Sag mal, ist das nicht ... Guck da jetzt bloß nicht hin! 

"Das näht sich wie nasses Klopapier! Der Patient ist undankbar!" 

Professor Christian Degener, seines Zeichens Chefarzt der Chirurgischen Abteilung im Krankenhaus zur Barmherzigen Ingela, preßte dies mit einigem Ärger hinter seinem Mundschutz hervor. Er hatte dem vor ihm liegenden Mann gerade notfallmäßig den Blinddarm entfernt, durch die Entzündung war das Gewebe brüchig geworden.

"Chirurgische Pinzette!" 

OP-Schwester Marion reichte ihm das Instrument. 

"Stieltupfer!"

Er tupfte mißtrauisch, hielt einen Augenblick inne. Erneutes Tupfen. Erleichtert warf er der Schwester die Utensilien auf den Tisch und nickte aufmunternd dem Oberarzt, Dr. Bögle de Araujo, zu, ein schwarzhaariger, schlanker, charmanter Portugiese, für den alle Schwestern und auch der eine oder andere Pfleger schwärmten.

"Nähen Sie zu, Kollege, wenn ich bitten darf! Ich muß zum Verwaltungsleiter! Mal wieder die Auslastung der Betten! Als ob ich nichts Besseres zu tun hätte!"

Im gekachelten Vorraum, in dem sich die Waschbecken mit den Bürsten und Spendern für Desinfektionsmittel befanden, nahm er Haube und Mundschutz ab und entledigte sich der sterilen Latexhandschuhe und des Kittels, den eine Schwesternschülerin ihm abnahm. 

Nachdem er sich umgekleidet hatte, marschierte er mit raumgreifenden Schritten zum Treppenhaus, um sich aus dem OP-Trakt im Obergeschoß ins Erdgeschoß zu begeben. Er verachtete den Fahrstuhl. 
"Alles selbst, und alles zu Fuß!" war sein Wahlspruch, an den die Assistenzärzte sich zu halten hatten. Er allerdings nahm dies eigene Gebot etwas lockerer. Aber dafür war er ja auch der Chef, oder? 

Bevor er im Zimmer des Verwaltungsleiters verschwand, fuhr er sich noch einmal mit den Fingern durch die feuchten, schütteren grauen Haare, und rückte die überdimensionale Hornbrille zurecht, die er außerhalb des Operationssaales bevorzugte.



"Hat jemand Zeit für die Visite?"

Schon wieder der neue Stationarzt. Wie war noch sein Name? Dr. Maschmann! Eine Nervensäge. 
Schwester Lily, Leitende Stationsschwester der Kardiologie, stellte unwillig ihre Kaffeetasse ab, auf der die Aufschrift "I am the Boss" deutlich zu lesen war. 
"Eigentlich wollte ich gerade Medikamente stellen ... "

Dr. Maschmann nickte verständnisvoll. 

"Wissen Sie, Schwester Lily, was mein Deutschlehrer zu sagen pflegte? 'Eigentlich gibt's eigentlich gar nicht.' Wenn ich dann bitten dürfte?"

Mit operettenhafter Geste verneigte er sich, in dem er einen imaginären Hut zog und ihr die Tür aufhielt.

"Ist ja gut", knurrte sie unwillig.

Die internistische Visite zog sich etwas. Dosis reduzieren, Dosis erhöhen, Medikamente neu ansetzen, absetzen, ersetzen ... Lustlos tippte Schwester Lily auf ihrem Tablet-Computer herum, verdrehte gelegentlich die Augen, oder gab ein kleines, unwilliges Ächzen von sich. 

Endlich erreichten sie die letzte Patientin.

"Guten Morgen, Frau Maroske!" rief er laut. 
Frau Maroske war eine reizende ältere Dame, die ihn bereits in einem aus rosa Wolle gestrickten Jäckchen im Bett sitzend erwartete. 
"Und, wie geht's meiner Lieblingspatientin denn heute?" 
Frau Maroske lächelte bedauernd.
"Gar nicht gut, Herr Doktor! Ich gehe vom Bett zum Bad und bekomme kaum noch Luft! Das kann doch nicht richtig sein?"
Dr. Maschmann lächelte.
"Komisch. Beim Belastungs-EKG waren sie gar nicht so schlecht! Die Herzleistung wird natürlich durch ihr Übergewicht gemindert! Sie müssen schlanker werden, meine Dame!"

Frau Maroske sah den jungen Mediziner tadelnd an.
"Wie uncharmant, Herr Doktor! Aber sie haben recht. Leider! Es schmeckt aber auch immer so gut!" 

Dr. Philipp Maschmann nickte verständnisvoll. 
"Das soll es ja auch. Aber lieber Obst und Gemüse!"
Frau Maroske öffnete eine Schublade ihres Bestelltischchens und nahm eine Schachtel heraus. Durch das Zellophan erkannte man diverse, aus Marzipan geformte Früchte. 
"Zählt das als Obst, Herr Doktor?"

Er versuchte, die alte Dame streng anzusehen, was ihm allerdings nicht wirklich gelang. Er beschränkte sich darauf, mit dem Kopf zu schütteln. 

"Wenn das so weiter geht, sind sie demnächst auch noch Diabetikerin. Mein Rat: Schenken Sie das den Schwestern!"

Draußen ertönte der Alarm. Die Tür wurde aufgerissen, Schwesternschülerin Nasifa rief "Herr Doktor, schnell, Zimmer 12! Rhythmusstörungen, Kammerflimmern!"
"Defi vorbereiten!" 
"Schon geschehen!"

Schwester Lily's Blick verriet, daß sie derlei Störungen gar nicht schätzte.

In Zimmer 12 war Pfleger Chris schon mit dem Defibrillator beschäftigt. Der Patient lag bewußtlos im Bett. 
"Amiodaron 300 mg," kommandierte der Arzt. 
"Sauerstoff auf die Nase! Adrenalin bereithalten!"

Dem Himmel sei dank für den zentralen Zugang. 
"So, dann wollen wir mal... "

Pfleger Chris hatte die Metallscheiben mit reichlich Elektrodengel vorbereitet. 
"Alles klar. 150! Weg vom Bett!"

Keine Reaktion. Die Linien auf dem Monitor zeigten sich unbeeindruckt.

"Nochmal. 200! Weg vom Bett!"

Ja. Ja! Sinusrhythmus! Der Signalton des Monitors war nun wieder im Takt. "Gut gemacht, Doc", sprach der Krankenpfleger. 
"Danke!"
"Kaffee auf den Schreck?"
"Keine schlechte Idee!"

Pfleger Chris und Doktor Maschmann saßen in der Teeküche. 
"Ich muß unbedingt nachher dem Chef eine Umstellung auf Cordarex vorschlagen, Pfleger Chris, bitte erinnern Sie mich daran."
"Das Zeug hat doch so viele Nebenwirkungen!"
"Kammerflimmern auch - wie wir eben gesehen haben. Oder?"
"Stimmt. War das ihre erste Reanimation, seit sie hier sind?"

Dr. Maschmann bejahte. 

"Die Feuertaufe, also. Na, da gratulier' ich!"
"Danke. War aber nicht so schwer, in diesem Fall."
"Sagen sie ... nach so einer gemeinsamen Rea ... haben sie was dagegen, wenn wir und duzen?"
"Brüderschaft mit Kaffee? Meinetwegen! Aber nur, wenn wir auf den Kuß verzichten", lachte Philipp.
"Schade", grinste Chris.


"Bist Du wahnsinnig? Hier in der Klinik? Ich bin im Dienst!"
"Jetzt komm schon, hab dich nicht so! Du willst es doch auch!"
"Was hat denn das damit zu tun? Dienst ist Dienst, und Schnaps ist Schnaps! Und nimm sofort deine Hand da weg!"
"Man, bist Du spießig!"
"Nur vorsichtig. Du bist verheiratet, ich habe einen Freund. Wenn das rauskommt ... na Servus! Außerdem sind wir dann einen Tag später arbeitslos."
"Macht nichts. Dann lassen wir uns scheiden und leben von Luft und Liebe!"
"Womit fährt Dein Porsche? Luft ... oder Liebe?"
"Jetzt sei doch nicht so unromantisch!"
"Laß nicht! Ich muß hier raus, bevor mich einer vermißt!"

Die Tür zum Materialraum öffnet sich. Ein nervöser Blick - niemand da. Kittel herunterziehen, die oberen Knöpfe schließen ... War was? Na also.


Auf der Kinderstation schallte Herrn und Frau Almansour ohrenbetäubender Lärm entgegen. 
"Fütterung der Raubtiere!" 
Schwester Birte blieb bewundernswert heiter. Dabei wirkte die Situation nur beim geschwinden Hinschauen chaotisch. Natürlich war alles perfekt organisiert. 
"Herr und Frau Almansour, Nazems Untersuchungsergebnisse liegen vor. Doktor Hein möchte das weitere Vorgehen mit Ihnen besprechen!"

Die Eltern des kleinen Nazem nahmen vor dem Dienstzimmer der Ärzte Platz und wirkten unsicher und angespannt. Ihr sechsjähriger Sohn hatte beim Zähneputzen zunehmend unter Zahnfleischbluten, zudem unter zunehmender Schwäche und Abgeschlagenheit gelitten. Als dann eines Sonntags auch noch Fieberschübe dazukamen, hatte Papa Rashid den Jungen genommen und war direkt in die Notaufnahme der Klinik gefahren. 

In der Zwischenzeit hatten die Schwestern die Fläschchen mit Milumil und Aptamil gerichtet, gewärmt und waren ausgeschwärmt, um den kleinen Menschen das heutige Menü zu servieren. Die größeren Kinder erhielten ihre Nudeln mit Tomatensoße in einem Extraraum, das zu dem Mahlzeiten als Eßzimmer, sonst aber als Spielzimmer diente. Nur Max, der Unglücksrabe, lag mit seinen Masern isoliert von den anderen und sah dem bunten Treiben nachdenklich durch die Glasscheibe in seiner Tür zu. 

Dr. Uwe Hein war ein heiterer, freundlicher Mann, der jetzt allerdings nur ein dünnes Begrüßungslächeln zustande brachte. 
"Bitte, kommen Sie doch hier herein ..." winkte er das junge Elternpaar durch. 
"Nehmen sie Platz, bitte. Brauchen sie einen Dolmetscher?" 
Herr Almansour schüttelte der Kopf. Er sprach langsam, sich auf jedes Wort konzentrierend.
"Nein, ich spreche und verstehe."
"Fein. Frau und Herr Almansour, ich muß Ihnen leider mitteilen, daß Nazems Knochenmark nicht gut arbeitet, deswegen hat er zu wenig Blutzellen, das Blut transportiert nicht genug Sauerstoff und gerinnt auch schwerer. Wir haben keine Ursache dafür finden können. Eigentlich kommen nur Gifte oder Strahlung als Ursache infrage. Ist Nazem viel geröntgt worden?"
"Moment ... ich erkläre meiner Frau ..."

Herr Almansour sprach mit gesenkter Stimme auf arabisch, seine Frau preßte  die Hand vor den Mund, um den Schrei zu ersticken, der aus ihr herausdrängte. Ihre weit aufgerissenen Augen füllten sich mit Tränen. Hastig stieß sie ein paar Worte hervor und begann, ihn ihrer Handtasche zu graben, bis sie ein Tuch zutage förderte, mit dem sie ihr Gesicht trocknete.

Herr Almansour sah den Arzt entschuldigend an.

"Nicht geröntgt ... Vielleicht sie haben gehört ... Giftgas ... "

Dr. Hein nickte. 
"Das erklärt so einiges. Toxisch. Ich befürchte, daß es sich hier um einen Spätschäden handelt."

Was mag das für ein Gefühl sein, fragte sich der Kinderarzt. Man hat ein Kind, das man liebt, das man durch die ersten Lebensjahre begleitet, beschützt, wärmt, füttert ... und dann kommt jemand daher und erklärt mit nüchternen Worten, daß das Leben dieses Kindes vielleicht zu Ende geht. 

Er sah in die Gesichter der Eltern. Es kostete ihn Kraft und lastete wie ein Fels auf seiner Seele. 
Verzweiflung, Angst, Entsetzen, aber auch Hoffnung  ...

"Bitte, Doktor ... "

Herr Almansour sah ihn flehentlich an. Uwe Hein verstand ihn. Er stand auf und ergriff die Hand, die sich ihm hilflos zitternd entgegenstreckte.

"Wir geben nicht auf. Wir tun alles. Es steht ihrem Kind und ihnen eine harte Zeit bevor. Aber wir werden känpfen. Und Professor Groonewald, mein Chef, ist Experte. - Kommen sie. Wir gehen gemeinsam zu ihrem Sohn und erklären ihm alles." 


( Kranke Kinder sind am schwierigsten zu ertragen, liebe Leser, liebe Freunde. Es ist so verdammt ungerecht. Ich habe nie verstehen können, warum bereits Kinder leiden müssen. Allzu oft sind wir Erwachsenen schuld - wie auch in diesem Fall. Auch alles andere kommt vor: Selbstherrliche Chefärzte, mürrische Stationsschwestern, lebensrettende Maßnahmen. Und,sagen wir mal, zwischenmenschliche Beziehungen, die ... aber das besprechen wir später! )


"Da bist Du ja endlich! Das Essen halte ich seit einer Stunde warm! Jeden Tag kommst Du später aus der Klinik!"

Frau Groonewald konnte ihren Ärger diesmal nur schwer verbergen. Als Arztehefrau war sie einiges gewohnt. Ihre Vorgängerin hatte sich scheiden lassen. Aber sie als ehemalige Krankenschwester hatte ihrem Mann als Oberarzt den Rücken freigehalten, verstand es, wenn der diensthabende Assistent ihn mitten aus der Theatervorstellung oder gar aus dem Bett klingelte, wenn er gar nicht heimkam, oder schlecht gelaunt war. Er litt unter Schlafstörungen und Migräneanfällen, die so schlimm waren, daß er kaum noch sehen konnte, und nachts kotzend vor der Toilette kniete. 

Er hatte eine viel beachtete Habilitationsschrift verfaßt, und als man ihn aus der Universitätsklinik an das Krankenhaus zur Barmherzigen Ingela berief, um dort Chefarzt der Kinderstation zu werden, hatte sich einer seiner Lebensträume erfüllt. Daß das ganze mit erheblichem Zeitaufwand verbunden sein würde ... gut, damit hatte sie gerechnet. Aber er war zunehmend stiller geworden. Manchmal fühlte sie, daß sie kaum noch zu ihm durchdrang, und ihre Unterhaltungen als höfliche Konversation endeten. 

