hatte sich Frau von Hayn an Spiridons Krankenbett begeben. Sie zog einen Stuhl heran und nahm Platz. Melancholisch betrachtete sie sein Gesicht. 

Was für eine Verschwendung!

Der Junge war 18. Am Beginn seines Lebens. Er war jung. Er war schön. Wenn er morgens aufstand, schmerzten weder Rücken noch Knie. Seine Haut war fein, die Haare fest, die Augen glänzend. 

Jugend war schön. Junge Menschen mußten nicht mal schön sein, um schön zu sein. 
Zudem war er humorvoll und intelligent. Warum nur versuchte er, sein Leben in dieser lächerlichen Weise zu gefährden?

Frau von Hayn haßte Verschwendung.

Sie ergriff seine Hand, die kraftlos unter der Bettdecke hervorlugte. Offenbar hatten die Ärzte und Pfleger versucht, zunächst hier in aller Eile eine Plastiknadel in die Vene am Handrücken zu spießen, was aber mißlungen war und in einem bläulichen Bluterguß endete. 

Sie umfaßte seine Hand mit den ihren, wie man einen kranken Vogel umgreift, den man schützen möchte. 

In diesem Moment blinzelte der Patient, dann öffnete er langsam die Augen. Es dauerte einen Moment, bis er seine Besucherin erkannte und der Situation zuordnen konnte. Er lächelte angestrengt.

"Ich hab Scheiße gebaut, oder?", stieß er heiser hervor.
"Das ist nicht wirklich die Sprache, die ich zu verwenden pflege, aber in diesem Fall ... ja, große Scheiße! Und damit wir ganz klarsehen: ich bin sehr ärgerlich, und sehr enttäuscht."

An der Glastür erschien, in grüner Dienstkleidung und weißem Kittel, der Stationarzt.

"So, meine Dame ... das sollte an Besuchszeit zunächst ausreichen. Kommen sie gern morgen wieder! - Ja hallo! Wir sind ja aufgewacht! Das muß an ihnen liegen!"
"Ich wünschte, Herr Doktor, daß ich ihn in jeder Hinsicht aufwecken könnte."

Die Frau Doktor war heute wieder die Alte, Gottseidank. Die Arbeit lief wie am Schnürchen. Kein Patient wartete länger als dreißig Minuten. Die Ärztin segelte mit Bravour durch die Behandlungsräume und tat Gutes. Dabei wirkte sie so selbstverständlich und entspannt, daß niemand das Entsetzen über die Verletzung, die ihr kürzlich beigebracht wurde, bemerkte. Sie hatte Demeter fortgeduscht, aus ihren Haaren herausschamponiert. Sie verbarg ihre Blässe und die Trauer in ihren Augen durch ein perfektes, frisches Make-up. Sie vertrieb den Geruch dieser wunderbaren Nacht mit Ihrem Lieblingsparfum, das sich durch eine ausgeprägte Sandelholznote auszeichnete. 

Und sie betäubte ihre Gefühle durch die Arbeit. Hier war sie perfekt. Anders als im realen Leben, dachte sie voll Bitterkeit. Hier suchten die Menschen sie auf, und verließen sie nicht. 
Sie wollten gesunden, Sie benötigten Hilfe. Für die war sie kein Spielzeug, das, weil es neu ist, kurz im Mittelpunkt steht, um dann achtlos in eine Kiste geworfen zu werden, zu dem anderen benutzten Sachen.

Wenn sie ganz tief in sich hineinhorchte, fiel ihr der nette Junge ein, den sie im Studium seiner Freundin ausgespannt hatte. Seine Freundin hatte derart unter der Trennung gelitten, daß sie durch das Staatsexamen fiel. Und sie selbst fand nichts dabei, den Jungen in die Wüste zu schicken, als sie entdeckte, daß sie auch Frauen lieben konnte. Aber das war ja nun etwas völlig anderes. 

Nie hatte sie andere Menschen im Unklaren über ihre Bedürfnisse oder Gefühle gelassen. Sie war geradlinig. Ehrlich. Gnadenlos ehrlich. 

Nein. Das war anders. Ganz anders.

Die nächste Patientin war diese lästige pensionierte Krankenschwester aus der Seniorenwohnanlage. 

"Guten Tag, Frau Kipp, was hat sie denn zu mir geführt?"
"Fräulein Kipp, bitte. Fräulein Kipp, werte Frau Doktor!"
"Sehr schön, Fräulein Kipp. Und? Was bedrückt sie?"
"Heute morgen hatte ich Blut im Urin!"

Die Ärztin bemühte ihren Computer. 
"Ah ja, da ist ihr Urinbefund. Das sieht mir ganz nach einem Harnwegsinfekt aus, Frau ... nein, Fräulein Kipp. Ich schreib ihnen hier mal was auf ... Morgens und abends nach den Mahlzeiten jeweils eine Tablette, dann ist das schnell wieder in Ordnung!"

"Muß ich nicht geröntgt werden? Oder wenigstens Ultraschall?"
"Das überlegen wir, wenn sie in 14 Tagen zur Kontrolle kommen, einverstanden? Lassen sie sich von meiner Helferin gleich einen Termin mitgeben!" 



Tristan warf ungeduldig den Stift in die Ecke. Die Agentur hatte ihm den Auftrag gegeben, ein neues Waschmittel zu bewerben. 

"Etwas retro, Familie, Erinnerung an vergangene Zeiten, rührender Kitsch eben. Es geht auf Weihnachten zu!"

Das hatte sein Chef zu ihm gesagt.  

Rührender Kitsch. Fast so war seine Kindheit gewesen, heiter und unbeschwert. Er war ja der Kleine. Die Erwartungen der Eltern lagen auf Hagen. Hagen war stark, tüchtig, beliebt. Hagen mußte immer alles hinbekommen. Er nicht. 

Er war niedlich, und fragil, und entzückend altklug. Aber er wurde auch nieder voll genommen. Ein durchaus fragwürdiges Glück. 

Und dann kam dieser Tag, an dem er erwachte und fühlte, daß etwas anders war. Er wollte aufstehen und konnte nur den rechten Arm benutzen, um sich hochzuziehen. Ihm war schwindelig, dunkle Flecken tanzten vor seinen Augen. Sein linkes Bein spürte er überhaupt nicht mehr, bis auf ein Kribbeln. Vielleicht war es eingeschlafen? Aber als er versuchte, sich hinzustellen, hatte es ihm den Dienst versagt. Und die Worte, die in seinem Kopf entstanden, konnte er nicht mehr aussprechen.

Und dann das Krankenhaus ... 

Trotz Reha und Physiotherapie war ihm die Gangunsicherheit geblieben. Und nicht nur diese Unsicherheit. Er war nicht mehr niedlich. Er war nicht mehr der nette, kleine Junge. Er war behindert, unvollkommen, sich und anderen eine Last. Eine Enttäuschung für seinen Vater. Seine Mutter machte ihn wahnsinnig mit ihrer Überfürsorge.

Ein Mädchen hatte sich für ihn interessiert. Er solle zugreifen, bevor sie sich's anders überlegte, meinte sein Vater. Eine große Auswahl hätte er nicht, als Krüppel. Da müßte man nehmen, was man kriegen könnte. 
Sie hatten geheiratet, und er machte seinen Vater zum Opa. 

"Wenigstens das hast du hinbekommen", hatte sein Vater gesagt.
"Wenigstens das." 

Er hätte ihn lieber schlagen sollen.

