Ich habe ja nun einige Begegnungen mit ganz besonderen Patienten aufgeschrieben. Es ist nicht so, dass die anderen, die Ungenannten, mir nicht ebenso nahestünden. Aber erzählte man die
Geschichten aller, würde es doch schnell langweilig werden, auch wenn sich immer wieder dramatische Dinge ereigneten. Zum Beispiel bei einem Ehepaar, Hans und Erna Kehr. Erna nannte ich immer
Klein-Erna, passend zur Gegend. Ich betreute sie zwei Jahre.
Wenn man sich Großeltern aus einem Katalog hätte aussuchen können, wäre die Wahl sicher auf diese beiden gefallen. Auf nichts freuten die beiden sich so sehr wie auf ihre Diamantene Hochzeit,
das Ehejubiläum nach 60 Jahren. Drei Wochen vor dem Erreichen dieses Datums erlitt er einen Schlaganfall, dem er eine Woche später erlag. Sie folgte ihrem Mann, man weiß nicht, warum
eigentlich, 10 Tage später.
Kathleen hieß eine unglaublich liebe junge Frau, die mir in breitestem Sächsisch erläuterte, „Isch arbeede in der Erodikbrangsche!“ Deswegen hatte sie oft Terminprobleme, weil sie wegen ihres
Schichtdienstes auf der Reeperbahn kurzfristig absagen musste. So richtig ans Herz wuchs sie mir, als sie mir von ihrem kleinen Sohn erzählte, für den sie immer zu Hause war, wenn er aus der
Schule kam. Sie musste ihm bei den Hausaufgaben helfen, weil er doch Legastheniker war. Und sie kochte für ihn. Am liebsten ‚Tote Oma‘. Das fand er witzig. Ich auch.
Ich denke oft an Josua Schneider. Ein 19jähriger Junge, der sich in der Praxis vorstellte, um seine Zeugungsfähigkeit prüfen zu lassen. Er leuchtete von innen heraus. Endlich war ihm seine
große Liebe begegnet, er war so voll Hoffnung und Glück.
Einen Monat später stand seine Mutter als neue Patientin vor mir. Sie sah elend aus, und hatte offenbar geweint. Ich fragte sie nach ihrem Kummer. Josua hatte sich erhängt. Seine Traumfrau
hatte es sich kurzfristig anders überlegt, und er sah keinen anderen Ausweg mehr für sich.
Ach, Jens Pawelka! Deine Frau kannte ich lange Jahre als Patientin. Eines Tages sprach sie mich auf Dich an. Ein Kollege hatte bei Dir, der Du erst 50 warst, einen hoch-aggressiven
Prostatakrebs diagnostiziert. Ob mir vielleicht noch etwas einfiele.
Fast zwei Jahre ging alles gut. Dann meldete sich das furchtbare Biest mit aller Kraft und fraß sich blitzartig durch Dich hindurch. Ich konnte kaum noch differenzieren, was im Vordergrund
stand: Die Schmerzen, die Angst, das Versagen der befallenen Organe ... es ist so furchtbar, daneben zu stehen und völlig hilflos zusehen zu müssen, wie jemand unaufhaltsam seinem Ende
entgegengeht.
Und Dich, Andreas, vergesse ich auch nie, weil ich Deinen Wandel, durch den Du zu Andrea wurdest, in jeder Phase mitbekommen habe, und Dich, die Du promovierte Akademikerin und
Sozialwissenschaftlerin warst, oft wegen der widerlichen Diskriminierungen und Anfeindungen trösten musste. Von Dir habe ich viel gelernt. Den unerschütterlichen Glauben an Dich selbst zu
behalten. Zweifel zu überwinden. Seinen Weg zu gehen.
Ich habe das große Glück gehabt, wunderbare Mitarbeiter zu haben. Es kamen und gingen auch immer wieder originelle Menschen, von denen ich mich bald trennen musste. ‚Moni‘, zum Beispiel. Kurz
nachdem sie ihre segenreiche Tätigkeit aufgenommen hatte, stiegen die Portokosten immens. Ich erkundigte mich neugierig nach der Ursache. Diese war leicht herauszufinden. Moni hatte alle
Briefe eingeschrieben verschickt, weil sie meinte, die Worte des großen Doktors verdienten einen besonders gesicherten Transport ...
Es ereignete sich eines Tages, dass ein junger Mann die Praxis betrat. Ich war gerade im Begriff, den nächsten Patienten aus dem vollen Wartezimmer abzuholen, als Moni, einen
Überweisungsschein in der Hand, mir laut von der Rezeption aus zurief, „Herr Doktor, was ist das eigentlich - Go - no - rrhoe?!“
Nie wieder ist jemand so fluchtartig aus meiner Praxis gerannt. Und Moni bat ich, künftig auch nicht mehr zu erscheinen.
Der Ersatz für sie war eine sehr adrett gekleidete, sehr schweigsame Dame, die immer frisch nach Pfefferminz duftete. Frau Warkus hielt der Belastung offenbar nicht stand. Sie kam zunehmend
unpünktlicher zum Dienst, gelegentlich gar nicht. Ich wies sie zurecht und erteilte ihr Abmahnungen. Dann, ohne vorher Bescheid zu geben, erschien sie gar nicht mehr.
Im Kühlschrank stand noch eine Flasche Fruchtsaft. Wir entschlossen uns, diese zu entsorgen. Beim Ausgießen lag plötzlich das Aroma von Wodka in der Luft ...