Einmal, ja, einmal war es anders. Er war wieder mal spät aus der Klinik gekommen, und sie hatte, obwohl mal wieder Konzertkarten verfallen waren, sich mühevoll beherrscht, hatte aber das schicke, neue Kleid mit den grünen Pailletten anbehalten, daß sie sich eigens zu diesem Anlaß gekauft hatte. 

Sie war enttäuscht und ärgerlich, aber sie hatte keinerlei Vorwurf laut werden lassen. Vielleicht würde ihm das Kleid auffallen, es schillerte und blinkte weiß Gott genug. 

Er hatte die Tür aufgeschlossen, war direkt ins Wohnzimmer gegangen und hatte sich auf "seinen" Sessel, den mit der hohen Rückenlehne, fallen lassen. 
Als sie den Raum betrat, war er hochgeschreckt. Sie sah, das er geweint hatte. Er war aufgestanden, hatte sich wie ein Ertrinkender an sie geklammert und geflüstert, "Ich kann nicht mehr." Nur das. 

Heute war sie wirklich böse. Sie hatte ihm eins seiner Lieblingsessen, gebratene Seezunge mit Salzkartoffeln und zerlassener Butter, zubereitet. Und wenn das eine Stunde im Ofen steht ... 

"Seezunge! Ach Schatz, es tut mir so leid! Heute morgen hast Du mir noch aufgetragen, pünktlich zu sein! Ich hab's total vergessen! Weißt du, ein kleiner Syrer ... " Er brach ab. 

"Es ist schon gut, Rowbin. Aber bitte denk daran, daß meine Mutter am Sonnabend ihren 85. feiert. Da müssen wir hin, und wenn ganz Aleppo vor der Tür steht!"

Und dann fügte sie hinzu: "Was ist denn mit dem Kind?"
"Toxisches myelodysplastisches Syndrom. Sein Blut geht kaputt. Eine Folge des widerwärtigen Giftgas-Anschlags. Eigentlich eine Erkrankung des höheren Lebensalters."

"Was kann man tun?"
"Die Chancen stehen schlecht. Wie müssen eine Stammzelltransplantation in Erwägung ziehen. Die symptomatischen Therapien verlängern das Leben nur um maximal 5-6 Jahre. Das ist keine Option für einen Menschen, der erst 6 Jahre auf der Welt ist. Vorher Chemotherapie, um die degenerierten Stammzellen zu beseitigen. Was tut man Kindern bloß an ... und warum?"

Sie nahm ihren Mann in den Arm.
"Vergiß die blöde Seezunge. Ich bestell' uns eine Pizza. Gut?"


Die Automatiktür zur Notaufnahme glitt nach beiden Seiten hin auf, die Sanitäter fuhren die Trage mit einer jungen Frau herein, die sich vor Schmerzen krümmte. 
"Und was bringt ihr uns Schönes, Freunde des weißen Sports?" 

Frau Dr. Rummert war wirklich ein Hingucker. Lackschwarze Haare, zum Pagenkopf geschnitten, sehr helles Compact-Puder Make-up, Shady Eyes ... und ein leuchtend roter Lippenstift. 
"Akuter Bauch, Frau Doktor", meinte der Ältere der beiden.
"Na, hoffentlich keine Eileiterschwangerschaft", erklärte die notdiensthabende Ärztin. "Das kann ich nämlich nicht!" 
Sie blickte in verdutzte Gesichter, sogar die junge Patientin hörte einen Moment auf, vor Schmerz zu stöhnen.

"Ein Scherz, ein Scherz! Nun guckt nicht alle wie Autos! Wann ist das denn losgegangen?"
"Heute Morgen, kurz nach dem Aufstehen! Es tut so weh, und mir ist schon wieder so schlecht ...!" 
"Schwester! Nierenschale!"

Eine freundliche Krankenschwester eilte mit dem gewünschten Utensil gerade noch rechtzeitig herbei und tupfte den Mund der Patientin mit etwas Zellstoff ab.

"Na, jetzt lassen wir uns alles, was sie gestern gegessen haben, noch mal durch den Kopf gehen, nicht wahr?" scherzte die Ärztin. Zur Schwester gewandt, kommandierte sie "Urinstatus, kleines Blutbild, Leberstatus, Amylase/Lipase, Blutzucker!"

Sie wandte sich wieder der Patientin zu. 
"So, die Schwester nimmt ihnen gleich etwas Blut und Urin ab, keine Angst, ja? Darf ich einmal auf ihren Bauch fassen? Ich bin auch ganz vorsichtig!" 
Die junge Frau stimmte zu. Der Oberbauch war ganz weich, unten rechts allerdings ertrug die Patientin den Druck kaum. 

"Hat das akut angefangen, oder ist es langsam immer schlimmer geworden?"

Nein, der Schmerz sei ganz akut aufgetreten. 

"Holt mir bitte einer das Ultraschallgerät? Und wissen wir schon was über den Urin?"
"Jede Menge Blut im Urin, aber kein Infekt!"

"Na, dann schau'n wir mal. So, Leber zart, Gallenblase zart, sehr viel Luft im Bauch ... Sie, die lassen Sie aber später raus, ok? ... aha! Was haben wir den hier?" 
Frau Dr. Rummert platzierte noch einen großzügigen Klecks Ultraschallgel auf dem Schallkopf und glitt über das rechte Nierenlager. 
"Könnten sie sich etwas mehr nach links ... hallo! Hilft uns jemand? Einmal die Patientin auf die linke Seite, bitte!"

Die Schwestern sahen sich bedeutungsvoll an, dann entsprachen sie der Anordnung. 

"Ha! Die rechte Niere ist gestaut! Haben sie schon mal Nierensteine gehabt?"

Die Patientin schüttelte den Kopf.

"Nur meine Mutter!"

"Tja, das haben sie dann wohl geerbt! Den Stein kann ich im Ultraschall nicht sehen, aber im Unterbauch ist alles gut. Eierstöcke, Blinddarm, alles zart. So, sie bekommen jetzt erstmal was gegen die Schmerzen und etwas, um den Harnleiter weit zu machen, damit der Stein schnell in die Blase rutschen kann. Zur Sicherheit machen wir noch eine Stein-CT. Kann jemand bitte das Röntgen anrufen? Und bitte im Labor! Ich brauche auch noch die Nierenwerte!"


"Gehen wir in die Kantine, was essen?"
"Zusammen?"
"Na klar, zusammen. Hör doch endlich auf mit diesem Versteckspiel!"
"Wir hatten das doch geklärt! Und bisher ist alles gut gegangen! Warum willst du jetzt die Voraussetzungen ändern!"
"Will ich gar nicht. Aber meinst Du nicht, daß es viel auffälliger ist, wenn wir so tun, als ob wir uns nicht kennen?"
"Ich will das jetzt nicht diskutieren. Verflucht, warum hab ich mich bloß je darauf eingelassen?"
"Weil du mal einen richtigen Kerl brauchtest. Und weil ich es dir mal so richtig besorgt ..."
"Sei nicht so ordinär, das mag ich nicht!"
"Doch, das magst du. Das magst du sogar sehr!"
"Mistkerl!"
"Vorsicht, da kommt jemand! Ich bin weg!" 


Pfleger Chris und Schwester Lily saßen in der Teeküche und schrieben die Kurven. Chris ging zur Kaffeemaschine, schenkte sich reichlich ein und warf vier Stückchen Würfelzucker in die Tasse. 
"Für Dich auch noch?"
"Frag nicht, schenk einfach ein! Du kannst auch gleich noch eine Kanne machen, für die Spätschicht!"

Chris entfernte den alten Filter, entnahm der grün-roten Packung einen neuen und füllte diesen mit drei gehäuften Löffeln. Er goß Wasser in den Tank, und schaltete das Gerät ein.

"Ich gehe übrigens jede Wette ein."

Schwester Lily sah von den Kurven auf.

"Wette?"
"Maschmann."
"Du spinnst total. Doch nicht Maschmann! Diese aufgehende Schlaftablette!"
"Doch Maschmann. Ich hab da den sechsten Sinn, weißt Du doch."
"Na, dann laß deinen sechsten Sinn mal untersuchen. Nie und nimmer!"
"Wetten?"
"Um was?"
"Ein Essen bei 'Paolo'?"
"Das hab ich so gut wie gewonnen. Nie und nimmer, sag ich dir!"
"Er hat mich vorhin so angesehen ... und wir haben Brüderschaft getrunken."
"Angesehen ... Aha! Ja dann hast Du natürlich recht! - im Ernst, Chris. Du irrst dich. Habt ihr euch geküßt?"

Chris seufzte.
"Nein, leider. Er wollte nicht."
"Na siehst du?"
"Na siehst du, na siehst du ... das heißt gar nichts. Er ist eben schüchtern!"
"Der und schüchtern? Ich kann ihn nicht ab!"
"Du bist aber auch echt fies zu ihm. Dabei ist er wirklich nett! Und sieht traumhaft aus! Und außerdem ist er ein guter Arzt. Du, bei der Rea war er absolut cool!"
"Entschuldigung? Dafür wird er bezahlt!"

Chris seufzte erneut.
"Ich finde ihn toll. Und du bist ein altes Ekel!"


Professor Groonewald und Dr. Hein statteten Nazem einen Besuch ab. 
Matt und wachsgelb lag der Kleine in seinem Bett und sah die beiden aus riesigen, dunklen Augen an. 
Nazems Eltern hatten sich auf die beiden Stühle rechts und links vom Tischchen gesetzt, Frau Almansour war vor Erschöpfung eingeschlafen und schrak hoch, als ihr Mann sie am Arm berührte. 

Der Chefarzt betrachtete die Szene kurz, dann rief er nach der Schwester.
"Schwester Birte, haben wir ein größeres Zimmer?"
"Wir können die Kinder aus dem Saal hier hinein legen. Dominic und Faruk gehen morgen sowieso nach Hause! Dann ist der Saal frei. Wieso?"
"Ich möchte, daß Nazem dorthin verlegt wird. Und wir stellen ein, schlimmstenfalls auch zwei Betten hinein, für die Eltern. Es steht uns allen eine harte Zeit bevor, und da müssen wir ausgeschlafen sein. Haben sie mich verstanden?"

Rashid Almansour hatte verstanden.
"Wir wohnen in Klinik?"
"Sie müssen bei ihrem Kind sein", lächelte der Professor. Er setzte sich zu Nazem auf das Bett und nahm dessen abgemagerte Hand in die seine. 
"Verstehst du alles, was ich sage?"

Das Kind bejahte dies.

"Nazem, paß auf. Du bist krank, das weißt du. Deswegen hast du keine Kraft, mit anderen Kindern zu spielen. Und das willst du doch wieder, oder? Und zur Schule gehen? Na siehst du. Das müssen wir hinkriegen. Du wirst Medikamente bekommen. Leider brauchst du die. Keine schönen Medikamente. Es wird dir übel werden, als ob du zu viel gegessen hast. Dann machen wir eine kleine Pause, und dann noch eine ganz kleine Operation. Und dann kommt alles wieder in Ordnung."

"Versprochen?"

"Versprechen kann ich das nicht, Nazem. Aber wir helfen alle mit, Mama, Papa, Schwester Birte, Dr. Hein, und sogar ich, dass alles gut wird. Und du musst auch mithelfen. Machst du das?"

Der Junge nickte.

Als die Ärzte auf den Flur heraustraten, standen dort zwei Kinder.
"Stirbt Nazem?"
Professor und Doktor sahen sich an.
"Das kommt gar nicht infrage", sagte Dr. Hein.
"Auf keinen Fall."


( Schwerkranke Kinder können sie nicht belügen, liebe Leser, liebe Freunde. Kinder spüren jeden unaufrichtigen Ton, aber sie gehen mit dem Thema Sterben sehr viel schonungsloser und offener um, als wir Erwachsenen. Ich drücke Nazem die Daumen, ganz fest. Auch der jungen Frau mit der Nierenkolik. Der Stein hat sich in der CT gezeigt und ist noch am gleichen Tag abgegangen. 
Um Professor Groonewald mache ich mir Sorgen. Wie lange wird er das überleben? Wie lange wird seine Frau das noch mitmachen? Aber das besprechen wir später! )




Dr. Maschmann fühlte sich angestrengt. Angestrengt und unwohl. Er schluckte seit kurzem jeden Morgen eine Kapsel Omeprazol, sogar 30 mg, nicht nur 15 ... Schwester Lily hatte sich auf ihn eingeschossen, machte ihn bei den Patienten schlecht und schwärzte ihn bei seinem Chef, Professor Versich, an. 
Er hatte auch schon versucht, sie darauf anzusprechen. Lily hatte die Vorwürfe vehement bestritten und was von Paranoia gemurmelt. 

Pfleger Chris war nett. Wenn er da war, fühlte er sich wohl, getröstet. Chris sorgte dafür, daß er beim gemeinsamen Frühstück einen Platz fand, während Lily so tat, als sei er gar nicht da. Kürzlich hatte er fröhliches Gelächter aus dem Dienstzimmer gehört. Er war hineingegangen ... und alle waren verstummt. 
"Ich will nicht stören", hatte er gesagt. Und nachdem er den Raum verlassen hatte, wurde wieder gelacht. 

"Personalführung gehört mit zu ihrem Beruf, Herr Kollege", hatte Versich zu ihm gesagt. 
"Ihre Kollegen kommen doch auch mit den Schwestern klar! Und Schwester Lily ist für die Patienten verantwortlich, und wenn ihr auffällt, daß eine Dosierung falsch gewählt ist ... wir ziehen doch alle an einem Strang, nicht wahr? Im Mittelpunkt steht der Patient!"

Beim Chef hatte er also keinen Rückhalt. Vermutlich wäre es das Beste, die Abteilung, oder gleich die Klinik, zu wechseln. Es ärgerte ihn zwar, daß Lily als Gewinnerin vom Platz gehen würde, aber bevor er ein Magen- oder Duodenal-Geschwür davontrug ...

"Hi Doc! Was ist denn? Du siehst so nachdenklich aus!"
"Ach Chris ... "
"Hast Du Lust? Nach dem Dienst: Kaffee und Kuchen?" 
"Aber nicht auf der Station!"
"Natürlich nicht! In der Innenstadt hat ein neues Café aufgemacht. Die servieren Käsekuchen in Tassen!"