Aus dem Gefühl der Wertlosigkeit heraus hatte er beschlossen, seinem Leben ein Ende zu setzen, aber er war rechtzeitig gefunden worden. Die Schlaftabletten hatten ihn müde gemacht, aber nicht getötet. 

"Etwas retro, Familie, Erinnerung an vergangene Zeiten, rührender Kitsch eben. Es geht auf Weihnachten zu!"

Na gut. 

Wie wäre es, wenn ... der Duft der Wäsche einen an früher erinnerte ... Rückblende in die Kindheit ... alles klar und hell und weiß vor blauem Himmel? 

Man hörte nur noch das Kratzen des Stifts auf dem Papier. 



"Was war das denn?", fragte Lukas grinsend.
"Mach dich nicht lustig, bitte. Mir ist nicht zum Lachen zumute." 

Korbinian sah verzweifelt aus. 

"Früher oder später mußte es ja mal so weit kommen, Korbi. Vielleicht ist es besser so. Diese Geheimniskrämerei - ich denke, man sollte seinen Eltern vertrauen!"
"Da kann man es mal wieder sehen. Du hast keine Ahnung. Leider. Den Eltern zu vertrauen, ist das eine. Meinen Eltern zu vertrauen, ist ganz und gar unmöglich. Für meine Eltern war immer nur wichtig, was andere Leute dachten. Meiner Mutter aus Gründen der Eitelkeit, meinem Vater als Lokalpolitiker. Ein schwuler Sohn kostet Wählerstimmen, wenigstens auf dem Land. Verdammt!"

"Aber, aber, Hochwürden!" 
Lukas machte einen Schritt auf ihn zu. Korbinian  schüttelte den Kopf. 

"Ich weiß, daß du es gut meinst. Aber laß mich gerade mal in Ruhe." 

Lukas blickte ihm traurig in die Augen.

"Ich bin im Wohnzimmer, wenn was ist, ok?"



"Der Mensch, vom Weibe geboren, lebt kurze Zeit und ist voll Unruhe, geht auf wie eine Blume und fällt ab, flieht wie ein Schatten und bleibt nicht."

Es ist jedesmal aufs Neue furchtbar, an einem offenen Grab zu stehen, dachte Elisabeth von Hayn. Auch wenn man sich im Lauf der Zeit daran gewöhnte. Aber es war nun mal das einzig Endgültige im Leben. Ein Abschied ohne Wiedersehen. 

An die Geschichten vom Paradies und ewigem Leben und eventueller Wiedergeburt hätte sie gern geglaubt, aber hielt sie letztlich für ein beruhigendes Märchen. Tot ist tot. Das hatte ihre Großmutter schon gesagt. 

"Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub."

Pfarrer Heydenreich spulte aber wirklich sein komplettes Repertoire ab. Der Herr dort hinten, das mußte der Sohn des Verstorbenen sein. Onno, hieß er. Das hatte der Kapitän ihr einmal erzählt. Er wirkte merkwürdig nervös, sein Blick flackerte und ging immer wieder zu dem Geistlichen hinüber. Das schmallippige blonde Gift daneben vermutlich dessen Gattin. Schön, daß doch ein paar Leute gekommen waren, um Eddo Jonte Kruskopp die letzte Ehre zu erweisen. 

Die laute Krankenschwester hatte sich, zur Verwunderung aller, beim Trauerzug von der Kapelle  bis zum Grab direkt hinter die Kinder des Verblichenen nach vorn gearbeitet. 

Dabei war sie, Elisabeth von Hayn, seine Nachbarin und Vertraute gewesen. Ja, seine Freundin, sogar. Immerhin hatte sie Verdacht geschöpft, daß etwas nicht in Ordnung war, nachdem er sich einen halben Tag nicht hatte blicken lassen. 

Und als der Hausmeister die Tür öffnete, hatte sie ihn gefunden. Er war offenbar ganz friedlich im Schlaf gestorben. Ohne Kampf. Ohne Angst. Ohne Schmerzen. Seine ehemals rosige Gesichtshaut war purpurfarben, seine Lippen schimmerten bläulich.

Ob irgendjemand hier wußte, daß er nicht schwimmen konnte und wasserscheu war? Egal. Sein Geheimnis war bei ihr gut aufgehoben.

" ... im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen!"

Der Korbinian Heydenreich machte das Kreuzzeichen. Onno trat gesenkten Kopfes heran und warf mit einer kleinen Schaufel Erde in das Grab seines Vaters. Er wunderte sich darüber, warum dieser im Testament eine Seebestattung ausdrücklich nicht gewünscht hatte. Aber wenn es dann sein letzter Wille war ... er sah kurz den Pfarrer an, dann seine Frau, dann wandte er sich zum Gehen.

"Herr Kruskopp, hätten sie noch eine Minute?! Bitte?"

Onno nickte fahrig.

Frau von Hayn war geflohen. Sie haßte das Geräusch, mit dem Erdbrocken auf den Sargdeckel fielen. 

"Na, Frau Kipp, ist es besser geworden?"
"Fräulein Kipp, bitte, Frau Doktor. Fräulein Kipp."
Verflixt. 
"Ah, ja. Fräulein Kipp, ist es besser geworden?"
"Keine Ahnung. Es hat ja auch vorher nicht weh getan. Aber das Blut ist weg!"
"Na also! Wir können noch einmal kurz mit dem Ultraschallgerät draufschauen!"

Die pensionierte Krankenschwester streckte sich auf der Untersuchungsliege aus. Heide platzierte einen Klecks Gel auf ihrem Unterbauch. 
"Na so ein ein Ärger", schimpfte sie.
"Ihre Blase ist ja lotterleer!"
"Ach was! Was heißt das?"
"Daß man ihr Innenleben nicht sicher beurteilen kann. Das holen wir irgendwann mal nach, wenn sie einverstanden sind!"

Frau ... nein, Fräulein Kipp war einverstanden. 

"Das war eine ziemliche Überraschung, oder?"
"Du darfst niemandem was verraten, bitte. Versprich mir das!"
"Wofür hältst du mich? Ich habe so etwas wie Schweigepflicht!"
"Gilt das auch für derartige Kontakte?"
"Wie, 'derartig'? Wie waren beide über 18, oder?"
"Ja, schon. Aber ich war da schon mit Desirée zusammen."
"Es war doch schön mit uns, fandest du nicht?"
"Ja, schon ... ich vermiß dich ja auch! Aber Single bist du auch nicht mehr, soweit ich weiß!"
"Ja, stimmt. Eigentlich schade ... ich finde dich immer noch ziemlich geil ..."
"Trägst du eigentlich was unter diesem Ding da?"
"Das ist kein Ding. Das ist eine Soutane. Meine Dienstkleidung."
"Egal. Macht mich total an, wenn ich mir vorstelle, daß du darunter ..."
"Onno!"



Vom Friedhof war Frau von Hayn nicht nach Hause, sondern direkt ins Krankenhaus gefahren. Der Betreuer, der Stationsarzt und auch der klinische Psychologe hatten um Ihren Besuch gebeten.

Sie wurde schon erwartet.

"Bitte hier hinein", kommandierte heiter eine Krankenschwester.
"Das hohe Gericht tagt schon!"

Frau von Hayn hatte erwartet, daß auch der Junge anwesend sein würde. Um so erstaunter war sie, daß nur die drei Herren auf sie warteten. 
Diese begrüßten Sie respektvoll, indem sie sich von ihren Stühlen erhoben, der Stationsarzt rückte der Dame sogar eine Sitzgelegenheit zurecht.
"Der hier ist gepolstert, der ist etwas bequemer für sie!"

Frau von Hayn dankte würdevoll.

