Frau Dr. Rummert schlief schlecht in dieser Nacht. Auch wenn sie es nicht zugeben wollte, aber ... die Patientin aus der Notaufnahme begleitete sie durch einen Alptraum, an dessen Ende sie
schweißnaß, voller Panik aufschreckte und kerzengerade in ihrem Bett saß. Sie wußte nur allzu gut, was es bedeutete, einen prügelnden Mann und Vater zu Hause zu haben.
Es gab da durchaus Unterschiede. Sie stammte aus gutem Haus, ihre Eltern gaben fröhliche Parties und rauschende Feste, aber wehe, wenn ihr Vater etwas getrunken hatte.
Sie merkte es sofort. Seine Aussprache wurde so seltsam nuschelig, seine Stimme mit jedem Satz lauter, bis hin zum Schreien. Er machte seiner Frau, ihrer schönen Mutter, eifersüchtige,
haltlose Vorwürfe und unterstellte ihr Verhältnisse mit allen Herren ihres Bekanntenkreises. Daß diese die Unterstellungen bestritt, beantwortete er mit Schlägen.
Irgendwie war es für sie dann auch keine Überraschung, daß ihr erster Freund sie nach dem Abtanzball ihrer Tanzschule, die sie gemeinsam besucht hatten, vergewaltigte. Sie hatte ihm vertraut.
Sie war noch nicht so weit, und sie hatte ihn gebeten, angefleht, von seinem Ansinnen Abstand zu nehmen. Als er zudringlich wurde, hatte sie sich zunächst gewehrt, aber er war ihr körperlich
überlegen und hatte sich mit Gewalt genommen, was sie zu geben nicht bereit war.
Wenn sie in sich hineinhorchte, spürte sie ihn noch, den Schmerz ... er hatte ihr wehgetan, über die Grenze des Erträglichen hinaus. Und ihr hatte, nachdem sie sich endlich ihrer Mutter
anvertraut hatte, man nicht geglaubt. Der Junge ging straffrei aus und, wann immer sie sich begegneten, grinste er sie frech und triumphierend an.
Es hatte Jahre gedauert, bis sie in der Lage war, sich einem Mann hinzugeben, ohne Angst und Widerwillen. Und eine dauerhafte Bindung, eine Beziehung, kam für sie nicht infrage. Eine
Bekannte, der sie sich anvertraut hatte, empfahl ihr eine Psychotherapie. Aber wozu? Um Lust zu empfinden, brauchte man nicht zwangsläufig einen Mann. Und sie war drüber hinweg. Glaubte sie.
Immerhin wurden die Abstände zwischen den Alpträumen länger ...
"Darf ich sie kurz unterbrechen, Herr Kollege? Lassen sie uns eben zu Familie Almansour gehen. Morgen beginnen wir mit der Chemotherapie. Nazems Blutwerte haben sich nicht
verschlechtert?"
Professor Groonewald hatte Dr. Hein im Dienstzimmer aufgesucht.
"Verschlechtert? Das ist kaum noch möglich", seufzte Uwe Hein sorgenvoll.
Was war denn mit seinem Chef los? Er hatte glasige Augen und schien mit dem Halten des Gleichgewichts Probleme zu haben.
"Geht es ihnen nicht gut, Herr Professor?"
"Ach, irgendwie habe ich was Unrechtes gegessen ... das wird schon wieder!"
Die Herren gingen nebeneinander über den Flur, wobei der Chefarzt sich gelegentlich durch Abstützen an der Wand stabilisierte, einen Pfefferminzbonbon lutschend.
"So, morgen geht es los! Da zeigen wir den Stammzellen, was 'ne Harke ist! Und wenn die fort sind, nehmen wir welche von Papa, und die machen dich wieder gesund. Einverstanden?"
Rashid Almansour übersetzte für seine Frau, die danach, genau wie ihr Mann, nickte und tapfer lächelte. Der Junge saß auf seinem Bett und sah den Ärzten sehr ernsthaft in die Augen.
"Sterben tut nicht weh, oder?"
Dr. Hein ging auf ihn zu und ergriff, sich auf die Bettkante setzend, die kleine, magere, wachsgelbe Hand.
"Wieso fragst du das?"
"Die anderen Kinder haben gesagt, vielleicht sterbe ich."
"Die anderen Kinder haben keine Ahnung. Du stirbst natürlich nicht."
"Aber wenn doch? Tut das dann weh?"
"Tut dir Einschlafen weh?"
"Nein."
"Siehst du? Sterben ist ein wenig wie Einschlafen, nur, daß man viel länger schläft."