Die Chefarztkonferenz hatte, neben dringender Appelle des Verwaltungsleiters, zu sparen, die Patienten nicht zu schnell zu entlassen und mehr auf die Belegung zu achten, ergeben, daß Professor Degener als Ärztlicher Direktor nicht länger zur Verfügung stehen würde. 
Einstimmig zu seinem Nachfolger wurde Professor Groonewald gewählt. Dieser lächelte. Das war aber nur äußerlich. Innerlich schrie er vor Verzweiflung. Aber er hatte Angst, sich schwach zu zeigen. Die Mutter einer kleinen Patientin hatte ihm eine Flasche Cognac zum Abschied geschenkt. Nur ein Schluck, zur Entspannung. Er betrat sein Zimmer durch sein Sekretariat. 
"Keine Störungen, Frau Döpping", sagte er seinem guten Geist. 
"Ich bin heute für niemanden mehr zu sprechen."


"Sag mal ... nimmst du eigentlich die Pille? Oder hast Du 'ne Spirale?"
"Weder - noch."
"Was?! Das ist nicht dein Ernst, oder? Wie verhütest du?" 
"Mach dir keine Sorgen. Ich werde nicht schwanger. Bei mir kommt nur ein Zettel mit 'Denkste!' drauf!"
"Und wenn doch?"
"Dann verklag ich dich auf Unterhalt!"
"Ist das dein Ernst?"
"Sag mal: Was soll diese Diskussion? Seit zwei Monaten haben wir regelmäßig Sex, und jetzt kommst du und machst dir darüber Gedanken?"
"Besser spät als nie!"
"Du bist ein Heiliger. - Wie geht's zu Haus? Was macht die Frau Gemahlin?"
"Miststück!"
"Nimm sofort deine Hand da weg!"
"Wo? Da?"
"Oh Gott, ich ... Mach sofort deine Hand da wieder hin! Ja, so ist es gut! Hey, sei nicht so grob ..."

Als Frau Maroske das Bett verließ, spürte sie gar nichts. Eben rasch ins Bad, und wieder ins Bett zurück. Es war sogar besser geworden, mit ihrer Kurzluftigkeit. Der nette junge Arzt hatte ihre Pillen verändert, die rosafarbene war verschwunden, dafür gab es jetzt morgens und abends eine kleine weiße Kapsel, die man gut herunterbekam, mit etwas Pfefferminztee. Den trank sie gern. 
Wie hieß bloß dieser neue Doktor? Irgendwas mit A. Oder S? Ach Kinder, wenn man nicht mehr die Jüngste ist! Morgen, bei der Visite, würde sie ihn fragen, und sich den Namen aufschreiben. Den Chefarzt kannte sie noch vom letzten Mal. Professor Versich. Ein ganz Netter, der immer ein kleines Stückchen Marzipan von ihr annahm.
Die Kinder waren auch schon lange nicht mehr da. Naja, Friedrich arbeitete in Berlin, das waren ja doch viele Kilometer, und Karen mit ihren drei Kindern ... aber anrufen könnten Sie doch mal, oder?

Schön, das Badezimmer. Schlicht und geschmackvoll eingerichtet. Nun wurde es aber auch Zeit, daß sie die Toilette erreichte, es drängte schon ziemlich. 
Sie befreite sich von ihrem Schlüpfer, raffte das Nachthemd und nahm Platz. 

In just diesem Moment entschloß sich ein Blutklumpen aus der rechten Oberschenkelarterie, sich von der Wand des Blutgefäßes zu lösen und über die Aorta kopfwärts in Richtung des Herzens zu rasen. Dort verschloß er die Herzklappe, verhinderte so ein Einströmen des Blutes, so daß das Herz nichts mehr zum Weiterpumpen hatte. Das Herz zuckte noch ein paar Mal, aber das merkte Frau Maroske schon nicht mehr. Schlagartig wurde es dunkel um sie, sie hörte auf, zu atmen, und sackte in dieser unwürdigen Haltung in sich zusammen.

Professor Degener war in blendender Laune. Ärztlicher Direktor hörte sich gut an, war aber in Wahrheit ein sehr undankbarer Job. Mit Medizin hatte das nichts mehr zu tun. Verhandlungen mit dem Marburger Bund, den Kassen, den Privatversicherern, der Verwaltung, der Stadt, der Kirche, die hier auch noch ihre Aktien drin hatte ... mit jedem Scheißdreck wurde er behelligt. Das hatte er sauber an den pädiatrischen Kollegen abgeschoben. Groonewald hatte ohnehin die besseren Nerven. Glaubte er zumindest.

So. Was stand heute noch an?

"Frau Clausen, was steht heute noch an?"

"Sie müssen noch zur Spätvisite auf die Privatstation! Und dann dürfen Sie nach Hause. Dr. Bögle hat Hintergrunddienst!"

"Na Gottseidank! Wer ist von den Kleinen da?"
"Herr Wachs!"
"Gute Besetzung. Das verspricht, eine ruhige Nacht zu werden. Wann muß ich eigentlich zum Chirurgenkongreß nach San Francisco?"
"Tickets sind für Freitag, den 12., bestellt. Zweimal Business für Ihre Gattin und sie! Sie wohnen im Sheraton an der Fisherman's Wharf. Die Zimmer haben einen Blick auf die Golden Gate und Alcatraz!"
"Ist die PowerPoint-Präsentation fertig?"
"Herr Professor ...!"
"Man wird doch wohl noch fragen dürfen! So, sie machen jetzt sofort Feierabend. Wenn man schon mal früher rauskann, soll man es nutzen! Bis Morgen, Frau Clausen!"
"Bis Morgen, Herr Professor!"

Schwester Thea wartete schon auf ihn. 
"Gut, daß sie kommen, Herr Professor. Der Patient, der zur Nieren-Transplantation ansteht, hat nach dem Operateur gefragt!" 
"Hat Eurotransplant sich schon gemeldet?"
Schwester Thea schüttelte den Kopf.
"Ich sitze wie auf Kohlen. Immer, wenn dies Wunderwerk der Technik bimmelt, denke ich, der Koordinator ist dran!!"

Professor Degener schickte sich an, den Patienten zu besuchen. 
"Wo liegt Herr Engling?"
"In der 404!"

Hartmut Engling lag, in seinem Kindle lesend, in seinem Klinikbett. Professor Degener staunte nicht schlecht. Der Patient war knapp 30 Jahre, wirkte aber deutlich älter. Er war blaß, seine Hautfarbe erinnerte an Milchkaffee, wie die verblassende Bräune nach einem Skiurlaub ... 

"Ich bin Professor Degener, guten Tag! Na, was lesen sie da Schönes?"
"Guten Tag, Herr Professor! Eine sehr unterhaltsame Geschichte! 'Ich bin das beste was dir je passiert ist' von Robin Lang!"

Der Chefarzt ließ sich kurz die Vorzüge eines Kindle erläutern.

"Electronic Reader, soso. Zu meiner Zeit hießen die Dinger Bücher und hatten Seiten. Manchmal komme ich mir wirklich alt vor!"

Er lachte. 
"Gut. Herr Engling, wie of pro Woche werden sie dialysiert?"
"Dreimal, und jede 2. Woche noch zusätzlich am Samstag."
"Wann und wo zuletzt?"
"Hier, heute Vormittag!"
"Ihr Blutzucker ist stabil?"
"Ja, sehr gut. Ich benutze seit zwei Jahren die Insulinpumpe. Die hätte es gern früher geben dürfen, vielleicht würden meine Nieren dann noch arbeiten!"
"Sonst irgendwas, worauf wir achten müssen?"
"Gelegentlich habe ich Netzhautblutungen. Ich bin schon einige Male gelasert worden. Aber zur Zeit geht's."

In diesem Moment öffnete sich die Tür.
"Entschuldigung, Herr Professor ... Telefon für sie! Der Koordinator!"

Christian Degener ergriff den Apparat, meldete sich mit einem knappen "Ja?" und hörte der Stimme am anderen Ende zu. Dann fragte er: "Wann geht's los? Ja ja, dialysiert ist er!"

Er strahlte, als er dem Patienten die gute Nachricht überbringen konnte.
"In einer Stunde geht es los. Wir haben ein optimales Organ für sie. Aus Wien. Wir sehen uns gleich im OP!"

So viel zum Thema ruhiger Abend, sinnierte er lächelnd. Das war wohl nix! Aber es war ja seine Schuld. Er hätte auch Postbeamter werden können, nicht wahr ...

"So, letztes Zimmer! Guten Abend, Frau Maroske! - Huch! - Frau Maroske? Hallo?"

Die Patientin lag nicht in ihrem Bett. Schwester Lily öffnete die Tür zu dem kleinen Bad, während die Schwesternschülerin schon das Kopfkissen aufzuschütteln begann.

"Frau Maroske! Was machen sie denn? Ist ihnen nicht gut? Frau Maroske! Frau Maroske!"

Verstört kam die Krankenschwester aus dem Bad.
"Was ist denn?" fragte die Schülerin, die gerade das Stecklaken straffte. 
"Frau Maroske ist tot!" 

Wie betäubt verließ Schwester Lily das Zimmer. Damit hatte man nicht rechnen können. Es war der Patientin doch deutlich besser gegangen. Und sie war auch erst 68! Bei der letzten Visite hatte Maschmann schon von Entlassung gesprochen! 

"Chris, Frau Maroske sitzt tot auf der Toilette, du must helfen, sie auf ihr Bett zu legen, bitte. Ich funke mal den Maschmann an, der ist gerade beim Rechtsherzkatheter!"

( Damit hätten wir nicht gerechnet, liebe Leser, liebe Freunde. Oder? Aber so ist das in der Klinik. Unvorhergesehenes, Unvorhersehbares passiert. 
So, Professor Groonewald hat vermutlich die Flasche mit dem Cognac geöffnet. Die Nierentransplantation bei Herrn Engling steht unmittelbar bevor. Eine Transplantation ist etwas Wunderbares. Ein Organ erwacht zu neuem Leben, und der Patient bekommt ein Stück Freiheit zurückgeschenkt. 
Warum aber mußte Frau Maroske sterben? Aber das besprechen wir später ... )




Philipp Maschmann stürmte auf die Station. Er konnte es nicht glauben. Es war ihr so viel besser gegangen, mit den neuen Tabletten. Er hatte vorgehabt, sie in der kommenden Woche zu entlassen, und jetzt ... 
Außerdem hatte er sie sehr gern gehabt. Er hatte immer von ihr als seiner Lieblingspatientin gesprochen, und das war kein Spruch, keine nett gemeinte Unaufrichtigkeit. Frau Maroske hatte ihn sehr an seine Mutter erinnert, nur eben angenehmer, freundlicher. Seine Mutter hatte ihn gequält und manipuliert. Das hatte er erst in der Psychologie-Vorlesung begriffen, im Studium. 
Nie hatte er etwas richtig machen können, und wehe, wenn er einmal nicht ihrem Wunsch entsprechend gehandelt hatte. "Ich dachte, Du hast mich lieb", hatte sie dann gesagt. "Aber da habe ich mich ja wohl geirrt."

Diese Falle hatte sie immer wieder aufgestellt, und er war hineingetappt, blind und blöd. Hallo? Er war ein Kind! 

"Wenn Du Mama lieb hast, dann isst Du jetzt auf!" 
Und am perfidesten war die Empfehlung, zu seinem Vater zu gehen, der ein Dorf weiter wohnte, mit seiner neuen Familie, nach der Scheidung. 
"Der hat sowieso kein Interesse an dir. Aber geh ruhig, wenn es dir bei mir nicht gefällt!" 

Frau Maroske war liebevoll, freundlich, heiter und hielt sich keinen Moment an Vorschriften, auch nicht an seine. Und sie hatte ihn auch gern. Das wusste er, weil er es empfand.

Methodisch führte er die Untersuchung durch. Puls. Pupillenreaktion. Herz und Lunge abhorchen. Blutdruck. Es bestand kein Zweifel. 
"Kann man den Zeitpunkt des Todes eingrenzen?" fragte er Schwester Lily.
"Um 14 Uhr hat sie das Fieberthermometer bekommen, um 17:30 Uhr Abendessen. Da hat sie noch gelebt. Jetzt ist ... 19.30 Uhr ... ich denke, irgendwann gegen 18:30 bis 19:00 Uhr."

Exitus letalis 18:45 Uhr, notierte Dr. Maschmann. Seine Mutter war am Brustkrebs gestorben, ein Jahr lang. Er hatte keine Trauer empfunden. 
Er legte Frau Maroske die Hand auf die Wange, als wolle er sie streicheln. Dann ging er ins Dienstzimmer, um den Totenschein auszustellen.

Pfleger Chris hatte die Patientenakte schon herausgelegt. 

Irgendwo mußte der Fehler sein. Irgendwo. Und er würde ihn finden. Und wenn es die ganze Nacht dauerte. Warum war Seine Lieblingspatientin tot?
"Willst Du 'n Kaffee?"
"Gern. Danke Chris."

Halt. Wo war das Heparin? Die Spritze zu Blutverdünnung? Bis vor 5 Tagen war es eingetragen worden ... danach fehlte der Eintrag.
"Schwester Lily?"
"Herr Doktor Maschmann?"
"Hat Frau Maroske ihr Heparin nicht bekommen?"
"Natürlich! Steht doch in der Krankenakte!"

Philipp Maschmann nahm die Akte und erhob sich. 
"Eben nicht, Schwester Lily. Eben nicht. Seit fünf Tagen nicht mehr. Das sagt uns diese Akte."
"Ach, das wurde bestimmt nur nicht eingetragen!" 
"Es wird eingetragen in dem Moment, in dem die Spritze verabreicht wird, Schwester Lily."

Die Schwester wollte ihm die Akte aus der Hand nehmen, er zog sie weg. 
"Sie erlauben, daß ich die behalte? Ich ordne eine Autopsie an. Und wehe, wenn sie an einer Embolie gestorben ist. Sie sind die leitende Schwester. Sie sind verantwortlich."

Schwester Lily lächelte unsicher. Er konnte sich nicht erinnern, sie jemals lächeln gesehen zu haben. 
"Herr Doktor Maschmann, ich glaube ... also, vielleicht ... " 
"Ich habe auf dem Totenschein 'Todesursache unklar' angekreuzt. Die Staatsanwaltschaft wird sich auch dafür interessieren."

Mit der Akte in der Hand verließ er das Dienstzimmer.
Chris sah Lily an. 
"Sieht so aus, als hätte er dich in der Hand!"