"Sie sind Spiridons Großmutter?"

Frau von Hayn sah dem Doktor geradlinig in die Augen.

"Ich gestehe. Nein. Ich war dabei, als er in die Klinik kam, und wurde als Familienmitglied nicht infrage gestellt. Aber die Eltern stammen aus Serbien, sind des Deutschen wohl nur partiell mächtig, und ich glaube, der Junge möchte sie nicht zu sehr an dieser Sache beteiligt wissen. Deswegen haben er und ich die kleine Scharade aufrecht erhalten. Außerdem habe ich ihn sehr gern. Sehr gern, tatsächlich."

Der Psychologe nickte verständnisvoll.

"Ich denke, gnädige Frau, daß wir mal vergessen, daß wir diese Frage gestellt haben - wenn alle Anwesenden einverstanden sind!"

Elisabeth von Hayn, nun offiziell Großmutter, sah in die Runde.
"Wie helfen wir also dem Jungen, meine Herren?"

Man war sich einig, daß man ihn weitestmöglich aus seinem Umfeld herauslösen mußte. Eine Therapieeinrichtung auf der Insel Fehmarn schien das passende Angebot zu haben.

"Wollen wir hoffen, daß dort bald eine Gelegenheit frei wird", erklärte der Psychologe.
"Therapieplätze sind schwer zu bekommen, und die Anzahl reicht leider ganz und gar nicht aus!"
"Außerdem", ergänzte der Betreuer, "wird es noch eine ziemliche Schlacht mit dem Jugendamt und der Krankenkasse geben. Die schieben gern die Verantwortung zwischen sich hin und her!"
"Verantwortung wofür?"
"Die Kostenübernahme. Einen Teil zahlt die Kasse, das reicht in der Regel aber nicht aus!"

Frau von Hayn schüttelte sanft den Kopf.

"Meine Herren, bitte machen sie sich um entstehende Kosten keine Gedanken. Ich hatte  ... sagen wir mal ... ein teures Hobby, das ich, um mir zu beweisen, das ich es kann, nicht weiter verfolgt habe. Bevor ich in einer Behörde bei einem Beamten antichambriere, investiere ich lieber mein eigenes Geld!"
"Um so besser, wenn sie die Kosten zunächst auslegten. Aber trotzdem warne ich davor, einen Präzedenzfall zu schaffen, indem wir Amt und Kasse aus ihrer Verantwortung entlassen."

Der Stationarzt nickte befriedigt.

"Wo nun die Rahmenbedingungen geklärt sind: sollen wir Spiridon dazu holen?"

Der Junge betrat schüchtern den Raum. Er lächelte unsicher in die Runde, und steuerte die alte Dame an. 
"Oma, wie schön!"
"Gib dir keine Mühe. Wir sind aufgeflogen. Ich habe gebeichtet."

Die Erwachsenen lachten. Man erklärte Spiridon, was ihn als nächstes erwartete. 

"Ich hoffe, daß du begreifst, mein Junge. Das hier ist deine Chance. Du kannst sie ergreifen, und du kannst dies unterlassen. Die Entscheidung liegt bei dir. Du bist intelligent genug, dir über die Konsequenzen klar zu sein."

Spiridon senkte den Kopf. Die alte Dame fuhr mit ihrer Ansprache fort.

"Ich habe in meinem ganzen Leben nichts mit Drogen zu tun gehabt. Ich fühle, daß ich in eine Szene hineingezogen und, Gott bewahre, mit Menschen bekannt werde, von deren Existenz ich nur aus zweifelhaften Fernsehkrimis Kenntnis habe. Das gefällt mir nicht. 
Ich habe dich ganz außerordentlich gern, mein Junge. Aber ich werde dich als Drogensüchtigen von meinem Leben ausschließen."

Sie ging auf ihn zu. Dann fielen sie sich in die Arme. 

"Ich werde sie nicht enttäuschen."


"Mein Gott, du bist wirklich unerträglich, Florentin. Ich, ich, ich! Kannst du dir vorstellen, daß es auch mal um andere Menschen geht?"

Florentin gab sich verletzt. 

"Warum tust du mir das an, Demeter? Ich gebe dir doch all meine Liebe!"

Demeter konnte sich das Lachen kaum verbeißen.

"Deine Liebe? Deine Liebe, Florentin, ist nur dazu da, anderen zu demonstrieren, was für ein guter Liebhaber du bist. Wenn du mal etwas Nettes tust, scheinst du dich zu einem imaginären Publikum umzudrehen und auf Applaus zu hoffen! 

Aber die Geschichte ist beendet. Aus und vorbei. Nein, bitte. Kein Drama. Keiner schaut dir zu. Es sind nur wir beiden hier. Und ich habe keine Lust auf Dialoge, die sich anhören wie die Untertitel zu einer Tragödie aus Usbekistan."

Verstehe einer die Frauen! Statt sich darüber zu freuen, mit einem Star zusammen zu sein, kritisierte sie ihn auf Schritt und tritt. Er hatte ihr die Welt zu Füßen gelegt, das Blaue vom Himmel geholt ... war das denn nicht genug? 
Ach, dieser Schmerz! Er war allein. Verlassen! Dies Gefühl mußte er sich unbedingt merken, das konnte er vielleicht einmal auf der Bühne verwenden. Oder, mit etwas Glück, vor der Kamera. 

Er versuchte, zu weinen. Er schlug die Hände vor das Gesicht, und schluchzte laut auf. Das klang doch schon ziemlich echt, oder? 
Seine Augen allerdings blieben trocken, so sehr er sich auch bemühte.



"Ich halte es nicht mehr aus mit dir, Jasper! Kannst du dir vorstellen, daß ich auch Bedürfnisse habe?"

Jasper streckte ihr die Fernbedienung hin.

"Hier, wenn du was anderes sehen willst ..."

Beate wußte nicht, ob sie lachen sollte, oder weinen.

"Darum geht es doch gar nicht. Wir reden nicht. Wir leben nur noch nebeneinander her! Wir schlafen auch nicht mehr miteinander! "
"Ich dachte ..."
"Du sollst nicht denken! Du sollst mich verführen! Aufmerksam sein! Zärtlich sein! Romantisch!"
"Romantisch?"

Er sah sehr hilflos aus.

"Ach Jasper, du bist hoffnungslos. Ich denke, es wird besser sein, wenn wir uns trennen."
"Wie ... trennen?"
"Wir gehen auseinander, und sehen zu, daß wir jemanden finden, der besser zu uns paßt!"

Jasper schaltete den Fernseher aus. 

"Und wer paßt besser zu dir?"
"Der Jasper, den ich damals geheiratet habe. Der mich liebte. Der mich begehrte. Der mir manchmal Blumen mitbrachte. Der merkte, wenn ich mich hübsch angezogen hatte, oder beim Friseur war. Der aufmerksam war. Der mich wahrnahm."

"Setz dich mal hierher zu mir!"

Er klopfte mit der flachen Hand auf den Platz zu seiner Rechten. Erstaunt bemerkte sie, daß im Lichtschein der Stehlampe ein Staubwölkchen aufgewirbelt wurde. 

Er legte den Arm um sie. 

"Wann hast du morgen Schicht?"
"Spät!"
"Ich hol dich ab."
"Was hast du vor?"
"Wirst du dann schon sehen."
"Ich mag aber keine Überraschungen!"
"Ok!"
"Wirklich nicht!"
"Is' klar!"
"Jasper ...!"
"Ich hol dich ab. 20 Uhr. Haupteingang."
"Mach keinen Quatsch, hörst du?"
"Neee. Wie kommst du bloß darauf?"