Er nahm das Kind in den Arm.
"Hab keine Angst, Nazem. Ich bin da. Ich passe gut auf dich auf."
Wie kannst du ein Versprechen geben, von dem du nicht weißt, ob du es halten kannst, du verdammter Idiot, sagte er auf dem Weg zurück ins Dienstzimmer zu sich selbst. Er hatte, während der
Umarmung, das Herz des Kleinen gespürt. Es hatte heftig geklopft, als versuchte es, mit aller Macht das Leben zu erhalten.
Du gottverdammter, blöder Idiot. Du lernst es nicht mehr, oder?
Es dauerte eine ganze Weile, bevor Dr. Hein das Diktat der Entlassungsberichte fortsetzen konnte.
Kinder, Kinder. Ihm war schwindelig und schlecht, und jetzt spürte er, wie ein neuer Migräneanfall vom Nacken langsam zum Hinterkopf hochzog. Er würde sich dann von dort auf das linke Auge
zubewegen, pochend, brennend, unerträglich. Und vor den Augen würde es flimmern, wie auf den Bildern, auf denen eine Oase in der Wüste, oder deren Luftspiegelung, zu sehen waren.
Diese Übelkeit ...
Wie hatte er bloß die Visite überstanden? Gut, daß Hein so kompetent war. Auch wenn er sich immer etwas zu weit aus dem Fenster lehnte. Darüber würde noch zu reden sein.
Ob ein kleiner Schluck ... man könnte es zumindest versuchen. Ibuprofen hatte er in der Schublade! Warum war die Flasche nur noch halbvoll? War da noch eine? Wenn nicht, mußte er bald eine
kaufen. Immer gut, wenn man was zum Anbieten da hat.
"Guten Tag. Ist es möglich, den Stationsarzt zu sprechen?"
"Guten Tag. Hatten sie einen Termin?"
"Nein, leider."
"Geht es um einen Patienten?"
"Um eine ehemalige Patientin, ja. Maroske ist mein Name, das ist meine Frau."
Schwester Lily erbleichte, behielt aber die Fassung.
"Bitte, nehmen sie doch einen Moment Platz. Ich schau mal, ob ich ihn finde!"
Dr. Maschmann saß im Arztdienstzimmer an seinem Schreibtisch und sprach mit einem Pharmareferenten, der ihm ein neues Mittel zur Behandlung des erhöhten Blutdrucks vorstellte.
"Entschuldigung, darf ich kurz stören? Herr Dr. Maschmann, da sind Angehörige einer Patientin ... Maroske!"
Sie sah in mit aufgerissenen Augen an. Er ließ sich nichts anmerken.
"Einen Moment, bitte, Schwester Lily. Ich habe gleich Zeit. Bieten sie den Leuten doch einen Kaffee an!"
Herr Maroske war ein gut aussehender Mann, der zu einem schwarzen Anzug ein weißes Hemd und eine gedeckte, grünliche Krawatte trug. Seine Gattin war in ein schickes, etwas lautes,
schwarz-gelbes Kostüm gehüllt und führte eine schwarzlederne Chanel-Tasche spazieren.
"Danke, daß sie Zeit für uns haben, Herr Doktor. Wir wollten noch einmal wegen meiner Mutter mit ihnen sprechen."
"Ja, natürlich. Darf ich ihnen zunächst einmal mein Beileid aussprechen ..."
Sie reichten sich die Hände.
"Ja, wir waren alle sehr erschrocken und bestürzt über den Tod Ihrer Frau Mutter. Aber es mag ihnen ein Trost sein, daß sie nicht lange gelitten hat. Die Obduktion hat eine Embolie ergeben,
das ist ein schneller, gnädige Tod."
"Wie konnte es zu dieser Embolie kommen", fragte die schwarzgelbe Schwiegertochter.
"Ist denn eine Blutverdünnung nicht Standard?"
"Die hat sie gehabt, Frau Maroske. Aber sehen sie, manchmal wirken die Medikamente unterschiedlich bei unterschiedlichen Menschen, da steckt man nicht drin!"
"Verzeihen sie, Herr Dr. Maschmann, aber das überzeugt mich nicht wirklich. Ich möchte sie bitten, mir das Obduktionprotokoll und die vollständige Patientenakte auszuhändigen."
"Liebe Frau Maroske, das ist nicht so ohne weiteren möglich!"