Professor Groonewald schloß leise die Eingangstür auf. Die Vorsicht allerdings hätte er sich sparen können. Seine Frau saß in seinem Lieblingssessel und erhob sich, als er die Eingangshalle betrat. 
"Schatz, du bist noch wach?" fragte er, etwas unsauber artikulierend.
Sie näherte ihre Nase seinem Gesicht.
"Du hast getrunken, Rowbin?"
"Nur einen winzigen Tropfen. Chefarztkonferenz. Dein Gatte wurde aufgrund außerordentlicher Fähigkeiten zum Ärztlichen Direktor berufen!"

Frau Groonewald konnte es kaum glauben. 

"Ich kann es kaum glauben, Rowbin. Du schaffst die Arbeit so doch schon kaum. Und jetzt bürdest Du Dir noch etwas zusätzlich auf? Es reicht. Gleich morgen gehe ich ins Reisebüro und buche irgendetwas. Und Du kündigst an, daß Du drei Wochen Urlaub machen wirst."
"Liebes, das geht nicht. Der kleine Syrer ... ich bin der Experte, und der einzige, der helfen kann. Das muß ich zu Ende bringen. Aber jetzt schau mal hier!"

"Eine Zeitung. Ja und?"
"Das ist eine Zeitung von dem Tag, an dem deine Mutter geboren wurde. Hab ich besorgt ... naja, eigentlich Frau Döpping. Aber die Idee zählt! Ist doch ein schönes Geschenk, oder?"

Da war es wieder. Deswegen hatte sie ihn geheiratet. Genau deswegen. Gut, daß sie dies Gefühl noch nicht vergessen hatte. Sie liebte ihn. Sie liebte ihn mehr als alles auf der Welt.

Sie nahm ihn in den Arm. 
"Du stinkst ekelhaft. Trink bitte nicht mehr."


"Du macht immer so einen Lärm ... dabei!"
"Das darfst du gern als Kompliment auffassen!"
"Und wenn uns nun jemand hört?"
"Mein Gott, dann hört er uns eben! Was kümmert mich! Glaubst du, das wir die einzigen sind, die im Nachtdienst vögeln?"
"Jetzt wirst du schon wieder ordinär!"
"Jaaaaa!"
"Du nimmst mich mal wieder nicht ernst!"
"Dafür mache ich eine glückliche Frau aus dir. Das fällt sogar anderen auf!"
"Das wird ein böses Ende nehmen! Schläfst Du eigentlich mit deiner Frau?"
"Und du mit deinem Mann?"
"Ich ziehe die Frage zurück."


Er solle sich einen schönen Traum aussuchen, hatte der diensthabende Anästhesist bei der Einleitung der Narkose gesagt. Das sei einfach, erwiderte Hartmut Engling. Irgendwohin in Urlaub fahren zu können, ohne darauf achten zu müssen, ob dort eine Dialysestation war und vor allem, ob im fraglichen Zeitraum ein Platz für ihn zur Verfügung stand. Einfach loszufahren. 

Dann hatte die Wirkung des Narkosemittels eingesetzt. 

Im Vorraum wusch sich Professor Degener die Hände, als die Tür aufgerissen wurde, und der Oberarzt hektisch die Szene betrat. 
"Mensch, Bögle, sie sehen ja furchtbar aus! Was haben sie denn gemacht!"

Der Oberarzt war in der Tat sehr zerzaust. 
"Ich habe zu Hause gerade mit den Kindern getobt, als der Koordinatoor anrief!" 
"Das gilt als Entschuldigung! Ihr Glück!" lachte der Chefarzt.
"So, dann wollen wir mal! Guten Abend, Schwester Marion! Haben wir mal wieder das Vergnügen!" 
"Guten Abend, Herr Professor", entgegnete die erfahrene Schwester. 
"Es wird nur dann ein Vergnügen, wenn sie mir versprechen, nicht auf meinen Tisch zu fassen!"

Das versprach er heiter. 
"Das Organ weilt schon unter uns!"
Schwester Marion zeigte auf die große Styropor-Box, die, mit Eiswürfeln gefüllt, die in drei ineinandergestellten, sterilen Plastikbeuteln die in Nährlösung schwimmende Niere enthielt. 

Professor Degener ließ sich die Begleitpapiere zeigen. 
"Aus Wien, tatsächlich! Na, die wird gut mit Heurigem gespült sein!" 

Routiniert arbeiteten sich die beiden Chirurgen zur Beckenarterie und Beckenvene vor. Die Gefäße mußten vorübergehend abgeklemmt werden, geöffnet, dann wurden die Arterie und Vene der Niere angeschlossen ... und dann die Durchblutung durch Öffnen der Gefäßklemmen wiederhergestellt. Zum Schluß mußte man nur noch den neuen Harnleiter in die Blase des Patienten einpflanzen. Fertig.

"Bulldog!"

Schwester Marion reichte an.

"Stiel!"

Der Chefarzt tupfte.

"2. Bulldog!"

Man mußte sehr zügig arbeiten, damit die Durchblutung schnell wiederhergestellt werden konnte. Aber die Bedingungen waren optimal. Die Kollegen in Wien hatten bei der Entnahme der Organe sehr sorgfältig gearbeitet, und in Dr. Bögle hatte der Professor einen erfahrenen, brillanten Assistenten.

"So. Alles dicht?"
"Wir werden es gleich sehen! Ich öffne die Bulldogs!"
Es war immer wieder ein Wunder. Die Niere, die schlaff, unansehnlich, blaßbraun gewesen war, wurde durch das Blut des Patienten prall und leuchtend rostrot. 
"Sie erwacht zu neuem Leben, seht ihr?" 
Er hatte den Eingriff tausende, ach, Zehntausende von Malen durchgeführt, aber dieser Moment berührte ihn wie am ersten Tag.

Während sie die Einpflanzung des Harnleiters vorbereiteten, rief er plötzlich aus, "Schaut euch das an! Die Niere hat ihre Arbeit schon aufgenommen!"
Und in der Tat tropfte bereits der erste Urin aus dem Harnleiterende.

"Drittletzte Naht!" 
Professor Degener kündigte das Ende des Eingriffs an.

"Er wacht auf!" erwiderte der Narkosearzt.
"So, Herr Engling, alles fertig! Alles prima gelaufen! Schön schnaufen! Ja, nochmal! Tief einatmen! Alles gut! Die Niere ist ein Schmuckstück!"


"Herein!"

Es hatte an der Tür des Arztdienstzimmers geklopft. Philipp diktierte gerade seinen Bericht zu Frau Maroske.

"Was kann ich für Sie tun, Schwester Lily?"
"Herr Doktor Maschmann, ich weiß, unser Verhältnis ist eher angespannt, und das tut mir auch leid ... "

Der Stationsarzt sah sie überrascht an. 

"Angespannt? Sie haben mir das Leben zur Hölle gemacht! Hier! Omeprazol! Die nehme ich ihretwegen! Sie haben mir keine Chance gegeben! Sie haben es noch nicht einmal versucht. Schön, daß es Ihnen leid tut. Gibt es sonst noch was? Ich habe zu arbeiten."

Schwester Lily öffnete den Mund, um ihn gleich darauf wieder zu schließen. Es würde sie ihre Stelle kosten. Sie war verantwortlich. Sie würde hier keine neue Stelle finden, sowas sprach sich rum. Was sollte aus Hannes werden? Der kontaktscheue Junge hatte gerade in der Schule Freunde gefunden. Ein Ortswechsel wäre bestimmt nicht gut für ihn. 

Aber sie war ja selbst schuld. Sie hatte nachlässig gearbeitet. Selbst schuld. Das Echo in ihrem Kopf war ohrenbetäubend ... 

( Ich hatte gedacht, daß ich so etwas wie Schadenfreude empfinden würde, liebe Leser, liebe Freunde. Aber worüber? Daß ein Mensch gestorben ist? Daß ein anderer seine Arbeit verliert? Sicher nicht. Schauen wir lieber auf die neue Niere, die perfekt funktioniert! Und darauf, daß der frischgebackene Ärztliche Direktor an den Geburtstag seiner Schwiegermutter gedacht hat. Und das Nazem inzwischen einen Port bekommen hat ... was das ist? Das besprechen wir später!



Wirklich erstaunlich, wie verständig und vernünftig der kleine Nazem war. Er war erst sechs, aber reif wie ein Zehnjähriger. Man konnte sich mit ihm hinsetzen und ihm in aller Ruhe erklären, was zu tun nötig war. 

Dr. Hein nahm sich gern die Zeit. Zunächst einmal war die ganze Familie sehr nett - wann immer Frau Almansour etwas gebacken oder gekocht hatte, brachte sie auch ihm davon, in einer kleinen Tupperware-Dose - aber dieses Kind war etwas Besonderes. Wenn der Kleine ihn ansah, berührte das sein Herz. Es war kein apathischer oder trauriger Blick. Auch nicht fordernd, ängstlich, mißtrauisch. Dies Kind war stark, und voll ungebeugter Hoffnung. Viel stärker, und viel hoffnungsvoller, als alle Erwachsenen, die sich um ihn bemühten, zusammen. 

Er liebte Kinder, und dieses Kind besonders. Er selbst war leider kinderlos. Erst hatten sie geglaubt, daß es an Hilke lag. Der Frauenarzt hatte ihr allerdings beste Gesundheit bescheinigt und ihm eine Untersuchung beim Urologen empfohlen. Der Befund war niederschmetternd. Als Kind hatte er mal eine schwere Mumpserkrankung überstehen müssen, mit einer Hodenentzündung. Offenbar hatte das dazu geführt, daß seine Samenflüssigkeit keinerlei Spermien enthielt.

Ja, gut. Man hätte dem Hoden Gewebe entnehmen, Spermien suchen und dann in Hilkes Eizellen injizieren können. Erfolg: Ungewiß. Sie hatten lange geredet und sich dagegen entschlossen. Für eine Adoption waren sie angeblich zu alt, sagten die Behörden. Und dann hatten sie den Traum, der ihr Leben perfekt gemacht hätte, an den Nagel gehängt. Es war eben so. 

Und so sehr, wie er darunter litt, keine eigenen Kinder zu haben, so sehr ging er auf in dem Bestreben, von seinen kleinen Patienten Schäden abzuwenden. 

"Nazem soll einen Port bekommen", erklärte er Frau und Herrn Almansour, die mit dem Jungen gerade mit Buntstiften Kunstwerke auf Papier brachten.
Er erklärte, daß ein Port ein kleiner Plastikschlauch war, mit einer Art Knopf am Ende. Der Schlauch konnte flüssige Medikamente direkt in die Vene transportieren, und über längere Zeit verwendet werden. 

"Dann brauche ich dir nicht immer in den Arm zu pieksen, wenn ich dir Medikamente gebe oder dir Blut abnehmen möchte, verstehst Du? Hab keine Angst. Ich pflanze dir den Schlauch unter die Haut, und dann stört er dich nicht."

Herr Almansour fragte besorgt, "Nazem braucht Narkose?", aber der Kinderarzt beruhigte ihn. 
"Das geht in örtlicher Betäubung. Sie können sogar dabei sein und ihn ablenken. Und wenn der Port eingeheilt ist, beginnen wir mit der Chemotherapie."


Christian Degener besuchte seinen Patienten von letzter Nacht.
"Guten Morgen, Herr Engling! Na, gut geschlafen? Wie war die Nacht?"
"Unruhig, Herr Professor! Sehen sie mal ... "

Lachend zog der frisch transplantierte Patient eine Urinflasche aus Plastik aus ihrer Halterung am Bett. Sie war randvoll. Tatsächlich: Bis oben hin. 

Der Professor nahm die Flasche und sah sie an, als handele es sich mindestens um einen 1978er Mouton Rothschild.

"Großartig, Herr Engling. Wirklich. Die Niere konnte es ja im OP schon kaum noch abwarten! Ein wunderbares Organ. Möge es ihnen lange Freude bereiten!"

"Herr Professor?"
"Ja, bitte?"
"Danke. Tausendmal danke."

"Ist schon recht, Herr Engling", lachte der Professor. "Manchmal gelingt mir auch was!"


Frau Dr. Rummert herrschte erneut in der Notaufnahme. Ihr Lippenstift hatte einen tiefvioletten Brombeerton und sah damit so ähnlich aus wie die Farbe des 'Veilchens', das die gerade eingelieferte Patientin um das linke Auge herum aufwies. 

"Monokel-Hämatom links, Platzwunden an Stirn und Oberlippe, diverse Abschürfungen ... Machen sie sich bitte frei? Einmal hinter dem Vorhang?!" 

Die Patientin sah sich verschüchtert um und unsicher die Ärztin an. 

"BH und Höschen können sie anbehalten. Keine Angst, die Herren Pfleger bitten wir in der Zwischenzeit hinaus. Aber angezogen kann ich sie nicht untersuchen!"

"Du meine Güte", entfuhr es der Ärztin, als die junge Frau hinter dem Paravent hervortrat. Sie diktierte weiter:
"Diverse, bis zu 10 cm große Hämatome in verschiedenen Stadien, diverse, verschorfte Wunden und Abschürfungen ubiquitär im Bereich Thorax, Abdomen, und der Extremitäten. Fragliche Nasen- und Jochbeinfrakturen, wird noch durch Röntgen geklärt. CCT zum Ausschluß sub- oder epiduraler Hämatome empfohlen."

"Und was heißt das", fragte die Patientin? 
"Das heißt, daß wir dringend den Kopf untersuchen müssen, um Knochenbrüche zu erkennen und um sicher zu sein, daß sie keinen Bluterguß im Schädel haben. Das wäre nämlich alles andere als lustig. 
Verraten Sie mir, wie es zu diesem Zustand gekommen ist?"
"Ich bin die Treppe heruntergefallen, und gegen den Schrank im Flur geknallt."
"Und das tun sie täglich? Schauen sie: Dieser Bluterguß ist älter als eine Woche, der am Brustkorb ungefähr 3-4 Tage, diese beiden hier sind frisch!" 

Die junge Frau schwieg.

"Na gut. Ich nähe jetzt erstmal die Platzwunden im Gesicht. Keine Angst, ich bin gut in sowas. Ich nähe intrakutan, dann bleibt nachher nur ein feiner Strich, der abblaßt, und den sie leicht überschminken können - wir Mädels haben da ja so unsere Tricks, nicht wahr? So, das ist die örtliche Betäubung. Es piekst einmal kurz, dann haben sie's überstanden!" 

Das Röntgen zeigte tatsächlich einen Jochbeinbruch unter dem linken Auge. 
"Das muß gemacht werden. Sonst wird ihr Gesicht ganz schief! Das müssen die Kollegen von der Chirurgie drahten!"