"Onno, hör auf!"
"Jetzt hab dich nicht so! Du willst es doch auch!"
"Nein, du irrst dich!"
"Ach ja? Und was ist das? Bretthart!"
"Onno, bitte, das hier ist die Sakristei! Das geht nicht!"
"Aufregend, oder?"

Onno hielt Korbinians Kopf in beiden Händen und preßte seine Lippen auf und seine Zunge gierig in dessen Mund. Korbinians Widerstand wurde schwächer. 
"Du bist so geil, Korbi", flüsterte Onno, mit dem Zeigefinger die Kontur von den Lippen des Pfarrers nachzeichnend. 
"Und warum hast du Desirée geheiratet?"
"Wegen der Leute. Und ich wollte Kinder." 
"Ja, das ist natürlich ein Grund!"
"Sei nicht so giftig!"

Mit einer Handbewegung wischte Onno die Gegenstände vom Tisch, der in der Sakristei stand. Er drückte Korbinians Oberkörper bäuchlings auf die Tischplatte und schob dessen Gewand hoch. 

Er löste erst seinen, dann Korbinians Gürtel ...




"Der Nächste, bitte!"

Die Helferin lotste die Patientin aus dem Wartezimmer in die Ordination der Ärztin. 
"Nehmen sie schon mal Platz, Frau Frei, die Frau Doktor kommt gleich!"

Frau Frei dankte höflich und tat, wie ihr geheißen.

Sie sah sich um. Ein wirklich schickes, modernes, und vor allem, helles Sprechzimmer. Eine Untersuchungsliege, eine Vitrine, in der sich einige Vasen, Teller, kunstgewerbliche Gegenstände zweifelhaften Geschmacks befanden, ein Regal mit medizinischer Fachliteratur, und ein wuchtiger Schreibtisch, dessen Arbeitsplatte aus dickem Glas bestand. Auf dieser befanden sich ein kleiner Stapel Papier, ein Blumentopf, Hydrokultur, mit einer Wachsblume, ein Telefon und der unvermeidliche Bildschirm mit Tastatur. An der Wand neben der Eingangstür hing ein goldener Rahmen, der einen Text umgab. Bei näherer Betrachtung entpuppte sich dieser als der hippokratische Eid. 

Sehr geschmackvoll. Wenn sich überhaupt eine Farbe hervorwagte, zeigte sie sich in hellstmöglichem Pastell. Alles erschien abwaschbar, praktisch und keimfrei. 

Frau Dr. In den Birken betrat den Raum. Sie verlor keine Sekunde lang die Fassung. Wozu auch. Sie wußte ja, wer sich hinter der Tür befand. Sie blieb, wie sie immer war: wohltemperiert, sachlich, emotional abgeriegelt. 

"Ich beneide dich um deine Haare, Heide! Die machen dir morgens bestimmt kaum Arbeit!" 

Heide In den Birken bestätigte das. 

"Nur waschen, frottieren, Kopf schütteln. Sehr praktisch. - was kann ich denn für dich tun?"

"Kannst du dir bitte mal etwas ansehen? Ich hab da so ein komisches Problem mit meiner rechten Brust!"

Die Brustwarze war verhärtet und eingezogen, und als die Ärztin sie mit einer weißen Kompresse betupft hatte, sah man auf dem Gewebe eine Spur blutigen Sekrets. 

"20 Prozent", murmelte Heide. 
"Wie bitte?" 
"Das Auftreten von Tumoren in der Brust. 50 Prozent im oberen äußeren Quadranten, 20 im Bereich der Mamille, und jeweils 10 Prozent in den drei restlichen Quadranten."
"Das ist interessant, wirklich. Bist du dir sicher?"

Heide In den Birken schaute die Frau mit den kupferroten Haaren an.
"Ich hab da keinen Zweifel. Aber wir müssen die Diagnose erhärten. Meine Helferin besorgt dir noch heute einen Termin zur Mammografie. Komm bitte morgen mit den Bildern. Du mußt sicher zügig operiert werden. - Frau Meier? Könnten Sie bitte bei Frau Frei noch Blut abnehmen? Blutbild, Leberwerte, Tumormarker. Das Übliche, eben!" 
"Du bist ein Profi", staunte Demeter Frei. "Kein überflüssiges Wort."

Heide konnte nicht widersprechen. 

"Wir können jetzt tagelang Zeit mit Jammern und Beschönigen vergeuden. Aber dann läuft uns die Zeit weg", entgegnete sie kühl.
"Ich bin eher dafür, die Arbeit anzugehen und das Problem zu beseitigen."

"Verfährst du so mit allen Problemen?"
"Selbstverständlich!"

Demeter erhielt den gelben Überweisungsschein zum Röntgen. Die Helferinnen in der Radiologischen Praxis hatten etwas gejammert, dann aber doch noch einen Termin am späten Nachmittag herausgerückt.


Das Mädchen sah entzückend aus. 

Ihre frühen Kinderjahre hatte er verpaßt, leider. Aber in der letzten Zeit hatte sich häufiger eine Gelegenheit ergeben, das Kind zu sehen. Seine Ex-Frau, die früher eifersüchtig darüber gewacht hatte, daß Leonie keinen allzu intensiven Kontakt zu ihrem Vater aufbaute, hatte mit dem Erwachsenwerden der Tochter immer weniger ihren Einfluß geltend machen können.

Das Kind ... Er schmunzelte. Sie war kein Kind mehr. Sie war eine junge, schöne Frau, modisch-leger gekleidet, wie es den jungen Leuten eben so gefiel, die blonden Haare glatt, und mit dezentem Make-up. So fand Tristan seine Tochter, an einem Tisch im Eiscafé sitzend, vor.

"Hast du schon bestellt, Leo?"
"Noch nicht! Was hältst Du von einem Schokoladentraum?"
Tristan hob abwehrend die Hände.

"Du kannst dir das leisten. Aber das Ding hat bestimmt zehntausend Kalorien! Ich muß etwas achtgeben, ich beweg mich ja nicht mehr so viel!"

Sie bestellten für die junge Dame den Schokotraum, Tristan gab sich mit einem Kaffee zufrieden, in dem, gekrönt von etwas Sahne, eine Vanilleeiskugel schwamm.

Er schaute seine Tochter an. 
"Wenigstens das hast du hinbekommen. Wenigstens das", höhnte eine Stimme in der Ferne. Genau, ja. Dieses strahlende, fröhliche Geschöpf. Meine Tochter. Meine geliebte, wunderbare, schöne Tochter. Diese junge Frau, die mir gegenüber sitzt, mich anstrahlt, und 'Papa' zu mir sagt. Auf die ich stolz bin, und nach der ich Sehnsucht habe, wenn sie fort ist. In deren Augen Sterne funkeln, und Hoffnung...

"Papa? Papa? Hörst du mir überhaupt zu?"
"Natürlich, Leonie. Natürlich höre ich dir zu."
"Und? Was hältst du davon?"
"Wovon?"
"Ha! Wußt' ich's doch! Du hast nichts mitbekommen, oder? Also nochmal: ich hab ein Stipendium für Harvard bekommen! Was sagst du? Freust du dich? Freu dich doch bitte!"
"Harvard? Die Universität? Aber das ist doch Amerika!"
"Donnerwetter, Papa", feixte seine Tochter. 
"Du kennst dich richtig gut aus!"