Eine Patientin, Frau Unterrück, hatte mich wegen einer Beschäftigung auf 400-DM-Basis angesprochen. Sie hatte bis zur Berentung im öffentlichen Dienst gearbeitet und war etwas knapp bei
Kasse. Gern stellte ich sie ein. Allerdings gab es Schwierigkeiten mit den Kollegen. Ja, Pausen standen ihr zu. Keine Frage. Aber bitte dann, wenn es den Arbeitsablauf nicht aufhielt. Und am
Montag zu, Dienst zu kommen und den Tag mit einer Pause zu beginnen ... das mochten wir alle nicht. Und Frau Unterrück möchte es nicht, dass wir das nicht mochten.
Frau Stolz war perfekt. Ein organisatorisches Genie. Fast auf die Minute genau wurden die Sprechzeiten eingehalten. Alles lief wie am Schnürchen. Ich wunderte mich zunächst nicht über
rückläufige Patientenzahlen, immerhin war Sommer, und diese Jahreszeit ist schädlich für Urologen.
Eines Tages rief mich Uwe Regenauer an, ein befreundeter Allgemeinmediziner, dessen Praxis einen U-Bahnhof weit entfernt lag, weswegen wir gern zusammenarbeiteten - und auch befreundet waren.
Er hörte sich etwas ärgerlich an. Gestern, so sagte er mir, habe er persönlich angerufen, um eine Patientin mit einer massiven Blutung notfallmäßig vorzustellen. Man habe ihm gesagt, es sei
brechend voll, und wir könnten niemanden mehr annehmen. Um 14 Uhr! Bei einem Sprechtag, der bis 18 Uhr ausgewiesen war!
Ich stellte Frau Stolz zur Rede. Das täte ihr auch leid, erklärte sie, aber ihre Kinder kämen aus der Schule, und sie müsste eben pünktlich nach Hause ...
Liebenswürdig, wie ich bin, versprach ich ihr, dass sie von jetzt ab immer pünktlich zu Hause sein würde ... Als sie ging, nahm sie das Sparschwein mit, in das die Patienten gelegentlich
einige Pfennige/Cent hineinwarfen, um ihre Anerkennung auszudrücken. Ich fragte die Mitarbeiter, ob wir dagegen etwas unternehmen sollten. Aber sie verzichteten dankend.
Frau Strahl klaute Büromaterialien und Postwertzeichen und leugnete sogar noch dreist, als ich sie auf frischer Tat ertappte. Frau Lewinski weigerte sich, ein Wischtuch in die Hand zu nehmen,
um etwas Schmutz, den die Tasche eines Patienten an der Rezeption hinterlassen hatte, zu entfernen - dafür würde sie nicht bezahlt.
Ich hatte allerdings auch hervorragende Kräfte. Herrn Engling, Frau Herrmann, Frau Vollmer und Herrn Fazel. Hohes Engagement, persönlicher Einsatz, 100%ige Zuverlässigkeit und unendliche
Geduld mit kranken Menschen und einem cholerischen Chef. Wir waren Familie. Und das schätzten die Leute.
Die einzigen, die mir in dieser Zeit immer wieder erhebliche Probleme bereiteten, waren - nein, nicht die Damen und Herren vom Finanzamt HH-Hansa. Mit denen konnte man reden. Das war manchmal
unangenehm, aber das Ergebnis immer befriedigend. Nein. Widerlich waren die Banken. Die HypoVereinsbank und die Haspa. Ich hoffe, Frau B. Und Herr S., stellvertretend für alle anderen, dass
Sie einmal in Ihren Leben erfahren, was Existenzangst bedeutet. Dass Sie einmal nachts wachliegen, weil sie nicht mehr wissen, wie es weitergeht. Und dass Sie Panik bekommen, wenn Sie den
Briefkasten freitags aufsperren, und Briefe mit schlimmen Texten und Mitteilungen über Nichteinlösung einer Lastschrift, so viele, dass man für den Versand ein DIN-A-4 - Kuvert nehmen musste.
Wie haben Sie das bloß immer hinbekommen, dass diese Briefe mich immer Freitag und Samstag erreichten? Irgendwann habe ich den Briefkasten Donnerstag zuletzt geleert, und dann wieder
montags.
Inzwischen kommt mir diese Zeit ganz unwirklich vor. Ich denke an alle und alles zurück, und ich sehe den dicken alten Mann, der sich weigerte, einen weißen Kittel zu tragen. Der hinter einer
gläsernen Schreibtischplatte saß, um deutlich zu machen, Du und ich, wir gehören zusammen. Ich verstecke mich nicht hinter Möbeln oder elektronischen Geräten. Ich bin bei Dir, wenn Du mich
brauchst. Der so laut lachte, dass seine Mitarbeiter eine schallschluckende Dämmung seiner Türen forderten. Und der sich manchmal neben Patienten setzte, sie in den Arm nahm und bitterlich
weinte.
Ich möchte keinen falschen Eindruck erwecken. Ich war nicht immer nett. Im Gegenteil. Ich konnte ziemlich biestig sein. Nach dem 7. Beschwerdebrief einer Patientin über den bösen, alten
Urologen in der Kandinskyallee schrieb mir die Ärztekammer mahnend, dass ich mein Verhalten den Patienten gegenüber dringend einer kritischen Würdigung unterziehen sollte. Ich teilte der
Kammer postwendend mit, dass das bereits geschehen sei. Ich hätte mich überprüft und festgestellt, dass ich praktisch in jeder Hinsicht perfekt sei, wie Mary Poppins.
Ich habe, trotz vieler folgender Beschwerden, nie wieder von ihnen gehört.
So, nun aber endgültig genug von den Erzählungen aus der Praxis. Ich hoffe, dass es Ihnen/Euch etwas Spaß gemacht hat. Und ich bedanke mich für das viele Feedback, das ich bekommen
habe.