"Wie lange dauert das?" 
"Ach, zwei bis drei Tage. Das geht ganz fix. Warum fragen sie?"
"Ich muß doch nach Hause. Mein Mann kommt allein nicht zurecht! Ich muß ihm doch seine Hemden bügeln. Und das Essen in der Werkskantine ist so schlecht! Wenn ich nicht koche, dann ißt er nicht richtig!"

Frau Dr. Rummert sah einigermaßen verdutzt aus. 
"Entschuldigung, aber ... es ist ganz offensichtlich, woher sie diese Verletzungen haben. Ihr Mann ist ein übler Schläger. Am liebsten würde ich ihnen eine Taxe bestellen, die sie direkt ins nächstgelegene Frauenhaus bringt."
"Das dürfen sie so nicht sehen, Frau Doktor! Ich bin ja auch schuld! Ich hab ihn provoziert, und er hat mir versprochen, daß er es nie wieder tun wird, weil er mich doch liebt!"
"Aha. Hören sie das nicht jedesmal, wenn er sie wieder verprügelt hat?" 
"Es ist doch auch schon weniger geworden. Und er schlägt nicht mehr so heftig."
"Also, wenn das hier nicht mehr so heftig ist, dann möchte ich nicht wissen, wie sie früher ausgesehen haben. - Gut, sie sind über 18, ich kann ihnen nur raten, und gegen ihren Willen kann ich nichts unternehmen. Ich muß eigentlich noch die Polizei ... "
"Bitte, keine Polizei! Auf keinen Fall!"
"Des Menschen Wille ist sein Himmelreich! Ein Bett auf der Chirurgie steht bereit. Alles Gute!"

Eine Schwesternschülerin, die Zeuge dieser Szene war, sah sie fragend an.
"Ich weiß, was sie jetzt denken, Schwester Anja. Glauben sie mir: Zu Beginn meiner Laufbahn habe ich gedacht, ich könnte Seelen retten und die Welt verändern. Irgendwann hab ich eingesehen, daß ich niemanden zwangsbeglücken kann. Ich tue alles, was in meiner Macht steht, wenn mich jemand bittet. Aber ich dränge mich niemals auf."


Professor Groonewald legte den Hörer auf die Gabel. Er hatte mit Sozialamt, Bundesamt für Migration und Krankenkasse telefoniert, um die Kostenübernahme für Nazems Therapie zu sichern. Das Ganze hatte mal eben eindreiviertel Stunden seiner Zeit gekostet. Er brauchte eine Stärkung. Gestern, der Cognac, hatte ihm gut getan. Ein Gläschen würde schon nichts schaden ... Bah! Das Zeug schmeckte eher nach Seife. Aber dies leise, warme Brennen hinten in der Kehle, das fühlte sich ganz angenehm an. 
Was hatte seine Frau gesagt? Du stinkst?
Irgendwo in seinem Schreibtisch mußten noch Pfefferminzbonbons sein ... 


"Schwester Lily, haben sie kurz Zeit?"

Die Stationsschwester schrak zusammen. Was passierte jetzt? Sie hatte seit zwei Tagen kaum geschlafen, und tiefe dunkle Ringe unter den Augen. 

"Ja, Dr. Maschmann."
"Gehen wir einmal ins Dienstzimmer?"

Sie folgte ihm. 

"Nehmen sie Platz, Schwester. Ich habe mitbekommen, daß sie alleinerziehende Mutter sind. Und ich weiß ja, daß sie eine hervorragende Krankenschwester sind - auch wenn ich Grund habe, an ihren menschlichen Qualitäten zu zweifeln. Aber ich bin nicht Gott, und Fehler passieren leider. Und nichts kann Frau Maroske wieder zum Leben erwecken. 
Ich bin weder rachsüchtig, noch glaube ich an Strafe. Die Strafe haben sie schon."

Er zog die Patientenakte von Frau Maroske aus dem Stapel. 
"Hier. Ich glaube, da muß was nachgetragen werden."

"Ich ..." 
Schwester Lily versagte die Stimme. 
Dr. Maschmann lächelte und streckte ihr die Hand entgegen.
"Frieden?"

Lily erhob sich und ergriff die Hand.
"Es tut mir leid, Herr Doktor. Wirklich. Und das hier ... das vergeß ich ihnen nie!"

( Ich bin selbst unsicher, ob ich Philipp Maschmanns Entscheidung richtig finde. Was meint ihr, liebe Leser, liebe Freunde? Hätte er den Vorfall anzeigen sollen? Oder wird hier mal wieder was vertuscht? 
Auch die Geschichte mit der geprügelten Frau aus der Ambulanz hängt mir nach. Komische Situation, oder?
Immerhin, die neue Niere arbeitet gut, und gegen einen Cognac zum Runterkommen ist doch wirklich nichts einzuwenden, oder? 
So, jetzt haben wir auch gelernt, was ein Port ist. Ungeheuer praktisch. Bald geht die Chemotherapie los. Kann man so etwas mit sechs Jahren verkraften ...? Aber das besprechen wir später. )




Frau Dr. Rummert schlief schlecht in dieser Nacht. Auch wenn sie es nicht zugeben wollte, aber ... die Patientin aus der Notaufnahme begleitete sie durch einen Alptraum, an dessen Ende sie schweißnaß, voller Panik aufschreckte und kerzengerade in ihrem Bett saß. Sie wußte nur allzu gut, was es bedeutete, einen prügelnden Mann und Vater zu Hause zu haben.

Es gab da durchaus Unterschiede. Sie stammte aus gutem Haus, ihre Eltern gaben fröhliche Parties und rauschende Feste, aber wehe, wenn ihr Vater etwas getrunken hatte. 

Sie merkte es sofort. Seine Aussprache wurde so seltsam nuschelig, seine Stimme mit jedem Satz lauter, bis hin zum Schreien. Er machte seiner Frau, ihrer schönen Mutter, eifersüchtige, haltlose Vorwürfe und unterstellte ihr Verhältnisse mit allen Herren ihres Bekanntenkreises. Daß diese die Unterstellungen bestritt, beantwortete er mit Schlägen. 

Irgendwie war es für sie dann auch keine Überraschung, daß ihr erster Freund sie nach dem Abtanzball ihrer Tanzschule, die sie gemeinsam besucht hatten, vergewaltigte. Sie hatte ihm vertraut. Sie war noch nicht so weit, und sie hatte ihn gebeten, angefleht, von seinem Ansinnen Abstand zu nehmen. Als er zudringlich wurde, hatte sie sich zunächst gewehrt, aber er war ihr körperlich überlegen und hatte sich mit Gewalt genommen, was sie zu geben nicht bereit war. 

Wenn sie in sich hineinhorchte, spürte sie ihn noch, den Schmerz ... er hatte ihr wehgetan, über die Grenze des Erträglichen hinaus. Und ihr hatte, nachdem sie sich endlich ihrer Mutter anvertraut hatte, man nicht geglaubt. Der Junge ging straffrei aus und, wann immer sie sich begegneten, grinste er  sie frech und triumphierend an. 

Es hatte Jahre gedauert, bis sie in der Lage war, sich einem Mann hinzugeben, ohne Angst und Widerwillen. Und eine dauerhafte Bindung, eine Beziehung, kam für sie nicht infrage. Eine Bekannte, der sie sich anvertraut hatte, empfahl ihr eine Psychotherapie. Aber wozu? Um Lust zu empfinden, brauchte man nicht zwangsläufig einen Mann. Und sie war drüber hinweg. Glaubte sie. Immerhin wurden die Abstände zwischen den Alpträumen länger ...


"Darf ich sie kurz unterbrechen, Herr Kollege? Lassen sie uns eben zu Familie Almansour gehen. Morgen beginnen wir mit der Chemotherapie. Nazems Blutwerte haben sich nicht verschlechtert?" 

Professor Groonewald hatte Dr. Hein im Dienstzimmer aufgesucht.

"Verschlechtert? Das ist kaum noch möglich", seufzte Uwe Hein sorgenvoll.
Was war denn mit seinem Chef los? Er hatte glasige Augen und schien mit dem Halten des Gleichgewichts Probleme zu haben.

"Geht es ihnen nicht gut, Herr Professor?"
"Ach, irgendwie habe ich was Unrechtes gegessen ... das wird schon wieder!"

Die Herren gingen nebeneinander über den Flur, wobei der Chefarzt sich gelegentlich durch Abstützen an der Wand stabilisierte, einen Pfefferminzbonbon lutschend.

"So, morgen geht es los! Da zeigen wir den Stammzellen, was 'ne Harke ist! Und wenn die fort sind, nehmen wir welche von Papa, und die machen dich wieder gesund. Einverstanden?"

Rashid Almansour übersetzte für seine Frau, die danach, genau wie ihr Mann, nickte und tapfer lächelte. Der Junge saß auf seinem Bett und sah den Ärzten sehr ernsthaft in die Augen.

"Sterben tut nicht weh, oder?"

Dr. Hein ging auf ihn zu und ergriff, sich auf die Bettkante setzend, die kleine, magere, wachsgelbe Hand. 

"Wieso fragst du das?"
"Die anderen Kinder haben gesagt, vielleicht sterbe ich."
"Die anderen Kinder haben keine Ahnung. Du stirbst natürlich nicht."
"Aber wenn doch? Tut das dann weh?"
"Tut dir Einschlafen weh?"
"Nein."
"Siehst du? Sterben ist ein wenig wie Einschlafen, nur, daß man viel länger schläft."

Er nahm das Kind in den Arm.

"Hab keine Angst, Nazem. Ich bin da. Ich passe gut auf dich auf."

Wie kannst du ein Versprechen geben, von dem du nicht weißt, ob du es halten kannst, du verdammter Idiot, sagte er auf dem Weg zurück ins Dienstzimmer zu sich selbst. Er hatte, während der Umarmung, das Herz des Kleinen gespürt. Es hatte heftig geklopft, als versuchte es, mit aller Macht das Leben zu erhalten. 
Du gottverdammter, blöder Idiot. Du lernst es nicht mehr, oder? 

Es dauerte eine ganze Weile, bevor Dr. Hein das Diktat der Entlassungsberichte fortsetzen konnte.


Kinder, Kinder. Ihm war schwindelig und schlecht, und jetzt spürte er, wie ein neuer Migräneanfall vom Nacken langsam zum Hinterkopf hochzog. Er würde sich dann von dort auf das linke Auge zubewegen, pochend, brennend, unerträglich. Und vor den Augen würde es flimmern, wie auf den Bildern, auf denen eine Oase in der Wüste, oder deren Luftspiegelung, zu sehen waren. 

Diese Übelkeit ...

Wie hatte er bloß die Visite überstanden? Gut, daß Hein so kompetent war. Auch wenn er sich immer etwas zu weit aus dem Fenster lehnte. Darüber würde noch zu reden sein. 
Ob ein kleiner Schluck ... man könnte es zumindest versuchen. Ibuprofen hatte er in der Schublade! Warum war die Flasche nur noch halbvoll? War da noch eine? Wenn nicht, mußte er bald eine kaufen. Immer gut, wenn man was zum Anbieten da hat.


"Guten Tag. Ist es möglich, den Stationsarzt zu sprechen?" 
"Guten Tag. Hatten sie einen Termin?"
"Nein, leider."
"Geht es um einen Patienten?"
"Um eine ehemalige Patientin, ja. Maroske ist mein Name, das ist meine Frau."

Schwester Lily erbleichte, behielt aber die Fassung.
"Bitte, nehmen sie doch einen Moment Platz. Ich schau mal, ob ich ihn finde!"

Dr. Maschmann saß im Arztdienstzimmer an seinem Schreibtisch und sprach mit einem Pharmareferenten, der ihm ein neues Mittel zur Behandlung des erhöhten Blutdrucks vorstellte. 

"Entschuldigung, darf ich kurz stören? Herr Dr. Maschmann, da sind Angehörige einer Patientin ... Maroske!"

Sie sah in mit aufgerissenen Augen an. Er ließ sich nichts anmerken.
"Einen Moment, bitte, Schwester Lily. Ich habe gleich Zeit. Bieten sie den Leuten doch einen Kaffee an!"

Herr Maroske war ein gut aussehender Mann, der zu einem schwarzen Anzug ein weißes Hemd und eine gedeckte, grünliche Krawatte trug. Seine Gattin war in ein schickes, etwas lautes, schwarz-gelbes Kostüm gehüllt und führte eine schwarzlederne Chanel-Tasche spazieren.

"Danke, daß sie Zeit für uns haben, Herr Doktor. Wir wollten noch einmal wegen meiner Mutter mit ihnen sprechen."
"Ja, natürlich. Darf ich ihnen zunächst einmal mein Beileid aussprechen ..."

Sie reichten sich die Hände.

"Ja, wir waren alle sehr erschrocken und bestürzt über den Tod Ihrer Frau Mutter. Aber es mag ihnen ein Trost sein, daß sie nicht lange gelitten hat. Die Obduktion hat eine Embolie ergeben, das ist ein schneller, gnädige Tod."
"Wie konnte es zu dieser Embolie kommen", fragte die schwarzgelbe Schwiegertochter.
"Ist denn eine Blutverdünnung nicht Standard?"
"Die hat sie gehabt, Frau Maroske. Aber sehen sie, manchmal wirken die Medikamente unterschiedlich bei unterschiedlichen Menschen, da steckt man nicht drin!"
"Verzeihen sie, Herr Dr. Maschmann, aber das überzeugt mich nicht wirklich. Ich möchte sie bitten, mir das Obduktionprotokoll und die vollständige Patientenakte auszuhändigen."
"Liebe Frau Maroske, das ist nicht so ohne weiteren möglich!"
"Nein? Lieber Herr Dr. Maschmann, ich bin Anwältin in der Kanzlei Dr. Stüven, Karanlik, Maroske und Partner, hier ist meine Karte. Wenn Sie darauf bestehen, gebe ich mich auch mit einer Fotokopie der kompletten Akte zufrieden, ich bestehe allerdings darauf, das diese jetzt und in meiner Gegenwart angefertigt wird. Ich möchte sie von einem unabhängigen Gutachter prüfen lassen."

Der Stationsarzt gab auf. Er zog die Akte aus dem vor ihm liegenden Stapel und sah sie in der schwarzen Chaneltasche versinken.
"Hier, bitte. Der Abschlußbericht ist noch nicht fertig."
"Das macht nichts. Der eilt ja nun nicht mehr, nicht wahr."