Tristan ergriff ihre Hände. 
"Natürlich freue ich mich. Für dich. Du hast schon immer Politik studieren wollen ..."
"Das tolle ist, daß ich mich in den ersten Semestern noch gar nicht festlegen muß! Ich habe noch Englisch und Mathematik belegt", unterbrach sie ihn aufgeregt.

"Ja, aber du bist dann doch so weit weg!"
"Wir skypen einfach, ja? Dann merkst du das gar nicht!"

Ja, so war das eben. Und es war ja auch gut so. Er empfand Trauer darüber, daß das Mädchen, an dessen Leben er nur für kurze Zeit Anteil haben durfte, in ein eigenes Leben aufbrach. Aber er war auch stolz. Sehr, sehr stolz.


Eigenartig. Man denkt immer, daß, wenn man einer Katastrophe gegenübersteht, man in irgendeiner Form reagiert. Schreit vor Entsetzen, zum Beispiel. Um sich schlägt. Etwas nimmt und zerschlägt. Irgendeine Form der Entladung, wenigstens. 

Aber daß man, wie gelähmt, erstarrt, sprachlos das Ungeheuerliche betrachten würde ... damit hatte Desirée Kruskopp nicht gerechnet. Ihr Gatte hatte noch etwas mit dem Pfarrer besprechen wollen, nach der Beerdigung ihres Schwiegervaters. Sie hatte noch ein paar Beileidsbekundungen entgegengenommen, und war dann auf die Suche nach Onno gegangen. Ein Diakon wies ihr den Weg zur Sakristei, die sie durch die nur angelehnte Tür vorsichtig betrat. Sie hatte heftiges Stöhnen wahrgenommen und befürchtete, es könnte vielleicht jemandem unwohl geworden sein.

Das Bild, das sich ihr bot, hatte sie so nicht erwartet. 

Die beiden Herren erschraken und ließen voneinander ab. Hastig restaurierten und komplettierten sie ihrer Garderobe. 

"Es ist anders, als es aussieht, Desirée", flehte Onno.

Komisch. Sie blieb völlig ruhig. Keine Wut. Kein Ärger. Leer. Einfach leer. 

"Gewiß. Der Pfarrer wollte nur den Schreibtisch verrücken, und du hast ihm beim Schieben geholfen, oder, Onno?"

Sie wandte sich zum Gehen. 
"Geh nicht so, Desirée. Laß uns reden. Ich erkläre dir alles."

"Ja, das befürchte ich auch ... Laß gut sein, Onno. Ich bin hier überflüssig."

Onno sah sie nie wieder. Als er nach Hause kam, hatte sie bereits die Wohnung mit dem Nötigsten verlassen. Auch beim Scheidungsprozeß ließ sie sich von ihrem Anwalt vertreten.

"Gegen eine andere Frau hätte ich kämpfen können", hatte sie ihrer besten Freundin, der sie sich anvertraut hatte, erklärt.
"Aber was tut man gegen einen anderen Mann?"



Demeter saß im Wartezimmer des Radiologen und füllte einen endlos scheinenden Fragebogen aus. Welche Krankheiten sie gehabt hätte, welche Medikamente sie einnähme, welche Allergien bei ihr bekannt seien. 

Krank? Sie war doch nicht krank! Krank war, mit Schnupfen und Fieber und Kopfschmerzen im Bett zu liegen, schwer Luft zu bekommen. Übelkeit und Erbrechen, Durchfall, juckende Hautausschläge. Das war krank. Bei ihr wuchs nur etwas, was da nicht hingehörte. Ein Mitbewohner. Ein Schmarotzer. Ein übler Geselle, der nichts Gutes im Schilde führte. Man mußte ihn entfernen, und das war's. 

Das würde schon wieder werden. Bisher hatte sie noch jede Widrigkeit im Leben bestanden. Einzig Hestias Tod ... unwillkürlich griff sie nach der Kette an ihrem Hals. Sie hatte ihrer kleinen Schwester gehört, und sie legte sie niemals ab. Ohne sie hätte sie sich schutzlos gefühlt, verloren. Sie war das Symbol ihres Lebens, ihrer Kraft. 

Nein, alles würde wieder gut werden. Kanada war schon gebucht, Ontario diesmal, den Westen hatte sie schon abgegrast. Komisch. Diese Lücke auf ihrer Landkarte hatte sie kürzlich entdeckt, und war erstaunt, daß sie hier noch nie gewesen war. Malaysia, Goa, Hawaii, Süd-Afrika. In Australien von Atherton nach Perth getrampt. Mit der Transsibirischen Eisenbahn gereist, und dem Blue Train in Südafrika. Japan ... mein Gott, hatte sie einen Schreck bekommen, als in Tokio plötzlich die Erde bebte! China, Südamerika. In den USA keinen Staat ausgelassen. Und dann fehlten ihr die Niagarafälle. Erstaunlich.

Sie war vielen wunderbaren und weniger wunderbaren Menschen begegnet, Frauen und Männern. Sie hatte ihre sinnliche Begier gestillt ... für den Moment. Aber das, was sie suchte, hatte sie nirgendwo gefunden. Bisher jedenfalls nicht. 

Egal. Das würde sie schon noch.

"Frau Frei, bitte?"
"Ja?"
"Kommen sie einmal mit mir, bitte? Ich gehe mal voraus, wenn sie erlauben!"

Die MTA war mit professioneller Freundlichkeit begabt. 

"So, bitte einmal hier hinein, die Tür bitte verriegeln, den Oberkörper freimachen und alles Metallene ablegen. Wir öffnen gleich die Tür auf der gegenüberliegenden Seite!"

Für ihre Verhältnisse ungewohnt scheu hatte Demeter die Arme über der Brust verkreuzt. 

"Entschuldigung, Frau Frei, aber sie müssen wirklich alles Metallene ablegen, auch die Halskette."
"Aber ich ..."
"Es muß sein. Sonst können wir die Aufnahmen nicht machen. Keine Angst, es passiert schon nichts. Wenn sie wollen, verwahre ich das Kettchen persönlich!"

Widerstrebend trennte Demeter sich.

"Du hast was?"

Lukas hatte der Erzählung seines Mannes ungläubig zugehört. Seine Augen füllten sich mit Tränen. 

"Ist es meine Schuld? Bin ich dir zu langweilig? Ich meine, wir sind seit mehr als zehn Jahren zusammen. Da ist der Sex nicht mehr so prickelnd. Die Gefühle nutzen sich ab ..."

"Rede bitte nicht so, Lukas. Der Arsch bin ich, ganz eindeutig. Ich habe das auch nicht gesucht, wirklich nicht. Aber Onno hat Gefühle in mir geweckt, von denen ich gar nicht wußte, daß ich sie habe! Das war wie ein Rausch! Ich kann es mir selber nicht erklären! 
Und mehr noch: es hat mir nichts bedeutet. Außer Geilheit war da nichts. Kein Gefühl. Nicht mal ansatzweise. Nur Hormone. Ich wollte, ich könnte es ungeschehen machen, Lukas. Du bist der, den ich liebe. Niemand sonst."

"Weißt du, Korbi: das glaub ich dir sogar. Aber es tut mir trotzdem weh. Laß mir bitte Zeit. Ich muß damit erstmal klarkommen."

"Willst du irgendwohin? In ein Hotel? Ich zahle es dir!'
"Nein, schon gut. Laß mich einfach in Ruhe. Du, ich geh mal ins Fitnessstudio. Warte nicht auf mich. Es könnte spät werden!
Ach, auf dem Tisch im Flur liegt Post. Ich glaube, ein Brief kommt von deinen Eltern."

"Ich pinkele schon wieder Blut, Frau Doktor. Das kann doch nicht normal sein!"