"Nein? Lieber Herr Dr. Maschmann, ich bin Anwältin in der Kanzlei Dr. Stüven, Karanlik, Maroske und Partner, hier ist meine Karte. Wenn Sie darauf bestehen, gebe ich mich auch mit einer
Fotokopie der kompletten Akte zufrieden, ich bestehe allerdings darauf, das diese jetzt und in meiner Gegenwart angefertigt wird. Ich möchte sie von einem unabhängigen Gutachter prüfen
lassen."
Der Stationsarzt gab auf. Er zog die Akte aus dem vor ihm liegenden Stapel und sah sie in der schwarzen Chaneltasche versinken.
"Hier, bitte. Der Abschlußbericht ist noch nicht fertig."
"Das macht nichts. Der eilt ja nun nicht mehr, nicht wahr."
Die schwarzgelbe Anwältin und ihr grünlicher Gatte erhoben sich, wünschten noch einen schönen Tag, und waren verschwunden.
Schwester Lily bog um die Ecke.
"Was war denn?"
"Frau Maroskes Schwiegertochter ist Rechtsanwältin. Sie will die Akte überprüfen lassen."
Schwester Lily lies sich resigniert auf einen Stuhl fallen.
"Großer Gott. Das hat mir gerade noch gefehlt."
"Ich halte diese Heimlichtuerei nicht mehr aus!"
"Na gut, dann machen wir eben Schluß. Ist es das, was du willst?"
"Das fällt dir ja leicht! Hast wohl schon 'ne Neue am Start, was?"
"Vielleicht?!"
"Grins nicht so überheblich, du Arschloch!"
"Was verlangst Du eigentlich von mir? Du spielst die Hauptrolle in meinem Leben, und das reicht immer noch nicht?"
"Laß dich scheiden."
"Bist du wahnsinnig? Ich zahle dann Unterhalt ohne Ende. Und bei deinen Ansprüchen ... wir werden kaum von deinem Gehalt allein leben können."
"Egal. Laß dich scheiden."
"Und was ist mit dir?"
"Ich laß mich auch scheiden."
"Komm, laß uns jetzt nicht darüber reden. Geil siehst Du aus in deinem Kittel ... sag mal, trägst du kein ...."
"Daß sie sogar an ihrem Geburtstag arbeiten, Herr Professor! Was sagt denn ihre Frau dazu?"
"Es ist ja erst der 49., Frau Hohengarten. Nächstes Jahr mache ich blau, versprochen. Meiner Frau ist das vermutlich egal. Wir leben getrennt, seit fünf Jahren schon."
"Ach, das tut mir leid ... ich rede mal wieder zu viel! Bitte verzeihen sie mir!"
"Das geht schon in Ordnung! Na, wie schaut's aus? Sollen wir dem bösen Blinddarm zu Leibe rücken?"
"Wenn sie so gut sein möchten? Können Sie mir nicht auch gleich noch eine Schönheitsoperation verpassen?"
"Aber, gnädige Frau! Das habe sie doch gar nicht nötig!"
Sie kicherte.
"Sie Charmeur!"
"Nein, das wahr ganz ehrlich! So früh am Morgen mache ich noch keine Komplimente!"
"Skalpell, bitte, Schwester Marion!"
Diese reichte ihm das Instrument. Er straffte die Haut der Patientin und versuchte, das Operationsmesser anzusetzen. Seine rechte Hand wollte ihm nicht gehorchen. Sie zitterte, als er sich
der Körperoberfläche näherte. Um so mehr, je dichter er kam. Er warf das Messer auf den Tisch der Schwester und hielt die Hand mit seiner linken Hand fest.
"Bögle, übernehmen sie, bitte. Ich bin gestern gestürzt ... ich dachte ... aber irgendwie ..."
"Schon recht, Herr Degener, kein Problem."
( Was ist denn jetzt schon wieder los, lieber Leser, liebe Freunde? Das ist Professor Degener ja noch nie passiert! Naja, so ein Sturz ... Allerdings: Mir ist nicht aufgefallen, daß das
Handgelenk blau oder geschwollen oder verletzt gewesen wäre.
Ach, Nazem! Kind, wenn du wüßtest, wie sehr dir alle die Daumen halten! Du hast mit dem Leben ja kaum angefangen! Und aus deinem Mund ein Wort wie 'Sterben' zu hören, ist unerträglich
...
Da wäre ich doch fast auf die Schnoddrigkeit von Frau Dr. Rummert reingefallen! Sie verbirgt ihre Blessuren ja wirklich gut, oder? Doch, sie sollte eine Therapie machen.
Oder?
Und für das Kapitel 'Maroske' ist offenbar eine Fortsetzung vorgesehen. Aber das besprechen wir später. )