Die schwarzgelbe Anwältin und ihr grünlicher Gatte erhoben sich, wünschten noch einen schönen Tag, und waren verschwunden.

Schwester Lily bog um die Ecke.
"Was war denn?"
"Frau Maroskes Schwiegertochter ist Rechtsanwältin. Sie will die Akte überprüfen lassen."

Schwester Lily lies sich resigniert auf einen Stuhl fallen. 
"Großer Gott. Das hat mir gerade noch gefehlt."


"Ich halte diese Heimlichtuerei nicht mehr aus!"
"Na gut, dann machen wir eben Schluß. Ist es das, was du willst?"
"Das fällt dir ja leicht! Hast wohl schon 'ne Neue am Start, was?"
"Vielleicht?!"
"Grins nicht so überheblich, du Arschloch!"
"Was verlangst Du eigentlich von mir? Du spielst die Hauptrolle in meinem Leben, und das reicht immer noch nicht?"
"Laß dich scheiden."
"Bist du wahnsinnig? Ich zahle dann Unterhalt ohne Ende. Und bei deinen Ansprüchen ... wir werden kaum von deinem Gehalt allein leben können."
"Egal. Laß dich scheiden."
"Und was ist mit dir?" 
"Ich laß mich auch scheiden." 
"Komm, laß uns jetzt nicht darüber reden. Geil siehst Du aus in deinem Kittel ... sag mal, trägst du kein ...."


"Daß sie sogar an ihrem Geburtstag arbeiten, Herr Professor! Was sagt denn ihre Frau dazu?"
"Es ist ja erst der 49., Frau Hohengarten. Nächstes Jahr mache ich blau, versprochen. Meiner Frau ist das vermutlich egal. Wir leben getrennt, seit fünf Jahren schon."
"Ach, das tut mir leid ... ich rede mal wieder zu viel! Bitte verzeihen sie mir!"
"Das geht schon in Ordnung! Na, wie schaut's aus? Sollen wir dem bösen Blinddarm zu Leibe rücken?" 
"Wenn sie so gut sein möchten? Können Sie mir nicht auch gleich noch eine Schönheitsoperation verpassen?"
"Aber, gnädige Frau! Das habe sie doch gar nicht nötig!"
Sie kicherte.
"Sie Charmeur!"
"Nein, das wahr ganz ehrlich! So früh am Morgen mache ich noch keine Komplimente!"

"Skalpell, bitte, Schwester Marion!"

Diese reichte ihm das Instrument. Er straffte die Haut der Patientin und versuchte, das Operationsmesser anzusetzen. Seine rechte Hand wollte ihm nicht gehorchen. Sie zitterte, als er sich der Körperoberfläche näherte. Um so mehr, je dichter er kam. Er warf das Messer auf den Tisch der Schwester und hielt die Hand mit seiner linken Hand fest.

"Bögle, übernehmen sie, bitte. Ich bin gestern gestürzt ... ich dachte ... aber irgendwie ..."
"Schon recht, Herr Degener, kein Problem."

( Was ist denn jetzt schon wieder los, lieber Leser, liebe Freunde? Das ist Professor Degener ja noch nie passiert! Naja, so ein Sturz ... Allerdings: Mir ist nicht aufgefallen, daß das Handgelenk blau oder geschwollen oder verletzt gewesen wäre. 
Ach, Nazem! Kind, wenn du wüßtest, wie sehr dir alle die Daumen halten! Du hast mit dem Leben ja kaum angefangen! Und aus deinem Mund ein Wort wie 'Sterben' zu hören, ist unerträglich ...
Da wäre ich doch fast auf die Schnoddrigkeit von Frau Dr. Rummert reingefallen! Sie verbirgt ihre Blessuren ja wirklich gut, oder? Doch, sie sollte eine Therapie machen. Oder? 
Und für das Kapitel 'Maroske' ist offenbar eine Fortsetzung vorgesehen. Aber das besprechen wir später. )





Was war mit dem Alten los? Der hatte ja gezittert wie ein Alkoholiker! Ganz schlecht für einen Chirurgen, auch wenn's nur ein Blinddarm ist. 
Gar nicht schlecht. Wenn Degener abgesägt würde, hätte er als erster Oberarzt gute Chancen, seine Nachfolge anzutreten. 

Endlich! Er hatte schon Stellenanzeigen geprüft und sich auf Kongressen und Konferenzen mit seinen Chefarztambitionen ins Gespräch gebracht. Sein einziges Manko war, daß er seine Habilitationsschrift noch nicht fertig hatte. Aber gäb's eine Hausberufung, könnte er hier chirurgischer Chefarzt werden, wäre das zunächst einmal egal.

Vielleicht könnte er, Andreas Bögle de Araujo, ein wenig nachhelfen, seinen Chef zu diskreditieren? Er hatte immer Glück gehabt. Sein Studium, die Facharztausbildung, alles war ihm irgendwie zugefallen. Und wenn es einmal problematisch wurde, verwies er darauf, daß Deutsch nicht seine Muttersprache war und Mißverständnisse einzig durch ein Verständigungsproblem, nicht aber durch Unwissen oder mangelndes Talent zustande gekommen waren.

Außerdem war sein Äußeres bestechend, seine Umgangsformen untadelig, und er war ein charmanter Plauderer - kurz: Ein Blender. Er behandelte die Assistenzärzte schlecht und schob die Schuld gerne diesen zu, wenn mal wieder etwas nicht funktionierte. Vor dem Chef spielte er die Rolle des Bewunderers, was ihm den Beinamen "der Schleimer" eingebracht hatte. 

Dabei war er kein übler Mensch. Er war der Älteste von drei Kindern, seine Eltern luden ihm alle Pflichten auf, seine beiden kleinen Brüder durften sich ungestraft Dinge herausnehmen, für die er Sanktionen zu erwarten gehabt hätte. 

Sein Vater lobte ihn nie. Alles, was er leistete, war selbstverständlich, und nichts war je gut genug. Seine Mutter war eine kalte, leidenschaftslose Frau, die irgendwann mit einem anderen Mann durchbrannte. Weder für ihre Kinder, noch für ihren Mann, hatte sie etwas empfunden. Ehrlich? Ihm war es kaum aufgefallen, daß sie fehlte. Die Haushälterin putzte und kochte. Und Mama hatte sich ohnehin nie gekümmert.

So war er lebenslang Gefangener der Sehnsucht, einmal, nur ein einziges Mal von seinem Vater eine Anerkennung zu erfahren, ein Lächeln, oder ein Kopfnicken. Er war bereit, dafür über Leichen zu gehen. Und wenn es die seines Chefs war.

"Drittletzte Naht!
"Na, dann wollen wir die Dame mal aufwachen lassen!"


Nazem vertrug den ersten Tag seiner Chemotherapie gar nicht schlecht. Dr. Hein hatte oft an seinem Bett gesessen und ihm vorgelesen. Meist die Märchen von Hans Christian Andersen, obwohl die eigentlich etwas zu schwer für ihn waren. Und zwischendurch hatten sie Bilderbücher angesehen. 

"Ich habe mit der Kollegin Carola Arndt von der Mayo-Klinik telefoniert. Sie ist die führende Spezialistin für Blut- und Knochenmarkserkrankungen im Kindesalter. Wir sind auf einem guten Weg."
Professor Groonewald klang optimistisch. 

"Das muß auch so sein", sagte Uwe Hein fast ein wenig trotzig.
"Ich habe es versprochen."
"Herr Hein, das wollte ich mit ihnen gern diskutieren. Sie wissen, daß man in der Medizin, schon gar bei einem so schwierigen Fall, weder Garantien noch Heilungsversprechen abgeben kann. Bitte halten sie sich künftig unbedingt zurück."
"Hätte ich die Hoffnung zerstören sollen, Herr Professor?"

Der Chefarzt seufzte. 

"Ich weiß nicht, Herr Hein, was schlimmer ist: Hoffnung zu zerstören oder falsche Hoffnungen zu wecken. Wir sind Naturwissenschaftler. Wir arbeiten methodisch. Und wir können Risiken einschätzen. Bitte halten sie sich an Daten und Signifikanzberechnungen."

Ja, gerne. Nächstens sage ich den Eltern auf die Stelle hinter dem Komma genau, wie hoch die Chance ihres Kindes ist, an der Erkrankung zu versterben. 

Aber das sprach er nicht laut aus, auch wenn er innerlich brüllte.

Professor Groonewald schüttelte zwei Chlorophyll-Tabletten aus der Plastikdose und steckte sie in dem Mund. Er hatte sie unter einem Vorwand beim Apotheker der Klinik-Apotheke bestellt. Erstaunliche Wirkung. Seine Frau hatte nichts gerochen. Zumindest hatte sie nichts gesagt. Dabei hatte er gestern anläßlich des Geburtstages seines Kollegen Degener einen Whisky gekippt, und später auf einer Fortbildung noch Sekt zur Begrüßung erhalten. 

Er fühlte sich entspannt. Perfekt.


"Was sollen wir machen? Der Patient sagte uns, daß er ein alter Bekannter ist und seine komplette Krankengeschichte hier erfaßt ist. Der Hausarzt hat die Einweisung gezielt für die Barmherzige Ingela ausgestellt. Wohin hätten wir ihn ihrer Meinung bringen sollen, Frau Doktor Rummert?"

"Leute, der Patient ist ein Pflegefall! Metastasiertes Prostatakarzinom. Wir sind ein Akutkrankenhaus! Wir können uns nicht die Betten mit moribunden Patienten füllen!"

"Noch bin ich nicht tot. Moribund, ja. Aber noch nicht tot! Leider!"
Der Patient stieß stöhnend die Worte hervor.
"Außerdem, was heißt schon moribund? Sterbend? Sterbend sind wir alle, oder?"
"Herr Knobloch, ich bitte sie in aller Form um Entschuldigung. Das war nicht für ihre Ohren bestimmt. Verdammte Nachlässigkeit von mir, ich weiß. Aber glauben sie mir bitte: Spätestens übermorgen schickt uns die Krankenkasse täglich Anfragen, was sie hier eigentlich machen."

"Was soll ich tun?"

"Ich habe eine Idee. Wir legen ihnen eine Morphium-Pumpe, und ihre Anämie beseitigen wir durch schicke Transfusionen. Na? Gute Idee?" 

Der Patient, der nur aus Haut und Knochen zu bestehen schien, winkte die Ärztin heran.

"Geben sie mir was, Frau Doktor. Irgendwas, damit es schnell geht, und damit ich es endlich hinter mir habe. Ich mag nicht mehr. Ich kann nicht mehr. Ich habe ohne Ende Schmerzen, und ich nehme wahr, wie der Krebs mich von innen her auffrißt. Glauben sie, daß ich nicht merke, wie die Besucher sich erschrecken, wenn sie mich sehen? Und Erschrecken ist noch die beste Reaktion. Einige haben Angst, ich könnte sie anstecken, die anderen ekeln sich schlicht. 
Bitte, können wir das nicht beenden?"

Gottseidank muß ich das nicht entscheiden, dachte die Ärztin. 

"Das müssen sie, lieber Herr Knobloch, mit den Kollegen auf der Station klären. Aber ich sage ihnen offen: Ich könnte das nicht. Ich würde mich wie eine Mörderin fühlen. Ich bin ja Ärztin geworden, um Leben zu verlängern, nicht, um es zu beenden."
"Würden Sie das auch sagen, wenn ich ihr Vater wäre?"

Frau Dr. Rummert lächelte bitter. Sie legte dem Patienten eine Braunüle für die Infusion.
"Ich denke darüber nach, Herr Knobloch. Ich verspreche es ihnen. Ich denke darüber nach."


Christian Degener saß beim Neurologen im Wartezimmer. Er hatte einen Kollegen in der nächst größeren Stadt aufgesucht. Man konnte nie wissen, über welch seltsamen Wege Botschaften sich verbreiteten. 

Aber er haßte es von Herzen, hier zu sein. Krank waren die anderen. Er war schließlich Arzt. Er war von Krankheit, Leid und Tod ausgeschlossen. Er gehörte nicht hierher. Er stand auf der anderen Seite. 

Unruhig stand er auf und wanderte umher. Wie lange es wohl dauern würde? Was würde der Kollege sagen? 
Wie oft hatte er schon Patienten schlechte Neuigkeiten verkünden müssen! Sein Motto war 'Immer gerade heraus, immer die Wahrheit'. Jetzt gerade war er nicht ganz so sicher, ob das in jedem Fall die richtige Taktik war.

"Herr Degener? Dr. Petlek hat jetzt Zeit für sie!" 
Die hübsche junge Sprechstundenhelferin lächelte ihn freundlich an und hielt ihm eine Tür auf.

"Degener, Degener? Da gibt es in der Nachbarstadt einen Chefarzt, Chirurg, glaube ich, der heißt auch so wie sie! Sind Sie verwandt oder verschwägert?"
"Ich bin es selbst!"
"Ich freue mich, sie kennenzulernen, Herr Kollege! Wieso haben sie sich so bescheiden angemeldet?"
"Ach wissen sie, ich wollte kein Aufheben um meine Person ... aus begreiflichen Gründen."

Dr Petlek nickte, rückte die randlose Brille gerade und kratzte sich den Bart. 
"Chirurg sind sie? Das könnte ein Problem geben."
"Schonen Sie mich bitte nicht, Herr Kollege."
"Sehen sie hier?"

Der Neurologe hielt ein Röntgenbild, eine Kernspin-Computertomografie, vor einen Leuchtschirm.

"Es fällt sofort auf. Hier finde ich ein verstärktes Signal in der Schwarzen Substanz des Gehirns, was die Diagnose recht eindeutig macht. Morbus Parkinson. Wir machen noch einen L-Dopa-Test, um die Diagnose zu sichern, aber in Zusammenschau mit ihrer Vorgeschichte: Kein Zweifel."

"Das ist die schlimmste Nachricht, die sie einem Chirurgen überbringen können. Wie lange hab ich noch, bis aus mir ein sabberndes Wrack wird?"
"Nicht doch, Herr Degener. Levo-Dopa, Mao-Hemmer ... es gibt so viel, was man einsetzen kann. Ich gebe allerdings zu, daß es Probleme mit ihrer operativen Tätigkeit geben dürfte. Beim kleinsten Mißgeschick, das passiert, wird ihre Haftpflichtversicherung, der sie die Erkrankung melden müssen, sofort die Zuständigkeit negieren. Gibt es die Möglichkeit, ein anderes Betätigungsfeld zu finden? Gutachterliche Tätigkeit, zum Beispiel?"