Friedel Kipp stand vor ihrer Hausärztin in sah unzufrieden aus.

"Frau Kipp, ich schreibe ihnen noch einmal die Tabletten von letzten Mal auf, ja? Die hatten ja geholfen, und die hätten sie doch auch gut vertragen, oder?"
"Bitte 'Fräulein' Kipp, Frau Dr. In den Birken. Und ja, vertragen hatte ich sie, aber so langsam bekomme ich Angst! Da muß doch mehr sein. Ich möchte eine Überweisung zum Röntgen!"
"Ich glaube, das wird nicht notwendig sein. Hatten wir schon den Ultraschall ... ach ja, die Blase war leer! Gut, den wiederholen wir noch einmal, diesmal dann aber mit voller Blase!"

"Ich hab mal im Internet recherchiert. Auf Fehmarn ist Totentanz! Nix los! Keine Disco, nix! Schwimmen, Angeln und ein Kino in Burg! Tödlich!"
"Genau das richtige für dich, Spiridon, glaub mir. Wenn wir uns wiedersehen, bist du ein anderer Mensch. Nimm dir was zu lesen mit."
"Nee, ich les nicht so gerne. Lieber meinen iPod, und mein Handy!"
"Meinst du, daß du die in der Therapieeinrichtung behalten darfst?"
"Auch wieder wahr! Na gut. Ich mach das mit dem Buch. Erstaunlich, was der menschliche Körper so alles aushält!"

Frau von Hayn kräuselte belustigt ihre Lippen.

"Sagt der Junge, den Drogen beinahe getötet hätten!"
"Ist ja gut! Und ist ja auch nur für 6 Wochen. Rufen sie mich mal an?"
"Rufst du mich mal an?"
"Klar, Mensch!"
"Dann überlege ich es mir!"

Lukas hatte die Tür leise hinter sich ins Schloß fallen lassen. 

Korbinian fühlte sich leer. Völlig ausgebrannt, erschöpft, überfordert. Er war ein dummer Trottel. Er hatte den besten Menschen der Welt darum gebeten, mit ihm gemeinsam durch das Leben zu gehen. Und nun, auf halber Strecke, ließ er ihn im Stich. Das könnte er nie wieder gutmachen. Vielleicht, mit der Zeit, wurde der Schmerz, den er Lukas zugefügt hatte, erträglicher. Aber er hatte das Vertrauen zerstört, in wenigen Minuten, was sie zwölf Jahre, einen Monat und drei Tage lang aufgebaut hatten. Hoffentlich konnte sein Mann ihm vergeben, irgendwann.

Er öffnete den Umschlag, auf dem in der Handschrift seiner Mutter sein Name prangte.

Er mußte diesen Brief zweimal lesen. Und gleich noch einmal. Erst verstand er ihn nicht. Aber langsam wurde ihm klar, welche Ungeheurlichkeit er enthielt. 

Er habe den Schlüssel zum Elternhaus zurückzugeben. Man lege auf sein Erscheinen im Heimatstädtchen keinen Wert mehr. Und man enterbe ihn. Gottlosigkeit müsse bestraft werden. 

"Leviticus, aha. Der übliche Scheiß!"

Er beschloß, das Brustkreuz, das seine Mutter ihm zur Priesterweihe verehrt hatte, dem Schlüssel beizulegen.

Nun gut. Zeit, reinen Tisch zu machen. Er hatte für übermorgen seine Predigt vorzubereiten. Lukas 17, 3-4. "Seht euch also vor! Wenn dein Bruder sündigt, weise ihn zurecht, und wenn er sein Unrecht einsieht, vergib ihm. Selbst wenn er siebenmal am Tag gegen dich sündigt und siebenmal wieder zu dir kommt und sagt: 'Ich will es nicht mehr tun', sollst du ihm vergeben."

Na klar. Lukas-Evangelium. 

Er setzte sich und begann, zu schreiben.




"Wer spricht da bitte? Was sind sie? Agent? Was für ein Agent? Geheimagent? Hahaha! - Oh ...!"

Die Verbindung war wirklich lausig. Irgendwas schien mit dem Satelliten nicht zu stimmen, der das Gespräch von dem einen auf das andere Mobiltelefon leitete. So schlecht waren doch die Verbindungen aus London sonst nicht! 

Was der Anrufer zu sagen hatte, lag so weit entfernt von dem, was Florentin erwartet hatte, daß dieser vor lauter Überraschung keinen vernünftigen Satz zustande brachte. Irgendwie konnte er es dem Herren am anderen Ende der Leitung begreiflich machen, daß er sich für Verpflichtungen und Angebote bitte an seine Künstleragentur wenden solle. 

Nachdem das Gespräch beendet war, hielt Florentin sich an einer Straßenlaterne fest. Alles drehte sich. Er befürchtete, das Bewußtsein zu verlieren. Gab es hier eine Bank? Er hätte sich gern gesetzt. Natürlich nicht. Da, die Treppe. Er ließ sich auf den Stufen nieder. Mit zitternder Hand tippte er auf die 1, unter der sein Agent abgespeichert war. 

"Haben die sich schon bei euch gemeldet? Nein? Dann kommt das noch. Ich habe es geschafft, Stefan. Endlich. Eine Rolle in einem Film. Eine Nebenrolle. Aber das ist ein Anfang! Hollywood, ich komme!"

Er dachte an Demeter und ihre Zurückweisung. Das würde sie bereuen. Aber an der Spitze war man eben einsam. Da war nur Platz für einen. Tja, mein Kind! Das Leben, das ich dir nun hätte bieten können, hast du nicht gewollt! Wieviel andere mochte es geben, die sich nach seiner Bekanntschaft drängten! 

"Ich muß darauf bestehen. Ich möchte die Frau Doktor sprechen!" 

Schwester Friedel Kipp ließ sich nicht abweisen. Sie hielt eine CD in der rechten Hand, und trommelte ungeduldig mit den Fingern der Linken auf dem Tresen herum. 

"Ich frag die Frau Doktor, Frau Kipp. Seien sie doch so lieb, setzen sie sich kurz ins Wartezimmer!"

Friederike Kipp hatte sich nicht mit der erneuten Verordnung eines Antibiotikums zufrieden gegeben. Sie war auf eigene Faust zum Facharzt gegangen, der mit Ultraschall und Blasenspiegelung einen kirschgroßen Tumor an der Blasenhinterwand ausgemacht hatte. Der Urologe hatte sie noch zur Computertomografie geschickt, um Auskunft darüber zu bekommen, ob der Tumor sich bereits ausgebreitet hatte. Danach allerdings sah es nicht aus.

"Das ist ein Kunstfehler, Frau Dr. In den Birken. Sie haben mich zweimal behandelt, als hätte ich einen Harnwegsinfekt. Aber ich hatte keine Schmerzen. Nur Blut. Der Urologe sagt, daß ich den Blasenkrebs mindestens seit einem halben Jahr habe."

Heide In den Birkens Gesicht brannte. Die Patientin hatte recht. Sie hatte eine Fehldiagnose gestellt. Schmerzlose Blutabgänge aus der Blase! Das war immer Hinweis auf etwas Übles! 

"Dabei hatte ich Ihnen schon beim ersten Mal gesagt, daß ich zum Röntgen möchte!"

