Leipzig, 3. Tag ( märchenhaft und verzaubert )
Hatte ich schon gesagt, dass ich in Dessau wohne? Also, nur wegen der Messe. Im Hotel "Sieben Säulen".
"Warum gerade: SIEBEN Säulen?", frage ich die freundliche Rezeptionistin. Sie macht mich auf ein kleines architektonisches Meisterwerk am Anfang der Ebertallee aufmerksam. Egal, aus welcher
Richtung am Kreisverkehr man sich dem Objekt nähere: Man sähe immer nur sieben Säulen. Gehe man näher drauf zu, erkenne man jedoch, dass es acht sind. Spannend.
Den Blick aus meinem Hotelzimmerfenster nehme ich heute in besonderer Weise wahr. Eine alte, verwitterte Villa. Sie wirkt unbewohnt. Moment mal: Als ich gestern Abend aus Leipzig zurückkam,
drang doch durch die Jalousie des kleinen Fensters rechts neben der Eingangstür ein unruhiger, flackernder Lichtschein! Eine unbestimmte Helligkeit, wie von einer Kerze, oder einer
altersschwachen, nicht korrekt ins Gewinde gedrehten Glühbirne ... Wer lebt in diesem Haus? Handelte es sich um einen Lichtreflex eines Autoscheinwerfers, oder der Straßenlaterne? Den
Widerschein aus einem Fenster des Hotels, in dem ich wohne? Oder hat die optische Belastung durch die Scheinwerfer auf der Messe meinem Auge einen Streich gespielt?
Ich kann nicht glauben, dass das Haus bewohnt ist, so morsch und verfallen, wie es aussieht. Oder? Mit etwas Vorstellungskraft ... Eine alte, gebückte Frau, vielleicht ... vom Leben
gezeichnet, einsam ... die trauerumflorten Augen trübe, die grauen Haare zu einem schlichten Knoten gedreht? Gramgebeugt unter ihrer Häkelstola, weil, als sie ein junges, bildschönes,
hoffnungsvolles Mädchen war, ihre grosse Liebe sie betrog?
Oder lebt dort ein Mann, mit pickliger, talgiger Gesichtshaut, stechenden, wasserblauen Augen und blondem, schütteren Haar und Oberlippenbart, in ausgebeulten Cordhosen und einer grünen
Strickjacke über dem karierten Flanellhemd, der ein zurückgezogenes, unauffälliges Leben führt, aber hinter den dunklen Fenstern schall- und blickdichte Zellen eingerichtet hat, um dort
Menschen gefangen zu halten?
Ist es wohlmöglich gar kein Mensch, der dort lebt? Spukt dort der Geist einer gequälten Seele als Strafe für eine ungeheuerliche, im Leben begangene Verfehlung? Oder gar ein Untoter, der das
sengende Tageslicht scheuen muss und deshalb nur nach Einbruch der Dunkelheit seinen Sarg verläßt, um sich bei Kerzenschein etwas frisch zu machen, bevor er holde Jungfrauen anknabbert?
Oder schnappe ich langsam über?
Eine Messe hat etwas sehr Inspirierendes, wie Ihr merkt, liebe Freunde ... aber einen Rat gebe ich Euch: Geht nicht am Samstag. Stau ab dem Schkeuditzer Kreuz. Ein Unfall. Noch ein Unfall.
Und tout le monde will zur Messe. Es ist 9:30 Uhr, um 10 Uhr wird geöffnet. Was ich dort will? Ich bin verabredet! Ein Stündchen mit Lily, eins mit Louise. Und dann wieder heim. Dahin, wo
nicht so viele Menschen sind. Und Autos. Und Ordner, die verzweifelt mit den Armen rudern und versuchen, das Meer zu teilen, wie weiland der olle Moses ... zentimeterweise geht es vorwärts.
Dem Himmel sei dank für meine Dauerkarte! Die Taschenkontrolle war schon lang genug - jetzt auch noch an der Kasse anstehen ...