Christian Degener sah den Neurologen traurig an.

"Das ist so, als ob sie dem Chefkoch sagen, er solle ab jetzt Kartoffeln schälen."
"Ich verstehe sie, Herr Degener. Aber wenn dieser Chefkoch gerade seinen Geschmackssinn verloren hat?"


"Na? Fällt dir was auf?"
"Du hast abgenommen?"
"Wieso sagst du das? Findest du, daß ich abnehmen sollte?"
"Nein, natürlich nicht. Aber du hast gefragt, und ich habe gedacht, daß du vielleicht ..."
" ... sag es schon. Na los! Du findest mich fett!"
"Red keinen Blödsinn. das hab ich nie gesagt!"
"Bitte, wenn ich nur Blödsinn rede, kann ich ja gehen. Es liegt mir fern, dich zu langweilen!"
"Die Frisur ist neu! Du warst beim Friseur!"
"Gerade noch rechtzeitig. Wobei, es ist nur etwas kürzer, aber die Farbe ist neu!"
"Ja, ganz toll! - Was ist das eigentlich? Rot?"
"Rot? Rot? Das ist Glossy Kupferrot intensiv mit Pro-Keratin, Ceramid und Collagen, mit kirschroten Reflexen geboostet. Für die sinnliche Frau voll geheimnisvoller Erotik!"
"Wunderschön!"
"Du sagst das so komisch!?"
"Nein, wirklich! Wunderschön!"
"Ich dachte, ich erfinde mich noch einmal neu. Es kommt eben der Moment, da hat man als Frau das Bedürfnis, sich noch einmal auszuprobieren. Noch mal neu durchzustarten."
"Das kann ich verstehen."
"Du brauchst nicht zu glauben, daß ich nicht merke, wenn Du sarkastisch wirst. Das ist so typisch ... Männer!"
"Jetzt bleib doch da!"

Eine Tür fällt ins Schloß.


"Guten Tag, Winkler, Pathologie. Ist es möglich, Dr. Maschmann zu sprechen?"
"Moment, bitte!"
"Maschmann?"
"Hallo Herr Maschmann, es geht um meine Obduktion bei ihrer Patientin, Frau Maroske. Ich wollte Ihnen nur mitteilen, daß die Leiche heute in die Gerichtsmedizin transferiert wurde. Offenbar kommt da noch was auf sie zu. Bleibt unter uns, ok?"

( In der Literatur, liebe Leser, liebe Freunde, muß es zum Protagonisten, also zur handelnden Person, immer einen Antagonisten geben. Der ist das Salz in der Suppe. Er wirft sich dem Protagonisten in den Weg, kann ihn aber auch unterstützen. Aha. Was wirft sich da Professor Degener in den Weg? Der ehrgeizige Oberarzt? Die Erkrankung? 
Was steht Dr Maschmann im Weg? Schwester Lily und er sind ja neuerdings Verbündete. Die Rechtsanwältin? 
Und Professor Groonewald? Der Alkohol?
So ist das in Krankenhäusern. Dort, wo Menschen miteinander umgehen müssen, findet man zu jedem Mit- auch einen Gegenspieler. 
Wer der Gegenspieler von Frau Dr. Rummert wird - oder ob sie selbst der Gegenspieler ist -, das besprechen wir später. )






Die Zeitung war ein voller Erfolg gewesen. Seine Schwiegermutter hatte sich sehr gefreut, das Blatt sofort aufgeschlagen und zu dem einen oder anderen Artikel Stellung bezogen ... das Blatt versetzte sie in die Vergangenheit, ihre Vergangenheit, aber dagegen war ja nichts einzuwenden.

Professor Groonewald hatte mehr als einmal auf das Wohl der Jubilarin angestoßen, was ihm kritische Blicke seiner Gattin bescherte. Sie kam sogar auf ihn zu und zischte ihm ins Ohr, "Trink nicht so viel! Den Leuten fällt das schon auf!"

Die Leute, ach Gott! Die sollten sich mal nicht so haben! Würde man es drauf anlegen, fände man doch bei jedem irgendwas, oder? Was hatte seine Mutter immer gesagt? Unter jedem Dach ist ein Ach, oder so. 


Dieser Zustand war unerträglich. Dies Warten auf etwas Unangenehmes ... schrecklich. Warten war ohnehin nicht ihre Stärke. Mit Geduld hatte die Stationsschwester es nicht so. 
Damals, der Termin vor dem Scheidungsrichter ... er hatte sich auch verzögert, weil dem Paar vor ihnen eingefallen war, sich zu versöhnen, bevor das Urteil ausgesprochen wurde. So was Blödes! Das wäre für Daniel und sie damals nicht infrage gekommen. Sie hatte viel zu früh geheiratet, um der überbordenden, erdrückenden Liebe ihrer Mutter zu entkommen. Diese Liebe nahm ihr die Luft zum Atmen, sie forderte, sie schränkte ein, sie zeigte sich eifersüchtig. 

Da stand er plötzlich vor ihr. Daniel, mit seinem strahlenden Lächeln, seinem Charme, seinem Humor. Aber dann wurde sie schwanger, und Hannes war ein unruhiges und schwieriges Kind gewesen. Als der Kinderarzt die Diagnose Asperger stellte, war sie nicht überrascht. Sie versuchte ihr Bestes, um das Kind zu fördern. 

Daniel jedoch konnte damit nicht umgehen. Er hatte sich einen Sohn gewünscht, ja, aber einen Sohn zum Fußballspielen, Angeln, Klettern. Hannes entwickelte sich zu einem in sich gekehrten Kind und hatte keine Freude an derlei Aktivitäten. 

Irgendwann hatte sie eine SMS auf seinem Mobiltelefon gelesen. Nur eine Zeile. "Hab Dich lieb!" stand da. Und sie hatte die Zeile nicht geschrieben.

Ihr wurde Sorge- und Aufenthaltsbestimmungsrecht zugesprochen, Daniel ein regelmäßiges Besuchsrecht, das er aber nur höchst unregelmäßig in Anspruch nahm. Zweimal hatte Hannes schon dagesessen, mit seinem kleinen Rucksack voll unentbehrlicher Dinge, die er mitnehmen wollte auf den Ausflug mit Papa, als dieser buchstäblich in letzter Minute absagte. Wenn Hannes dann den Kopf mit den verstrubbelten blonden Haaren voll Enttäuschung hängen ließ und den Rucksack wieder auspackte, zerriß es ihr das Herz.

Sie hatte für ihr Kind gekämpft wie eine Löwin. Und alles lief gut. Sie hatte Arbeit, Hannes war gut in der Schule, hatte zwei Freunde und seinen Therapeuten, den er akzeptierte. Und jetzt war alles in Frage gestellt. Alles war in Gefahr. Dr. Maschmann hatte sich hinter sie gestellt. Obwohl sie so eklig zu ihm gewesen war. Warum, das konnte sie sich selbst nicht beantworten. Und dann kam diese Anwältin! 

Was, wenn sie nun doch noch die Stelle verlor?

Hartmut Engling stellte sich zur Kontrolle bei Professor Degener vor.
"Na, Herr Engling? Wieder Robin Lang?"

Herr Engling sah von seinem Kindle auf und erhob sich lächelnd. 
"Nein, diesmal "Staub von den Sternen", von der Konrad!"

Blutwerte, Ultraschall, Allgemeinbefinden waren hervorragend. 
"Sollte das Transplantat seinen Dienst aufkündigen, komme ich wieder zu Ihnen, Herr Professor!"
"Wenn ich dann noch da bin, Herr Engling! Wenn ich dann noch da bin!" 

Es sah nicht gut aus. Durch eine Indiskretion war bekannt geworden, daß er an der Parkinson'schen Erkrankung litt. Es hatte ihn überrascht, zum 
ärztlichen Direktor und zum Verwaltungsleiter zitiert zu werden, und er fragte sich, ob vielleicht jemand das verräterische Rezept vom Kollegen Petlek auf seinem Schreibtisch gefunden und die richtigen Schlüsse daraus gezogen hatte. 

Der Verwaltungsleiter hatte ihm das Ausscheiden aus dem Dienst mit einer großzügigen Abfindung nahegelegt. Der erste Oberarzt ersetzte ihn ja bereits als Operateur. Man bedauere, aber er müßte das verstehen. Offenbar kam eine Schadensersatzforderung wegen eines Todesfalls auf der Kardiologie auf das Haus zu, eine weitere Klage könnte man nicht verkraften.


Whatsapp-Nachricht Nr. 1: "Gestern hat mir eins klar gemacht. Wir verstehen uns nicht mehr. Streitereien wie die gestern habe ich auch zu Hause. Sei nicht böse, aber ich möchte das beenden. Ich wünsch Dir alles Gute!"

Whatsapp-Nachricht Nr. 2: "So servierst du mich ab? Mit dem Handy? Sehr stilvoll! Danke. Gerade noch rechtzeitig. Aber so billig kommst du mir nicht davon!"

"Wie geht es Ihnen, Herr Knobloch?"
"Frau Doktor Rummert ...!"

Die Ärztin der Notaufnahme sah in überraschte Augen. Der schwerstkranke Patient lächelte gequält.

"Mit der Infusion ist es erträglich. Aber glauben sie mir bitte. Schmerzen habe ich immer noch, trotz Morphium. Haben sie über unser Gespräch nachgedacht?"
"Ja, Herr Knobloch. Und ich gebe zu, daß ihre Bitte berechtigt ist. Aber wie stellen sie sich das vor? Ich komme mit der Giftspritze und sehe Ihnen beim Sterben zu?"
"Es muß keine Spritze sein. Vielleicht eine Tablette, die zufällig auf meinem Nachttisch steht. Und die ich zufällig herunterschlucke. Und dann schlafe ich ein, und meine Qual hat ein Ende."

Frau Dr. Rummert beugte sich über den Patienten und küßte ihn auf die Stirn.
"Das war gegen die Vorschriften, Herr Knobloch. Ich hoffe, daß sie sich nicht über mich beschweren werden."

Sie lächelte, als sie den Raum verließ.


Das kommt dabei raus, wenn man sich nur über seinen Beruf definiert, dachte Christian Degener. Für ihn hatte es nie etwas anderes gegeben im Leben. Immer nur die Medizin, und dann die Chirurgie. Er hatte eine beispiellose Karriere hingelegt, leider war alles andere dabei auf der Strecke geblieben. Vom Unfalltod seiner Eltern hatte er durch den Anruf einer Nachbarin erfahren, Freunde besuchten ihn seltener und seltener, bis sie ganz fortblieben, und auch seine Beziehung zu Karen war letztlich an seiner Berufung zerbrochen. 

Er war nur durch die Dankbarkeit seiner Patienten glücklich zu machen. Er fühlte Liebe nur durch Erfolg und Anerkennung, dankbare Blicke der Patienten, lobende Worte der mit ihm operierenden Ärzte, den Applaus auf Kongressen, wenn er solide, belastbare Daten und großartige Resultate präsentieren konnte. Einige Male war er im Fernsehen und im Radio als Experte aufgetreten, anschließend war die Poststelle in der Klinik zusammengebrochen, weil er so viel Zuschauer- und -hörerpost von Menschen, die sich von ihm, und nur ihm, behandeln lassen wollten, erhielt. 

In dieser Popularität, die natürlich auch durch seine Fähigkeit untermauert wurde, badete er, er kuschelte sich förmlich hinein wie in einen warmen, wolligen Mantel.

Christian ging durch die Stadt. Er trank einen Latte macchiato in dem Café, in dem Karen und er sich damals kennengelernt hatten. Vorbei an dem Gymnasium, seiner alten Schule, führte sein Weg ihn in den Stadtpark mit dem Ententeich. Wie oft hatte er als Kind dort an der Hand seiner Mutter den Enten altes Brot zugeworfen. 

Da drüben die Buchhandlung. Nicht mehr ganz zeitgemäß. Heute bestellte man Bücher ja im Internet. Er hingegen blieb dem Laden treu. Herr Neubauer bestellte und schickte die Bücher durch seinen Auszubildenden in die Klinik, Dienst am Kunden. 

Den Abschluß seines Spaziergangs bildete ein Besuch im Seidelbaststeig. Dort stand das schöne, hochherrschaftliche Haus, in dem Karen und er gute und leider zum Schluß auch schlechte Jahre erlebt hatten. Er hatte in Kliniknähe eine Wohnung gemietet, sie lebte nach der Trennung hier allein. 

Er hielt inne und sah zu einem bestimmten Fenster hinauf. 
Er würde jetzt klingeln. Vielleicht war Karen zu Hause. 
Nein.
Nein, kein Mitleid.

Er kehrte zum Park zurück, setzte sich auf eine Bank und schluckte ein paar Tabletten herunter. Das letzte, was er wahrnahm, bevor er das Bewußtsein verlor, war eine junge Frau in einem hellen Mantel, mit einem kleinen Jungen an der Hand, der, fröhlich umherspringend, Enten fütterte ...



"Du weißt schon, daß du mir noch einen Kaffee schuldest", lachte Pfleger Chris. Dr. Maschmann sah müde aus.
"Ich weiß. Aber ich glaube, ich bin im Moment gerade kein besonders witziger Unterhalter, Chris."
"Du mußt mich nicht unterhalten, Philipp. Aber ich bin ein guter Zuhörer - wer weiß?"

Zu ihrer Überraschung sahen sie im Café den chirurgischen Chefarzt, der über ein Glas mit milchkaffeebrauner Flüssigkeit gebeugt dasaß. Er schien derartig in Gedanken versunken, daß er die beiden nicht wahrnahm. 

"Sag mal, ist das nicht ... Guck da jetzt bloß nicht hin!"

Sie suchten sich einen ruhigen Tisch im hinteren Teil des Raumes und bestellten zwei Schalen Melange.

"Ich hatte gehofft, daß die ganze häßliche Geschichte irgendwie glimpflich gelöst werden könnte", eröffnete Chris die Unterhaltung. 
"Lily ist dir übrigens kolossal dankbar. Und sie schämt sich, daß sie dir gegenüber so ekelhaft war."

"Die Geschichte holt uns ein, Chris. Dem Gutachter ist aufgefallen, daß der Leichnam an den Stellen, an denen man Heparin subkutan spritzt, keine Einstichstellen oder Hämatome aufweist. Das bedeutet: grobe Fahrlässigkeit, Urkundenfälschung, uneidliche Falschaussage. Mich kann das die Approbation kosten, und Lily den Job."
"Ach Mensch, du armer Kerl!"