"Naja, nicht ganz! Sie hatten gefragt, ob Röntgen nicht besser sei ... das ist ein Unterschied! Einfach so zu röntgen, auf Verdacht, das erlaubt die Kasse gar nicht! "
"Frau Doktor, wollen sie abstreiten, daß es den Tumor gezeigt hätte?"
"Nein, das will ich nicht. Aber ihnen, Frau Kipp, ist kein Schaden entstanden. Eine Verzögerung von 14 Tagen ist sicher zu verschmerzen. Wir wissen ja jetzt, was los ist. Ich schreibe ihnen eine Einweisung... "
"Fräulein Kipp, bitte. Fräulein Kipp. Wenn ich nicht zum Urologen gegangen wäre, wären es mehr als nur 14 Tage geworden. Der Herr Doktor hat gesagt, sofort operieren, und keine Zeit verlieren! Und danke, nicht nötig. Der Herr Doktor hat mir schon die Einweisung gegeben, und mir ein Bett besorgt. In vier Tagen werde ich operiert."

Die Ärztin warf den Kopf zurück und schüttelte den Kopf.

"Gedenken sie, etwas gegen mich zu unternehmen?"
"Das hängt vom Ergebnis der Operation ab. Ich war bisher immer sehr zufrieden hier, Frau Doktor. Aber wenn ich mich nicht mehr auf sie verlassen kann ..."

Die pensionierte Krankenschwester erhob sich und steuerte den Ausgang an.

"Fräulein Kipp?"
"Ja?"
"Ich bitte sie um Entschuldigung. In aller Form. Ich hoffe, daß sie mir vergeben können."

Friedel Kipp hielt kurz inne. Dann zeigte sich ein kaum merkliches Lächeln auf ihren Lippen.

"Danke, Frau Doktor."

Beate kam eine Viertelstunde später, als gedacht, von ihrer Station weg. Bei einer Privatpatientin vom Chef wurde die Medikation umgestellt, und der Professor hatte dies mit ihr umständlich erörtert. 
Jasper stand frierend in der Kälte. 

"Entschuldige, daß du warten mußtest, aber Professor Haberland wurde und wurde nicht fertig!"

Statt einer Antwort nahm er sie in den Arm und drückte sie. 

"Komm, laß uns gehen!"

Er führte sie aus. Ins beste Restaurant der Stadt. 

"Jasper! Das ist doch viel zu teuer!" 

Der Tisch war speziell dekoriert. Die Kellner aufmerksamer als sonst. Die Speisen delikat. Blumen und Kerzen verbreiteten Romantik. Dann kam der Chef aus der Küche, erkundigte sich, ob das Menü gemundet hätte. 

Nachdem Beate dies bestätigt hatte, kündigte der Maître noch einen besonderen Nachtisch an. Er schnipste mit den Fingern, woraufhin ein Junge mit einem Silbertablett hereinstolperte. Auf diesem Tablett befand sich ein Umschlag. 

"Jasper! Ich ... ich weiß gar nicht, was ich sagen soll!"

Beate hatte Tränen in den Augen. Was für eine wunderbare Überraschung. Wie hatte er das bloß hinbekommen? Er hatte ihr eine kleine Statistenrolle in ihrer Lieblingsserie, der 'Lindenstraße', besorgt. Was kam jetzt? Er grub in seiner Jackettasche und förderte einen Zettel zutage, den er vorlas, mit leiser Stimme.

"Ich hab dich immer als selbstverständlich angesehen, Beate. Ich hab begriffen, daß du das nicht bist. Ich bin nicht so klug, und so aufmerksam, wie du es verdienst. Chips, Bier, Sportschau. Das ist für mich zu Hause, Feierabend, Entspannung. Dabei bist du mein Zuhause, klar. Ich hab dich vernachlässigt. Das tut mir leid. Ich mach das jetzt besser, ich versprechs. Bitte bleib bei mir."

So viel Wörter hatte er noch nie am Stück und hintereinander zu ihr gesagt. Noch nie. Dies Gefühl von Freude, Wärme, Nähe ... wann hatte sie das zuletzt gespürt? 

Frau von Hayn saß an ihrem kleinen, zierlichen Sekretär aus Kirschbaumholz. Die Feder ihres Füllfederhalters kratzte über das Papier und hinterließ feine, blauschwarze Linien in ihrer gestochenen Handschrift. Sie schrieb, als gelte es, etwas sehr Wichtiges zu Ende zu bringen, ohne zu wissen, ob die Zeit dafür noch ausreichte. 

Sie hatte zwei Seiten ihres hellgelben Briefpapiers mit dem geprägten Familienwappen derer von Hayn beschrieben. Dann faltete sie die Bögen sorgfältig und ließ sie in ein Kuvert gleiten. Gleich morgen früh würde sie dem Umschlag beim Notar hinterlegen. 

Befriedigt schraubte sie die Kappe auf das Schreibgerät. 
Jetzt eine Zigarette. Die hatte sie sich verdient. Und einen Sherry. Ja, das konnte sie jetzt gut vertragen.



Die Kirche war ziemlich voll. Die Glocken hatten die Gemeinde zur heiligen Messe gerufen, und die Gemeinde war erschienen. 

Die Ordnung des Gottesdienstes, die altbekannten Worte der Lithurgie, die Lesung, die Orgelmusik, der Gesang der Gemeinde ... all das hatte etwas wunderbar Vertrautes, Heimeliges.

"Der Herr sei mit euch!"
"Und mit deinem Geist!"

Korbinian war in einer Art Harakiri-Stimmung. Er wußte, daß seine Predigt ihn seine Existenz kosten würde. Aber er hatte begriffen, daß seine Existenz mehr bedeutete, als sein Beruf, soziale Absicherung, und sein Ansehen in der Öffentlichkeit. Das, was er tat, die Art, wie er lebte, mit Heimlichkeiten, Unaufrichtigkeiten, Ängsten davor, entdeckt zu werden, waren unwürdig und alles andere als echt. 

Verdiente er es nicht, authentisch zu leben? Glücklich zu sein? Was war so verwerflich daran, sich nach Liebe und Geborgenheit zu sehnen? Standen ihm diese Bedürfnisse nicht zu?

Er hatte die Stola wie immer geküßt, bevor er sie umlegte. Den Meßdienern hatte er gesagt, "Los, Männer, packen wir's!", was von diesen mit vorsichtigem Gelächter quittiert wurde.

Und nun stand er auf der Kanzel und verkündete das Lukas-Evangelium, die Vergebung der Schuld. Eindringlich sah er seine Gemeindemitglieder an. In seiner Anfangszeit, als er noch ängstlich und aufgeregt vor jeder Predigt war, konnte er einzelne Gesichter nicht unterscheiden, sie zerflossen vor seinen Augen zu einer gestaltlosen Masse. 

Inzwischen hatte er gelernt, einzelne Gemeindemitglieder zu erkennen und anzusehen. Schon während der Predigt, nicht nur beim obligatorischen Verabschieden am Ende des Gottesdienstes vor der Kirche.

"Dies hier wird meine letzte Predigt", verkündete er.

Ein Raunen ging durch die Gemeinde. 

"Ich habe Ihnen diese Ankündigung zu machen. Ich muß Ihnen sagen, daß ich einen Menschen gefunden habe, schon vor mehr als zehn Jahren, mit dem ich mein Leben bisher geteilt habe. Dies ist von der heiligen Mutter Kirche nicht erlaubt. Wir Priester haben im Zölibat zu leben. Und hinter dieser Vorschrift habe ich mich versteckt, weil ich damit glaubte, den Fragen nach Heirat und Kindern entgehen zu können.