Lily ist schon da. Ich habe schon von ihr erzählt, oder? Mittlerweile ist sie dabei, ihr 5. ( FÜNFTES! ) Werk vorzulegen, und irgendwie bin ich gerade sehr stolz, sie zu kennen. Sie legt all
ihre Liebe hinein in das, was sie schreibt.
Wir fachsimpeln - also: Sie fach, ich simpel - und, wenn man sich 40 Jahre kennt und gern hat, schwelgen auch in Erinnerungen. Mit ihr versuche ich etwas, was ich bisher immer entschieden
abgelehnt habe. Ein Selfie. Es ist mein Erstes. Aber einmal ist ja immer das erste Mal, oder?
Der zweite Höhepunkt des (Vormit)Tages nähert sich. An dem Messestand, an dem ich mich zwei Tage zu Hause fühlen durfte, muss ich heute einem Kollegen Platz machen, der seine zwei selbst
gemachten Büchlein präsentieren darf. Deswegen habe ich ein Kärtchen mit meiner Handy-Nummer bekritzelt und Frau Krüger gebeten, dieses, sollte jemand nach mir fragen, auszuhändigen. Ich
ziehe mich in den Biergarten zurück.
'Sollte jemand nach mir fragen' ... dieser jemand heißt Louise. Ich habe keine Ahnung, wie sie aussieht, und wie sie so ist. Schon wieder eine Premiere, nach dem Selfie. Ein Blind Date! In
meinem hohen Alter! Oder, wie man das heute nennt, zumindest bei Helene Fischer oder den Scorpions, ein Meet and Greet. Aufregend. Ich bin nervös. Ich würde ja gern einen guten Eindruck
machen. Fröhlich UND intelligent ... Ich glaube, ich lass es lieber. Das letzte Mal, als ich versuchte, meine Nervosität durch ein charmantes Lächeln zu kaschieren, blieb meine Oberlippe an
den knochentrockenen Vorderzähnen kleben. Ich muß ausgesehen haben wie ein verrücktes Kaninchen!
Das Handy klingelt. Wir navigieren uns zusammen. Ob das nette, ältere, leicht verwirrt dreinschauende Ehepaar ... komisch. Ihre Stimme hört sich viel jünger an ... nein, der Dialekt ist
eindeutig sächsisch, Louise klang vertraut nach Berlin!
Wir stehen uns plötzlich gegenüber. Unter dem Buchstaben 'F'. Eine strahlende, hübsche, gut gelaunte, entspannte junge Frau mit einem supernetten Kerl im Schlepptau. Kennt Ihr das? Man
begegnet jemandem, den man noch nie gesehen hat im Leben. Und es ist, als kennte man sich schon jahrelang. Unkompliziert, echt, lustig, vertraut. Kein 'Ach du Schreck! Die hab ich mir völlig
anders vorgestellt!' Mitnichten! Genau so.
Wir mögen uns auf Anhieb. Also, ich kann natürlich nur für mich sprechen. Aber ich bin sicher, dass es umgekehrt genauso ist. Louise zeigt mir Fotos von einem niedlichen kleinen Hund, und
einem zauberhaften Kind. Das macht man doch nicht, wenn man wen nicht leiden kann, oder? Na also!
Auf der A 9 fällt es mir plötzlich ein: Verflixt! Du hast kein Selfie gemacht! So ein Mist!
Na gut, dann eben beim nächsten Mal. Außerdem trägt man manche Bilder im Herzen und benötigt gar nicht unbedingt ein Foto. Das Mobiltelefon kündigt mit einem feinen "Ping" den Eingang einer
Nachricht an. "Es war total schön, dich zu treffen." Steht da. Das ging mir ebenso, Louise. Dem ist nichts hinzuzufügen.
Beim Verlassen der Messe höre ich, wie ein gelb bewesteter Ordner in eine Menge hineinruft, man möge Geduld haben. Er dürfe niemanden hereinlassen, die Halle sei überfüllt. "Jetzt is' einer
weniger", entgegne ich in seine Richtung. Der Ordner lacht, die Jungs grölen ...
Ich freue mich schon auf 'Buch Wien' im November.
Und ich brauch dringend einen Selfie Stick.