Der chirurgische Chef erhob sich, zahlte und verließ das Etablissement.

Chris hatte Philipps Hand in seine genommen. Dem Beobachter wäre aufgefallen, daß Chris seine Hand eine Sekunde zu lang hielt, und Philipp seine Hand eine Sekunde zu spät wegzog. 
Allerdings war kein Beobachter in der Nähe.

"Du warst immer sehr nett zu mir, Chris. Von Anfang an. Danke dafür."
"Das war nicht weiter schwer. Ich mochte dich. Von Anfang an."
"Würdest Du mich auch noch mögen, wenn ich Zeitungen austrage, und im Supermarkt an der Kasse sitze?"
"Nein. Dann natürlich nicht mehr. Ganz ausgeschlossen."

Philipp sah Chris überrascht an. Der grinste breit. Philipp begriff.
"Saukerl", sagte er leise. 

( Ich wundere mich darüber, liebe Leser, liebe Freunde, daß man sogar, wenn man nicht trinken will, immer wieder mit Alkohol konfrontiert wird. Auf Fortbildungen und Empfängen, bei Feiern und Veranstaltungen ... In Gebäck, Süßspeisen, Pralinen ... überall Alkohol. Schwierig, dieser Droge auszuweichen, nicht wahr? 
Ich weiß: Das problematische Leben, das Schwester Lily führt, ist keine Entschuldigung. Kann es eine Erklärung sein? Was soll aus Hannes werden? 
Und was bedeutet ein Satz wie "Aber so billig kommst du mir nicht davon"? Das ist doch eine Drohung, oder etwa nicht? 
Immer schlecht, wenn man frei nach Epiktet, "sein Schiff an einen einzigen Anker, und sein Leben an eine einzige Hoffnung bindet". Deswegen sitze ich hier ja auch und schreibe nicht Antibiotika oder Schmerzmittel auf, sondern Geschichten.
Medikamente können manchmal tödlich sein ... aber das besprechen wir später. )




Frau Dr. Rummert klopfte. Keine Reaktion. Auch ein abermaliges, nachdrücklicheres Klopfen blieb unbeantwortet. Dabei hatte sie vor, einem Patienten ein Geschenk zu machen, in Form einer kleinen, violetten Tablette in einem schnapsglasgroßen, hellgelben Plastikbecherchen. 

"Entschuldigung, Schwester ... wo ist denn Herr Knobloch geblieben?"
"Bei seinem Schöpfer, Frau Doktor. Herr Knobloch ist heute morgen um 6:45 Uhr verstorben."
 
Sie öffnete die Tür. In der Ecke stand ein leeres Bett mit abgezogener Matratze, auf diesem ein blauer Plastiksack, in dem einige Habseligkeiten steckten. Der Beutel, sonst für Müll verwendet, war mit Pflasterstreifen verschlossen. Ein solches Pflaster klebte auch quer auf dem blauen Kunststoff. Auf diesem war mit schwarzem Filzstift "Knobloch, Michael *06.10.33" vermerkt.

Das also war es, was von einem Menschen übrig blieb. Ein blauer Müllsack, mit Bademantel, Hausschuhen, Waschutensilien, einem Wecker, vielleicht einem Buch oder einer Illustrierten ... einer Brieftasche mit ein paar Euro, falls man im Kiosk etwas kaufen wollte, oder telefonieren, und einem Personalausweis, der bewies, daß es einen gegeben hat.

"Ich habe es mir überlegt, Herr Knobloch", sagte Frau Dr Rummert zu dem blauen Sack. 
"Ich habe es mir überlegt."

"Tschuldigung", trompetete ein grobschlächtiger Mann vom Hol- und Bringedienst, "aber das Bett muß zum Aufbereiten in die Bettenzentrale!"

"Walten sie ihres Amtes", schlug Frau Dr. Rummert vor. 
Die violette Tablette spülte sie in der Toilette herunter. 

Nazem hatte die Chemotherapie und auch die Stammzelltransplantation sehr gut überstanden. Er hatte ein-, zweimal gekotzt wie ein Reiher, und die Mundschleimhaut sah zum Fürchten aus, aber Dr. Hein beruhigte ihn und seine Eltern.
"Das heilt wieder, keine Sorge."

Der Junge bekam einen Saft und eine Tablette. Medikamente, um eine eventuelle Abstoßungsreaktion zu verhindern. Von Tag zu Tag ging es ihm besser, er wurde munterer und die Farbe kehrte in sein Gesicht zurück. 

Dr. Hein hätte singen und tanzen mögen, so froh war er. Die Entlassung des Kindes war auf den nächsten Tag angesetzt worden, in der Nacht vorher hatte er Dienst. 

Er saß an seinem Schreibtisch und las einen interessanten Artikel in der "Klinischen Pädiatrie", als plötzlich die Tür sich langsam öffnete. Nazem kam herein, ging auf ihn zu, und ergriff seine Hand. Und ehe er sich's versah, hatte der Junge seine Hand geküßt und sie dann an seine Stirn gezogen.

Dem Stationsarzt war diese Geste nicht angenehm, aber er ließ sie zu. Er kniete sich vor den Jungen hin und schloß ihn fest in seine Arme. Er spürte das klopfende Herz, wie damals, als man befürchten mußte, daß es bald zu schlagen aufhören würde. Aber der Junge hatte sich das Leben zurückerkämpft. 



Erstaunlich, wie viel Menschen an der Leiche des Chefarztes vorbeigegangen waren. Man hatte wohl angenommen, daß er eingenickt war, erschöpft vom Spaziergang, oder vielleicht auch ein Glas zu viel getrunken hatte. 
Ein Kind hatte ihn angestupst und nach der Uhrzeit gefragt, dabei war er zur rechten Seite gekippt und hatte sich nicht bewegt. Da endlich hatte man bemerkt, daß der Schlaf, der von Christian Degener Besitz ergriffen hatte, der letzte, ewige Schlaf war, aus dem es kein Erwachen mehr gab.

Die Nachrufe hätten Professor Degener gefallen. Das ärztliche Direktorium, die Ärztekammer, die Kassenärztliche Vereinigung, der Oberstadtdirektor, die katholische Kirche und die Verwaltung der Klinik überschlugen sich förmlich und lobten seine ärztliche Kunst, seinen unermüdlichen Einsatz, seine tiefe Menschlichkeit, sein umfassendes Talent. Eine Traueranzeige von Karen Degener allerdings suchte man vergebens im Blatt, aber die wäre, angesichts der vielen halb- und ganzseitigen Anzeigen, vermutlich kaum aufgefallen. 

In der chirurgischen Klinik trat der ehemalige Oberarzt Dr. Bögle de Araujo vor die Kollegen. Sein Freund und Mentor, der große Degener, hätte ein schwieriges Erbe hinterlassen, das nun auf seinen Schultern lastete. Er beschwor die Einigkeit, Loyalität und Stärke der Abteilung. Er dankte den Beteiligten für die Berufung zum Chefarzt und endete voll Pathos mit den Worten, "Laßt uns die Arbeit anpacken und in Christian Degeners Sinne fortführen."


Mein Gott, dieser Bögle! Nur Gesülze. Und er war nicht mal halb so gut wie Degener!

Professor Groonewald war zufrieden mit seiner Situation. Der kleine Syrer war heute morgen entlassen worden, und er hatte die langweilige Antrittsvorlesung von diesem portugiesischen Schönling heil überstanden. 
So. Eine kleine Stärkung, dann mußte er zum Studentenunterricht. Die Universität hatte die "Barmherzige Ingela" zum akademischen Lehrkrankenhaus ernannt, was eine Herausforderung für die Logistik und ein erhebliches Mehr an Arbeit darstellte.

Wo stand bloß die Flasche? Zu Hause hatte er sie im Keller versteckt, in seinem Werkzeugschrank. Ach ja, hinter der Pediatric Cardiac Surgery. Schnell noch ein paar Chlorophylltabletten, und er konnte aufbrechen.

Frau Groonewald hatte eine Termin bei ihrem Anwalt. Es zerriß ihr das Herz, weil sie ihren Mann liebte. Er hatte sich eingebildet, daß sie nicht merken würde, daß er nur noch unter Einfluß von Alkohol stand. Lächerlich, diese Chlorophyll-Tabletten. Spätestens, seit sie im Badezimmerschrank den Flachmann gefunden hatte, war ihr deutlich geworden, daß sie ihrem Mann mit Gesprächen, denen er ohnehin auswich, Bitten, Therapie in Anspruch zu nehmen, Drohungen und Tränen nicht beikommen konnte. Sie hatte viel über Alkoholsucht gelesen und befürchtete, co-abhängig zu werden. Nein. Sie mußte an sich denken. Vielleicht war die Ankündigung der Scheidung der Warnschuß, den er benötigte.

Daß sie geweint hatte, verbarg sie hinter einer großen Sonnenbrille, die sie erst in der Anwaltskanzlei abnahm.

Die Gerichtsverhandlung war für Schwester Lily und ihren Assistenzarzt höchst unangenehm. Der Richter fand scharfe Worte. Die nachträgliche Änderung der Akte geschah hier zum Nachteil Dritter, da sie Ersatzansprüche gegen das Krankenhaus wegen eines Behandlungsfehlers verhinderte. Außerdem stellte die nachträgliche Änderung der Patientenakte eine Straftat dar, die im Zweifelsfall eine fristlose Kündigung hätte nach sich ziehen können.

An diesem Punkt meldete sich der Anwalt von Dr. Maschmann zu Wort. Er erklärte im Namen seines Klienten, daß dieser die Schuld komplett auf sich nehmen würde und darum bäte, Schwester Lily zu entlasten. Er habe die Durchführung der Anordnung nicht überprüft, den Fehler zu spät bemerkt und die nachträgliche Fälschung der Patientenakte begünstigt. Letztlich habe sich der tragische Ausgang durch sein Versagen ereignet.

Der Richter und seine Beisitzer zogen sich zur Beratung zurück.

Schwester Lily saß wie betäubt auf ihrem Stuhl. Sie sah Philipp bestürzt und zutiefst verunsichert an. 

Das Gerichtsurteil erkannte bei Schwester Lily auf Fahrlässigkeit, bei Dr. Maschmann auf grobe Fahrlässigkeit in Tateinheit mit Urkundenfälschung und Falschaussage zur Verdeckung einer Straftat. Dem Ehepaar Maroske wurde eine beträchtliche Geldsumme als Entschädigung zuerkannt. 

Die Klinik kündigte beiden Mitarbeitern nicht. Schwester und Arzt wurden zu Professor Versich zitiert, der beide ins Gebet nahm. Schwester Lily erklärte, daß das "Geständnis" einzig dem Zweck gedient hätte, sie und besonders die Zukunft ihres Sohnes zu schützen. 

Beiden, weder Schwester Lily, noch Dr. Maschmann, ist jemals wieder ein derartiger Fehler unterlaufen. 

Dr. Bögle übrigens blieb nur kurz in Chefarztposition. Es stellte sich heraus, daß er seine Frau mit der ebenfalls verheirateten OP-Schwester Marion betrogen hatte. Zum Beweis hierfür hatte Schwester Marion zwei verräterische Whatsapp-Botschaften an die halbe Klinik und auch die Ehefrau des neuen Chirurgie-Chefs weitergeleitet. Der darauf folgende Skandal führte zu zwei Scheidungen, einer Degradierung und ganz viel Klatsch und Tratsch ... besonders hinsichtlich gewisser körperlicher Nachteile auf Seiten Dr. Bögles. 


Pfleger Chris hatte zwar frei, kam aber trotzdem auf die kardiologische Station, um Philipp abzuholen. 

Es handelte sich für ihn um einen Glücksfall. Es war durchaus nicht so, daß er nicht schon versucht hatte, eine Beziehung zu führen. Aber er hatte immer das Gefühl, daß, wenn sein jeweiliger Partner ihn in den Arm nahm, er suchend über seine Schulter schaute, ob nicht hinter der nächsten Ecke ein geeigneterer Partner, als er es war, auftauchte. 

Mit Philipp hatte er diesen Fehler nicht mehr gemacht. Beide hatten das gleiche Lebensziel: Miteinander alt zu werden. Daran wollten sie arbeiten, das wollten sie leben. Ihre Freunde und Bekannten machten sich lustig und fanden das doch ziemlich spießig, so mit gemeinsamem aussuchen von Porzellan, Besteck und Möbeln ... aber insgeheim beneideten sie die beiden. Nicht nur um das kostbare Meißner Royal Palace Service.

"Einen Moment noch, ich bin gleich fertig. Ich muß nur noch zwei konsiliarische EKGs befunden!"

Sie hatten besprochen, nach Erwerb des Facharztzeugnisses aus der Stadt fortzuziehen, in eine andere Stadt in einem anderen Bundesland. Philipp wünschte sich sowieso eine eigene Praxis, und Chris wollte vorn an der Anmeldung sitzen und bei größeren Untersuchungen assistieren. 

Schwester Lily bog mit einem gefüllten Kaffeebecher um die Ecke. 

" Und? Was habt ihr heute noch vor?"
"Die Frage ist falsch gestellt, Lily, Liebes. Es hätte heißen müssen: Was haben WIR heute noch vor. Und die Antwort ist: WIR gehen Pizza essen, zu Paolo. Du zahlst."
"Warum das denn?"
"Erinnerst du dich noch an unsere Wette? Ist er, oder ist er nicht? Ich hatte recht. Er ist!"
"Verflixt. Daß Du das noch weißt!"
"Na klar. Und bevor Du fragst: Ja, ich bin glücklich. Und das Leben ist schön."

( Sie haben, liebe Leser, liebe Freunde, es wieder geschafft. Die Geschichte ist beendet. 
Ist sie das? 
Natürlich nicht. Diese Geschichte ist nie beendet. Ich habe lange in einer Klinik gearbeitet, und fast alles, was sie hier gelesen haben, ist Realität. Ich kann ihnen aber nochmals versichern: Jeder, der im Krankenhaus arbeitet, gibt jeden Tag alles. Von den Reinigungskräften und dem "grobschlächtigen" Hol- und Bringedienst bis hinauf zu den Chefärzten. Waren sie nicht selbst kürzlich in der Klinik und wurden von Frau Dr Rummert verarztet? Oder ihr Kind von Dr. Hein?
Wer ist eigentlich inzwischen Chef der Chirurgie? Wie geht es Hannes, dem Sohn von Schwester Lily? Und Philipp und Chris? Und Professor Groonewald? 
Fragen über Fragen. Aber die besprechen wir später.