Ich habe meinen Lebensgefährten ..." - ein abermaliges Raunen erfüllte das Kirchenschiff - "... meinen Lebensgefährten verleugnet, statt voll Stolz zu ihm zu stehen. Ich habe ihn verborgen, und ich habe ihm, in einem Moment der Schwäche, unendlich wehgetan. Jetzt ist dieses Spiel beendet. Endgültig.

Ich habe zwei Halte-, zwei Bezugspunkte in meinem Leben verloren. Meine beiden Mütter. Meine leibliche Mutter, und die Mutter Kirche. Aber das alles ist mir nicht wichtig. 

Ich habe diesen Mann vor 12 Jahren kennengelernt, auf einer privaten Feier.
Ich hatte nur Augen für ihn, und er lächelte, als lächelte er nur für mich. Seither war er mein wichtigster Halt im Leben. Ich hoffe und bete, daß er sich an dies erinnert, und mir vergibt."

Plötzlich sah er Lukas, in der letzten Reihe sitzend. Er hatte offenbar dem Gottesdienst beigewohnt. Er sah ganz blaß aus, mit weit aufgerissenen Augen.

"Liebe Gemeinde, ich danke Ihnen allen für ihre Treue, und ich wünsche ihnen von Herzen Gottes Segen."

Er trat vor den Altar.

"Es segne euch und es behüte euch der dreieinige Gott, Vater, Sohn und heiliger Geist."

Mit dem Kreuzzeichen entließ er die Gemeinde.

Etwas Unerhörtes geschah. Irgendwo begann jemand, in die Hände zu klatschen. Ein Zweiter, ein Dritter folgte, dann applaudierten alle ihrem Pfarrer. Der Organist intonierte das Postludium. Korbinian Heydenreich schritt durch den Mittelgang, unter dem Beifall seiner Gemeinde, zur Pforte. Plötzlich stand Lukas vor ihm. 

Sie umarmten sich und hielten sich. Lukas nutzte die Gelegenheit, etwas in sein Ohr zu flüstern.

"Du Drama-Queen! Du bist ein Idiot! Und was sollte jetzt dies Bekenntnis? Jetzt müssen wir eine Wohnung suchen. Und Arbeit für dich. Kannst du überhaupt was Sinnvolles - außer klug daherzureden?"


Geschichten gehen zu Ende. Diese hier auch. 

Es bleibt noch einiges nachzutragen. Zum Beispiel der Blasenkrebs bei Fräulein Kipp. Gottlob war er nur oberflächlich und konnte mühelos entfernt werden. Frau Dr. In den Birken schreibt jedes Quartal eine Überweisung zum Urologen. So etwas kann wiederkommen. 

Heide In den Birken hat leider nichts aus ihrem Kunstfehler gelernt. Etwas Demut hätte sie empfinden können, oder? Na gut, sie ist vielleicht etwas verbindlicher geworden, aber sie ist nach wie vor kühl, gefaßt, perfekt. Und sie tobt sich gelegentlich im Club aus.

Florentin Forchheimer erhielt eine Rolle, allerdings nicht, wie erhofft, in Hollywood, sondern in Mumbai. In Bollywood. Er spielte einen Polizei-Offizier. Nach drei Drehtagen trank er in seinem Hotelzimmer ein Glas Wasser auf der Leitung, was ihm eine scheußliche Durchfallerkrankung einbrachte. Völlig frustriert kehrte er nach Deutschland zurück. Im Augenblick sieht man ihn überwiegend in der Fernsehwerbung. 

Beate und Jasper Thormählen haben es geschafft. Die Aussicht, seine Frau zu verlieren, hatte ihn derartig erschreckt, daß er buchstäblich in letzter Sekunde das Ruder herumriß. Die beiden gehen sogar zu einer Partnertherapie. Und der kleine Auftritt in der Lindenstraße fiel zwar der Schere der Cutterin zum Opfer, aber trotzdem gehörte das Drum und Dran am Set zu den aufregenden Momenten in Beates Leben.

Tristan Richter ist inzwischen ein liebevoller und sehr aufmerksamer Großvater geworden. Der Krümel ist zauberhaft, schokoladenbraun, weil sein Vater aus Gambia stammt, und mit seinen riesigen Augen wickelt er alle um die speckigen kleinen Finger und wird von allen Seiten verwöhnt. 

Demeter Frei hat ihre Brustkrebserkrankung nicht überlebt. Zunächst sah alles gut aus, aber die Tumormarker wollten nicht fallen, trotz Chemotherapie. Bei einer Nachsorgeuntersuchung fand man in einer computertomografischen Untersuchung des Kopfes Töchtergeschwülste im Gehirn. Die Ärzte versuchten, diese mit einer Bestrahlung in Grenzen zu halten, was aber nur einen kurzen Aufschub einbrachte. Demeter verlor bald ihr Bewußtsein und starb, ohne es wiedererlangt zu haben.

Lukas und Korbinian eröffneten eine Kneipe. Das Ding ist immer bis unter den Rand voll, die Laune ist blendend, und jeder fühlt sich dort wohl. Es hatte ein wenig gedauert, aber irgendwann meldete sich seine Mutter. Korbinian wollte zuerst nicht darauf reagieren, aber Lukas hatte ihn auf das Thema seiner letzten Predigt hingewiesen. Trotzdem, die ehemalige Vertrautheit stellte sich nur schwer wieder ein. Es ist sehr kompliziert, einmal abgerissene Brücken wieder aufzubauen.

Spiridon hatte nach Beendigung der Therapie nicht zuerst seine Eltern, sondern das weiße Haus aufgesucht, um Frau von Hayn zu sehen. Voll Stolz wollte er ihr sagen, daß er es geschafft hatte, seinem Versprechen gemäß. 

Ihre Tür war abgeschlossen, das Namensschild entfernt.

Er rannte zum Büro der Leiterin. 

Frau von Hayn war vor einer Woche verstorben. Er möge dringend den Notar aufsuchen.

Bei diesem erfuhr Spiridon, daß sie ihn zum Alleinerben eines bescheidenen Vermögens eingesetzt hatte. Ihre beiden Töchter erhielten lediglich den Pflichtteil.

Außerdem übergab ihm der Notar eine kleine Schatulle, in der neben der Brosche und der Zigarettenspitze der Verstorbenen auch ein Brief lag.

"Mein lieber Junge, wenn du diesen Brief liest, ist mein Leben beendet. Das ist etwas ärgerlich, denn ich hätte gern noch mit dir deinen Sieg über die Drogensucht gefeiert. 

Der Notar wird dir meinen letzten Willen schon verkündet haben. Ich möchte, daß du die Schule beendest, studierst und ein nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft wirst. Dabei wird dir der kleine Geldbetrag vielleicht etwas helfen.

Um alles zu verstehen, muß ich dir ein Geheimnis anvertrauen. Vor meiner Ehe mit dem Freiherren empfing ich von einem leichtfertigen Menschen, in den ich mich als junges, unerfahrenes Ding verliebt hatte, ein Kind, einen Knaben. Heribert wußte das, und er ließ mein Vorleben keinen Einwand gegen unsere Ehe sein. Das Kind allerdings mußte ich zur Adoption freigeben. 

Mein lieber Junge, ich danke dir für die kurze, aufregende Zeit mit dir. Ich habe dich als Geschenk, vielleicht als Abschiedsgeschenk vom Schicksal, wahrgenommen. Vielleicht verstehst du, was ich meine.

Deine dich liebende

EvH"

Es lag diesem Brief ein altes Schwarz-weiß-Foto bei, daß einen Säugling zeigte. Einen Säugling, erwartungsvoll, mit schwarzen Locken und dunklen Augen, und sehr, sehr hübsch.